Bahnhofsbeobachtung

*Prüfungsleistung*

Es ist Samstag der 9. Januar 2021, 15:52 Uhr am Hauptbahnhof Bremerhaven. Laut der Wetter-App auf meinem Handy sind es 2°C und meist bewölkt. Kalt und grau ist es tatsächlich, dafür ist der Wind nicht so stark wie sonst. Ich sitze auf einer metallischen, langen Bank, die mit einer weiteren Bank ein großes „L“ bildet. Innerhalb dieser Bänke wachsen zwei kahle Bäume. Ich sitze etwas schräg, damit ich den Eingang des Bahnhofsgebäudes im Blick habe. Es ist einiges los. Ich kann Stimmen, verschiedene Fahrzeuge und Möwen hören. Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich den Imbiss „Wurstpavillon“, jedenfalls eine Seite davon. Innen brennt Licht, doch viel passiert nicht. Rechts von mir befinden sich der Eingang zum Bahnhof, die Taxen und einige Menschen, die an der Sonderhaltstelle stehen. Genau in diesem Moment kommt ein Reisebus und hält an dieser Haltstelle. Einige Menschen steigen aus. Die Menschen tragen Rucksäcke oder Handtaschen, einer schiebt einen kleinen Koffer neben sich her. Alle tragen eine Maske. Einige von den Ankömmlingen überqueren den Zebrastreifen und verlassen somit mein Sichtfeld. Der nächste Bus kommt, es ist der Schienenersatzverkehr, wie ich an der Leuchtschrift des Busses erkenne. Der Bus ist leer. Ein Mann, der bereits einige Minuten an der Haltstelle stand, steigt als einziger ein. Auf der zugehörigen Bank, die mit meiner verbunden ist, hat eine Frau mit drei befüllten Plastiktüten Platz genommen. Zwischen ihren Beinen steht ein pinker Einkaufs-Trolley. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. Es riecht hier stark nach Zigaretten, selbst durch die Maske die ich trage. Der Zigarettengeruch mischt sich mit den Abgasen der vielen Fahrzeuge und ergibt so den bekannten Bahnhofsgeruch. Die automatisch öffnenden Schiebetüren des Bahnhofsgebäudes öffnen und schließen sich im Minutentakt; viel Bewegung findet statt. Ich bemerke einen älteren Mann mit schnabelförmiger Maske. Er steht direkt neben der Tür und blickt auf sein Telefon in der Hand, hebt dann seinen Blick wieder und schaut um sich. Ein Taxi fährt einige Meter vor und versperrt mir somit die Sicht auf ihn. Gerade ist es ruhig, ich höre zwar einige Menschen, sehen kann ich nur eine Frau, die vom überdachten Bahnhofsvorplatz auf mich zukommt und ihre Tasche hinter mich auf die L-Bank legt, um im Stehen zu rauchen. Wenn ich Menschenstimmen höre, kann ich neben deutschen Gesprächen auch fremde Sprachen vernehmen. Die rauchende Frau hinter mir geht den Weg, den sie gekommen ist, wieder zurück. Ich drehe mich auf meinem Platz, meine Beine schlafen ein. Ich sitze nun mit dem Rücken zum Eingang vom Bahnhof und vor mir steht ein großer, blauer Container, den man mieten kann, was mir das Schild auf dem Container verrät. Weiter links befindet sich der Parkplatz der Post, auf welchem auch mein Auto steht. Eine schwarz gekleidete Frau mit einer Tragetasche in der Hand steht am Rande des Parkplatzes, nur einige Meter entfernt von mir. Ein rotes Auto auf dem Parkplatz erlangt meine Aufmerksamkeit, es hält vor der Frau an und sie steigt ein. Im nächsten Augenblick ist sie auch schon weg. Ein Mann und zwei Kindern steuern die Bank an, die mit meiner das L bildet und setzen sich. Die Frau mit dem Trolley ist weg. Wenn ich weiter über den Parkplatz schaue, sehe ich die Sparkasse und einen Kirchturm, sowie die Bushaltstellen, die zum Hauptbahnhof gehören. Es fahren regelmäßig Busse an die Haltstellen und wieder davon, es ist ständig was los. Der Himmel ist grau. Praktisch neben mir, in der Ecke der L-Bank befindet sich ein Mülleimer, dieser bzw. der Inhalt wird gerade von einer Frau mit krummen Rücken und jeweils einer Tragetasche in der Hand gemustert. Sie läuft weiter und verlässt mein Sichtfeld wieder. Nun steht auch der Mann mit den zwei Kindern auf und sie gehen den Weg zurück, den sie gekommen sind. Ich kann zwar gerade keine Menschen in meiner unmittelbaren Nähe sehen, aber ich höre Stimmen, Gespräche und menschliche Geräusche. Ursprung ist der Bahnhofsvorplatz. Dieser ist überdacht und bietet so ein wenig Schutz vor Wind und Wetter. Die Überdachung ist Passage-artig gebaut. Ich sehe auch aus meiner Position ein Teil des Daches. Es besteht aus blauem Metall und Glasplatten. Ich drehe mich wieder in Richtung Bahnhofsgebäude und entdecke den Mann mit schnabelförmiger Maske. Er steht an derselben Stelle wie vorher und unterhält sich nun mit einer Frau mit rotem Hut. Gemeinsam verlassen sie ihre Position und gehen davon. Ein Mann läuft zügig an mir vorbei und dreht sich nochmal um, sodass wir uns kurz anblicken. Ich beschließe nun ins Auto zu gehen und von dort noch einige Minuten zu beobachten, meine Hände schmerzen vor Kälte und meine Beine kann ich kaum spüren. Im Auto blicke ich auf die zugehörigen Bushaltestellen des Bahnhofes und ich sehe den Kirchturm. Ein Bus fährt an die Haltestelle, Menschen steigen aus und ein und er fährt weiter. Der nächste Bus ist schon da. Im Sekundentakt fahren auch private Autos auf der Straße in die eine und die andere Richtung. Die Straßenlaternen sind hell erleuchtet und der Himmel ist mittlerweile dämmrig. Ich kann an den Haltstellen viele Menschen mit Maske sehen, einige aber auch ohne. Ich schaue kurz in den Rückspiegel und kann beobachten wie sich eine Frau und ein Mann umarmen. Nach dem Lösen der Umarmung bewegt sich der Mann zum Bahnhofseingang und die Frau zum Parkplatz. 16:53 Uhr, ich beende meine Beobachtung am Hauptbahnhof Bremerhaven, starte den Motor und fahre nach Hause.

