La città eterna dell’amore
von Clara Cornelsen
Ich ging wie immer mit recht schnellen Schritten über das Meer. So hat es Felice zumindest genannt: „Es ist ja so, als würde man über das Meer gehen. Hast du nie Sorge, dass du irgendwann untergehst?“, fragte sie und lachte mich an.
Ich wusste nicht so recht, wie ernst sie diese Frage meinte. Doch jetzt, da einige Zeit vergangen war, schien ich sie zu verstehen. Ich schien alles etwas verändert wahrzunehmen. Sei es nur der Geruch. Vorher ist er mir nie aufgefallen. Er war so normal wie alles andere. „Es riecht aber ganz schön nach Fisch“, sagte sie und verzog ihr Gesicht. Doch es riecht nicht nur nach Fisch, dachte ich, aber sagte nichts. Felice fand alles so aufregend hier. „Es ist wie in einer anderen Welt, wie in einem Fantasieland.“ So sehen es alle Leute, die hierherkommen. Alle empfinden es als ein Vergessen des Alltages und ein Erleben von so viel Fremden und Neuem. Doch ich, ich empfinde es mittlerweile wie ein Gefängnis. Es ist wie eine Insel, von der ich nie herunterkomme. Es ist wie ein Fluch. Als würde mich das Wasser gefangen halten. Ich habe das Gefühl es wird immer schmutziger und stärker. So als würde es beim nächsten Regen gleich unser ganzes Haus abreißen. Nein, das Wasser würde es verschlingen, so wie es eins den ganzen Vorplatz verschlungen hat.
Was sehen die Menschen in dieser Stadt, was ich schon länger nicht mehr sehen kann? Was empfinden die Menschen in dieser Stadt, was ich wahrscheinlich noch nie empfinden konnte?
Liebe? Die ewige Stadt der Liebe heißt es nicht so? Ewig, sehr ironisch. Naja, wer dachte schon, dass die Stadt so lange halten würde? Ob die Menschen der anderen Welt wissen, dass sie bald untergeht? Das sie einfach so im Meer versinkt? Die ganzen Häuser, die ganzen Geschäfte und die ganzen Gassen. Die ganzen Menschen. Die ganze Stadt. Es ist ein Warten auf den Untergang. Es ist ein Fragen nach dem Warum.
Wenn Felice wüsste, wie oft ich schon eimerweise Wasser aus unserem Hausflur geschüttet habe. Wenn sie wüsste, wie oft wir unser Haus reparieren mussten. Wie viel Geld wir ausgeben mussten. Wenn sie auch nur einmal dabei gewesen wäre, wenn diese ganzen Leute, nur einmal dabei gewesen wären, vielleicht wüssten sie dann wieso. Vielleicht wüssten sie dann wieso, dass hier nichts als sinkende Inseln sind.
Ich habe es mir schon oft vorgestellt. Ich habe mir vorgestellt, wie ich aufwache und aus dem Fenster schaue und anstelle des französischen Balkons, anstelle der Piano nobile sehe ich nur Wasser. Die Basilica di San Markus voller Wasser. Der Markusplatz nicht mehr existent. Die Ponte dei Sospiri, könnte sie dem Wasser standhalten? Oder die Rialtobrücke, würde sie es schaffen?
Wohin gehen dann die ganzen Leute, die nur einmal kurz in eine andere Welt eintauchen wollen? Wohin würde Felice gehen? Würde sie eine andere Welt finden? Es wäre schade. Schade, um die Magie der Stadt, würde Felice wahrscheinlich sagen. Schade, um die Brücken. Schade, um die Calli. Schade, um die Gebäude. Schade, um die Kunst. Würde Felice auch an mich denken? Würden die anderen Leute auch an uns denken? Haben sie jemals unsere Muttersprache gehört? Haben sie jemals unsere Wohnhäuser gesehen? Haben sie jemals unsere Rechnungen gesehen? Haben sie jemals gesehen, wie unsere Nachbarschaft ausstirbt. Haben sie uns jemals gesehen?
„Und du warst wirklich noch nie woanders?“ „Nein“, antworte ich ganz trocken. „Dann muss es dir hier ja wirklich gut gefallen.“ Ich blieb wieder ruhig. „Aber nein, ich kann das verstehen, wenn ich hier wohnen würde, würde ich wahrscheinlich auch nie weggehen. Warum sollte ich auch? Ich meine an den Fischgeruch würde ich mich wahrscheinlich noch gewöhnen…“ „Nein, es ist kein Fischgeruch“, unterbrach ich Felice. Sie schaute mich überrascht an: „Nein?“ „Nein. Es ist der Geruch des ewig treibenden Wassers. Der Geruch der aneinander gereihten Häuser. Der Duft von den am Fenster hängenden Blumen, der alten Türen und Fenster, der abbröckelten Fassaden. Man kann den Verschleiß von dem Holz der Boote riechen, von den Steinen und Brücken. Ja, es ist sogar als hätte die Sonne ihren Geruch auf dem Fundament hinterlassen. Als hätte jeder Mensch, jedes Paar Füße, welche je den Boden betraten, hier ihren Geruch hinterlassen. Manchmal, zur kälteren Jahreszeit, wenn die vielen Besucher verschwinden, kann ich sogar das Blei der Bleikammern riechen oder das Gold der Basilika. Es ist, als würde jede Ecke der Stadt zu mir sprechen und ihre Geschichte erzählen und mich fragen, warum ich mir so wenig Zeit nehme.“. Felice sagte nichts. „Wofür? Wofür sollst du dir Zeit nehmen?“, fragte sie dann. „Um die Stadt zu sehen. Um die wirkliche Stadt zu sehen und nicht nur ihren Untergang. So wie du und all die anderen Leute. All die Leute, die hierherkommen, nur um diese Stadt zu sehen. Nur um die kaputten Häuser in der unendlichen Hitze gepaart mit dem Geruch von Fisch zu sehen.“
Felice sagte wieder nichts, sondern schaute mich nur an. „Warum sagst du nichts?“ Felice stand von der Treppenstufe auf und ging den kleinen Kanal entgegen. „Wo willst du hin?“, rief ich ihr hinterher. Doch sie antwortete nicht, sondern setzte sich einfach nur ans Wasser und verweilte dort. Sie schaute sich um und es sah so aus, als wäre sie zum ersten Mal hier. Mit langsamen Schritten ging ich zu ihr. Ich setzte mich neben sie. Im Wasser spiegelten sich die Fassaden der Häuser. „Wenn du wieder fährst, würdest du mich mitnehmen?“, fragte ich. Felice nickte mir zu und lächelte vorsichtig. Auch wenn dieses Lächeln nicht so eindringlich wie sonst war, verspürte ich in mir so ein seltsames Gefühl. War es Freiheit? War es Bangnis? Vielleicht war dieses Gefühl auch nur da, weil ich meine Gedanken zum ersten Mal laut aussprach: „Ich dachte immer, ich hätte Angst vor dem Fremden, doch das war, bevor ich gemerkt habe, dass ich hier selbst der Fremde bin.“
Beitragsbild: Venedig copyright by Clara Cornelsen

