Gesellschaftliche Veränderungen und die Reaktion von Schule

  1. Was ist gemeint mit einer ´nationalen Orientierung des Bildungssystems´? Woran kann das festgemacht werden im Hinblick auf seine Zielgruppen, Inhalte/Fächer, Strukturen?

Die Begrifflichkeit ´nationale Orientierung des Bildungssystems´ ist ein Ausdruck dafür, dass deutsche Schulen meist nur auf das Unterrichten deutscher Schüler, deutscher Geschichte und anderer deutscher oder europäischer Inhalte ausgerichtet sind. Wenn es um die in dieser Beziehung so homogen betrachtete Zielgruppe der „deutschen“ Schüler geht, dann wird davon ausgegangen, dass sie alle ein ähnliches Kulturverständnis haben. Die meisten Schulen berücksichtigen nur nationale oder christliche Feiertage. Die anderer Kulturen werden in den seltensten Fällen angesprochen oder erklärt. Ich selbst habe das in meiner gesamten Schulzeit nur ein- bis zweimal erlebt. Es war dann die Aufgabe eines Schülers, der Klasse in Form eines Referats Hanukkah oder Ramadan näher zu bringen. Die Schule selbst, oder die Lehrer trugen wenig dazu bei. Wenn man die regulären Lerninhalte und Lehrpläne betrachtet, so ist deutlich zu sehen, dass sich diese fast ausschließlich mit Themen auseinandersetzen, die in der deutschen Geschichte oder Literatur eine Rolle spielen (oder die auf die deutsche Kultur übertragen werden können). Gerade was den Geschichtsunterricht betrifft erkennt man, dass (von kurzen Einblicken in die Antike oder das Alte Ägypten abgesehen) fast ausschließlich die deutsche Geschichte behandelt wird. Einige Themen oder Epochen werden über die Jahre hinweg immer wieder besprochen. Ich will damit nicht behaupten, dass es nicht wichtig wäre beispielsweise das Dritte Reich ausführlich zu besprechen, aber ich persönlich habe dies in meiner Schulzeit mehrfach getan und stelle immer wieder fest, dass ich woanders Wissenslücken habe. Ich weiß nichts über die Geschichte Asiens, habe erst nach meiner Schulzeit von anderen europäischen Diktaturen (z.B. Italiens oder Portugals) erfahren und bin mir sicher, dass es viele weitere interessante geschichtliche/politische Aspekte gibt, aus denen wir lernen können und die man auf das hier und jetzt anwenden kann, die jedoch nicht in der Schule angesprochen wurden, da sie angeblich keinen Einfluss auf den Verlauf der deutschen Geschichte hatte. Betrachtet man allgemein die Literatur, die in allen Fächern auf die ein oder andere Weise verwendet wird (sei es in Form von Lehrbüchern), so sieht man auch hier eine starke Fokussierung auf deutsche Kultur (oder wenn es denn dazu kommt, die Kultur anderer mitteleuropäischer Länder). Abgesehen vom Fremdsprachenunterricht wurden in meiner Schulzeit auch nur deutschsprachige Dramen, Romane oder Gedichte gelesen und diskutiert.

Stelle man sich allerdings das Gegenteil vor: Die Geschichte und Kultur aller möglichen Länder würde in der Schule angesprochen und diskutiert werden. Das würde schlichtweg alle Rahmen sprengen. Wo würde man die Grenze ziehen zwischen „wichtigen“ und „unwichtigen“ Inhalten? Wenn man internationale Inhalte in den Vordergrund setzt: Wie sehr kann man in die Tiefe gehen? Würde das die den Schülern nicht nur ein sehr weit gefächertes, aber nur sehr allgemeines Wissen bewirken? So gesehen finde ich es besser mit einem national orientierten Bildungssystem aufgewachsen zu sein, als mit einem orientierungslosen und oberflächlichen, auch wenn beides nicht ideal ist.

 

  1. Was nehmen Sie aus dem öffentlichen Diskurs über ´Migration als Herausforderung für die Schule´ und über sog. ´Schüler mit Migrationshintergrund´ als Informationen wahr und inwiefern hat die Vorlesung für sie andere/neue Perspektiven dazu eröffnet?

Zuerst möchte ich bemerken, dass das Wort Herausforderung meiner Meinung nach recht negativ ist und ich mich auch im Laufe der Vorlesung immer wieder an dieser Formulierung gestoßen habe, vor allem da verdeutlicht wurde wie allgegenwärtig und teilweise unbeobachtet Migration in den verschiedensten Bereichen ist. Dabei oft so selbstverständlich, dass sie ein Teil unserer Kultur und unseres Alltags geworden ist. Wenn Migration als Oberbegriff nun verallgemeinert im Kontext der Schule als Herausforderung bezeichnet und als Hürde oder Problem im Bildungssystem dargestellt wird, möchte ich dem nicht zustimmen. Gerade da mir auch während der Vorlesung noch einmal die Augen geöffnet wurden, dass Migration nicht nur vor Problemhintergründen geschieht, sondern dass sie auch zwischen wohlhabenden Ländern ohne Krieg oder andere schwerwiegende Gründe aus verschiedensten Motiven stattfindet. Auch dass tatsächlich die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat war mir neu. Dass trotzdem das deutsche Kulturgut so streng als Norm gehandhabt wird ist in diesem Kontext schockierend. Ansonsten habe ich aus der Vorlesung einige überraschende Zahlen im Kopf behalten. Beispielsweise, dass es erst seit 2016 offiziell das Recht geflüchteter Kinder und Jugendlicher auf schulische Bildung unabhängig von Aufenthaltsstatus und Bleibeperspektive gibt, was entgegen meiner Erwartung erschreckend spät geschehen ist.

 

  1. Inwiefern kann das Beispiel von Betül (Interviewausschnitt aus einer qualitativen Studie) als Ausdruck von ´DoingCulture´ durch Lehrer*innenhandeln im Unterricht herangezogen werden? Schülerin Birgül über die Reaktion ihrer Deutschlehrerin bei der Rückgabe einer Klausur zu Shakespeares „Romeo und Julia“:

Ich möchte mich hier auf „DoingCulture“ im Sinne der Betonung des Konstruktionscharakters von Kultur beziehen. Die Lehrerin in dem Beispiel nimmt verallgemeinernd an, dass etwas – wovon sie möglicherweise nur flüchtig gehört hat und was gut ein unfreundliches Klischee sein kann – generell auf die Türkei als Land mitsamt der Gesamtheit seiner Anwohner bezogen werden kann. Damit schafft sie ein Schubladendenken oder schließt sich diesem zumindest an. Sie sieht ihre Schülerin als Türkin, obwohl diese eventuell nur äußerlich „türkische Züge“ hat und geht automatisch davon aus, dass die Schülerin mit der türkischen Kultur aufgewachsen ist und sie gelebt hat. Die Schülerin selbst sieht sich als Deutsche, da sie als solche erzogen wurde und aufgewachsen ist. Die Lehrerin mit Ihrem Schubladendenken folgt wahrscheinlich auch nur einem Bild, das sie sich entweder ohne hinreichende Grundlage selbst geschaffen hat oder welches ihr (noch schlimmer) präsentiert wurde, woraufhin sie es einfach hinnahm. Die Betonung liegt hierbei auf dem Wort Bild. Einem Bild als Konstrukt – als Idee oder Darstellung von etwas, was nicht im Entferntesten der Realität entsprechen muss und es in diesem Beispiel auch nicht tut.

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