In der nun folgenden Interpretation meiner Beobachtung möchte ich auf zwei Punkte im speziellen eingehen: Der Hauptbahnhof Bremerhaven als „Nicht-Ort“ nach der Theorie von Marc Augé und wie ich, als Beobachterin, während der Beobachtung nicht durch ein Fernglas blickte. Augé schrieb: „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.“ (Augé 1994: 121) Ich konnte während meiner Beobachtung feststellen, wie der Bahnhof als Transitraum lediglich zum Zwecke des Verkehrs genutzt wurde, was ihn monofunktional macht. Die Menschen die ihn nutzen, befinden sich in der Regel nur eine kurze Zeit dort und verlassen ihn dann wieder. Ich konnte ständige Bewegung beobachten und die Menschen verließen mein Sichtfeld ebenso schnell wie sie es betraten. Im Sekundentakt durchquerten auch Fahrzeuge (Busse, Autos) den Bahnhof, denn dieser war nicht das Ziel der Fahrt. In meiner Beobachtung wird deutlich, wie ich durch den ständigen Wechsel von Geräuschen und Bilder selten die Reisenden klar aufnehmen konnte, sie wirken alle ähnlich und flüchtig in ihrer Durchquerung des Bahnhofes. Auch dies beschrieb Augé in seinem Text, wenn er erläutert wie Nicht-Orte einen Durchschnittsmenschen schaffen und für relative Anonymität sorgen, frei von Identität. Wenn Menschen einen Bahnhof nutzen sind sie anonym, kennen niemanden und möchten im Normalfall anonym bleiben, sich nicht den Fremden vor Ort offenbaren und sich auch nicht länger als nötig dort aufhalten. Die Maskenpflicht derzeit begünstigt dies, da die Menschen noch weniger von sich Preis geben müssen. Daraus folgt eine gewisse Einsamkeit, da kein kommunikativer Austausch stattfindet bzw. stattfinden kann. Wenn am Bahnhof gesprochen wird, sind das meist kurze Gespräche, wenn nach dem Weg gefragt wird. Der Nicht-Ort ist kommunikativ verwahrlost. Diese Einsamkeit verstärkt sich nur durch die ständige Bewegung und die Vielzahl der Menschen; man verliert sich in der Menge. Die menschliche Interaktion fehlt, was für Augé einen anthropologischen Ort erst ausmacht. Dies habe ich auch während meiner Beobachtung gemerkt: Die Menschen warten auf ihren Bus/Zug oder auf jemanden, der sie mit dem Auto abholt, es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Auch Abschiede (Umarmung von Frau und Mann, beobachtet durch den Rückspiegel) gehören zum Bahnhof dazu. Die Reisenden verfolgen ihr individuelles Ziel, niemand scheint wirklich die Anderen um sich herum richtig wahr zu nehmen oder wahrnehmen zu wollen, man ist auf sich selbst fokussiert und der Bahnhof als architektonisches Bauwerk scheint nebensächlich; es erfüllt nur seinen Zweck.
Während ich am Bahnhof saß, ist mir erstmals aufgefallen, dass ich bei meiner Beobachtung keine neutrale Person bin und ich die Menschen nicht durch ein Fernglas hindurch anschaue. Die Menschen sehen und beobachten mich ebenfalls, zwar nicht so fokussiert wie ich sie, aber ich wurde auf jeden Fall wahrgenommen. In meinem Protokoll wird dies vor allem in dem Moment deutlich, als der Mann sich im Vorbeigehen nochmals nach mir umdrehte und wir uns anschauten. Auch wenn mich niemand während dieser Stunde angesprochen hat, habe ich gemerkt wie ich gemustert wurde. Gerne hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich mit den Menschen zu unterhalten und heraus zu finden, wohin ihre Reise führt oder was ihre Gedanken sind.

