RV08
November 14, 2025 in allgemein by Chiara
Leistungsheterogenität verstehen – und warum Lehrkräfte dabei eine Schlüsselrolle spielen
Die heutige Sitzung hat mir noch einmal deutlich gezeigt, wie komplex Leistungsheterogenität tatsächlich ist. Die Folien definierten sie – nach Scharenberg – als Unterschiede in Lernvoraussetzungen, Lerngeschwindigkeiten und Lernergebnissen . Diese Unterschiede entstehen jedoch nicht allein im Kind, sondern sind eng mit sozialen, kulturellen und familiären Bedingungen verknüpft. Besonders eindrücklich fand ich die Darstellung der sozialen Herkunftseffekte: Die Folien zeigten, dass kulturelles Kapital der Familie maßgeblich beeinflusst, wie Kinder ihre Leistungsfähigkeit entwickeln bzw. entfalten können . Leistungsheterogenität ist deshalb weniger ein pädagogisches Problem, sondern vielmehr ein Abbild gesellschaftlicher Ungleichheit.
1. Der Einfluss der Lehrkraft – mehr als nur „Unterricht geben“
Wie stark Lehrkräfte auf Lernleistungen wirken, wurde in der Sitzung über aktuelle empirische Befunde deutlich. Lotz & Lipowsky (2015) betonen, dass etwa 30 % der Leistungsvarianz auf die Lehrperson zurückgehen – ein Ergebnis, das auch die Folien herausstellten. Das ist für mich ein entscheidender Punkt:
Lehrkräfte haben die Chance, soziale Ungleichheiten abzumildern – oder sie unbewusst zu verstärken.
Die Folien wiesen darauf hin, dass Zuschreibungen wie „leistungsstark“ oder „leistungsschwach“ häufig sozial konstruiert sind und von Erwartungen der Lehrkraft abhängen (vgl. Bräu 2022) . Leistungsheterogenität wird somit nicht nur vorgefunden, sondern auch pädagogisch hergestellt.
2. Leistungsbeurteilung – ein Blick auf meine Erfahrungen
In meiner eigenen Schulzeit dominierte eine summative Leistungsbeurteilung, die primär über Noten, Tests und Vergleichsnormen funktionierte. Die Folien zeigten aber, dass diese Praxis stark sach- und sozialnormorientiert ist (vgl. Heinzel 2009) und Entwicklungsperspektiven nur begrenzt abbildet. Erst in späteren Praxisphasen lernte ich alternative Formate wie Lernentwicklungsgespräche oder Portfolios kennen. Diese setzen eher auf formative Diagnostik und fördern eine individuelle Sicht auf Lernprozesse – etwas, das laut Bohl (2022) entscheidend ist, um Leistungsheterogenität anerkennend zu berücksichtigen. Rückblickend nehme ich wahr, dass die Schule selten systematisch berücksichtigt hat, woher Kinder kommen, sondern meist nur bewertet hat, was sie am Ende leisten. Anerkennende Leistungsbeurteilung erfordert jedoch beides.
3. Fends These heute: Leistungsbeurteilung als Werkzeug der Ungleichheit?
In den Folien heißt es zugespitzt nach Fend (1980):
„Leistungsbeurteilung fungiert als Werkzeug zur Aufrechterhaltung von Ungleichheiten.“
Aktuelle Forschung bestätigt, dass diese Aussage weiterhin brisant ist:
- Soziale Herkunft bleibt einer der stärksten Prädiktoren für Schulerfolg.
TIMSS 2019 zeigt deutliche Kompetenzunterschiede zwischen Kindern mit und ohne sozial benachteiligten Hintergrund (Schwippert et al., 2019). - Diagnostische Verzerrungen verstärken Ungleichheiten, besonders wenn Lehrkräfte unbewusst stereotype Erwartungen in die Beurteilung einfließen lassen (Miceli, 2020).
- Strukturelle Selektionsmechanismen, etwa Empfehlungspraxis oder vorschulspezifische Erwartungen, begünstigen privilegierte Gruppen.
Vor diesem Hintergrund wirkt Fends Aussage heute aktueller denn je: Leistungsbeurteilung kann Ungleichheiten reproduzieren – wenn sie nicht bewusst anders gestaltet wird.
4. Mögliche Forschungsfrage
Aus der heutigen Sitzung ergibt sich für mich folgende forschungsleitende Frage:
„Wie beeinflussen die diagnostischen Erwartungen von Grundschullehrkräften die Leistungsbeurteilung von Kindern unterschiedlicher sozialer Hintergründe?“
Damit ließe sich empirisch untersuchen, wie professionelle Wahrnehmung mit Ungleichheitsprozessen verwoben ist.
Literaturverzeichnis
Lipowsky, F., & Lotz, M. (2015). Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. In G. Mehlhorn et al. (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 97–136). München: Kopaed.
Miceli, N. (2020). Beobachtungs- und Beurteilungsfehler im Unterrichtsalltag. Karg-Stiftung.
Schwippert, K., Kasper, D., Köller, O., McElvany, N., Selter, C., Steffensky, M., & Wendt, H. (2019). TIMSS 2019: Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland. Münster: Waxmann.