Abschließend würde ich meine Beobachtung als aufschlussreich bewerten, da ich das Beobachten selbst sehr interessant fand und viel daraus mitnehmen konnte, vor allem da einiges passiert ist. Ich bin zwar mit der Annahme, dass ich die Theorie von Marc Augé nutzen werde, zum Bahnhof gefahren, doch dass ich so viele Details selbst miterlebe, die den Bahnhof als Nicht-Ort kennzeichnen, hätte ich nicht erwartet. Alles in allem bin ich zufrieden mit meiner teilnehmenden Beobachtung und denke, dass eine längere Beobachtung des Bahnhofes, vor allem aus einer umfangreicheren Perspektive sicherlich interessant wäre.

puhhhh das war ganz schön viel! an diejenigen, die es bis hierher geschafft haben: Teilt mir gerne eure Meinung mit 🙂

One Response to “Bahnhofsbeobachtung”

  1. Annika (Tut) Says:

    Hallo Isabella,
    ich bin beeindruckt, wie viel du in dem Text geschildert hast und wie umfangreich du Sinneseindrücke beschrieben hast.
    Der tolle Stil zieht sich durch das ganze Protokoll und du findest eine gute Überleitung zum Interpretationsteil, in dem du eine sehr gute Verknüpfung zu Augés Text herstellst.
    Interessant fand ich auch, dass du von einem typischen Bahnhofsgeruch gesprochen hast.
    Das einzige, was ich hier noch anmerken würde: bei den Aussagen von Augé bitte immer einen Kurzbeleg einbauen oder bei fortfolgenden Bezügen auf seinen Text den Konjunktiv nutzen. Am Ende dann eine Quellenangabe hinzufügen.
    Ansonsten wirklich ein tolles Beobachtungsprotokoll, schön!
    LG Annika

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