Der lange Heimweg

Du hattest heute den wohl schlimmsten Tag deines Lebens. Als erstes musste dir dein Chef heute mitteilen, dass er dich leider entlassen und du in der nächsten Woche deinen Arbeitsplatz räumen musst. Da das scheinbar noch nicht genügend schlechte Nachrichten waren, hast du nach der Arbeit als du nach Hause kamst festgestellt, dass deine Freundin ausgezogen ist. Sie hat nur einen Zettel zurückgelassen, in dem sie dir zu erklären versucht, wie sehr ihr euch auseinadergelebt habt. Sie hat dafür ihre Wörter wie Liebe, Zuneigung und Gemeinsamkeiten benutzt, die du in letzter Zeit häufiger hören durftest.

Was solltest du also anderes tun, als mit ein paar von deinen Kumpels den Tag in der Kneipe ausklingen zu lassen? So ist es dann auch geschehen, erst seid ihr bei Bier gegeben, aber dann doch schnell auf etwas Härteres umgestiegen. Der Abend zog sich hin, die Zeit verging wie im Fluge und schon bald hat der Wirt euch vor die Tür gesetzt, er wollte die Kneipe absperren. Nachdem du deine Kumpels verabschiedet hast, machst du dich auf den Heimweg, aber nicht dorthin, wo du verlassen wurdest, nein du beschließt deinen Bruder zu besuchen und ihm von deinem Tag zu berichten, schließlich wohnt er doch gar nicht weit von hier und du hast ihn schon länger nicht mehr besucht.

Du machst dich also auf den Weg durch die kleinen Gassen zu dem heruntergekommenen Mietshaus in dem dein Bruder nun schon seid einiger Zeit wohnt. So fern ab der großen Straßen hast du schon deine Schwierigkeiten den Weg richtig zu finden, wobei dein gesteigerter Alkoholpegel alles andere als hilfreich ist. War es jetzt hier oder die nächste kleine Gasse wo du links abbiegen musstest? Es dauert nicht sehr lange, bis du dir absolut nicht mehr sicher bist, wo du dich befindest. Wieso müssen diese Häuser hier auch alle so gleich aussehen, nur überall diese grauen Betonbauten? Du machst dich trotzdem auf die Suche, so weit kann es ja schließlich nicht mehr sein und noch bist du nicht müde, also geht es immer weiter durch die Gassen und kleineren Straßen. Du nimmst dir einen kurzen Moment zum orientieren, stützt dich schwer an eine Wand und da geschieht es, plötzlich durchzuckt ein Schmerz deine Hand. Du ziehst sie so schnell zurück, dass du fast dein Gleichgewicht verloren hättest und schaust sie dir an, ein dicker, roter Striemen verläuft quer über deine Handinnenfläche. Es sieht so aus, als hättest du dir gerade deine Hand an irgendwas aufgeschnitten. Kurz in dich hineinfluchend holst du dein Taschentuch heraus, bindest es um deine Hand und trittst wütend über deine eigene Unvorsichtigkeit ein paar Metallteile, die vor dir liegen durch die Gasse. Wütend stapfst du dann weiter, verflucht irgendwo muss hier doch das Haus sein!

Der Gasse weiter folgend streunst du weiter, biegst einmal links, einmal rechts ab, oder war es doch anders herum, auf jeden Fall siehst du noch einmal auf und die Gegend hat sich etwas verändert. Die Gebäude wirken höher, die Wände brüchiger, ja fast älter. Wo bist du hier nur gelandet? Gerade willst du dich umdrehen, da siehst du, dass sich die Gasse vorne weiter zu einer Straße öffnet, also folgst du ihr weiter. Du gehst weiter, die Gebäude links und rechts scheinen mit jedem Schritt befremdlicher zu werden, aber du siehst nicht weit schon den Weg sich zu einem Platz weiten. Die Gebäude werden noch höher, der Himmel nur als schmaler, sternenloser Streifen, überall scheinen sich Wolkenkratzer zu erheben, wie sich Bäume in einem dichten Wald der Sonne entgegenstrecken.

Als du endlich den Platz erreichst, bist du von den Ausmaßen völlig überwältigt. Die Bauwerke links und rechts sind fremd und so gewaltig hoch, dass du kaum die Spitzen erblicken kannst. Das erstaunlichste ist jedoch in der Mitte des Platzes oder besser es umfast nahezu den gesamten Platz, ein gewaltiges Loch, besser ein riesiger Abgrund, dessen Ausmaße fast die des Platzes erreichen, dessen Ende du mit bloßem Auge kaum ausmachen kannst. Doch im gleichen Moment siehst du noch viel anderes um dich herum, bisher hast du dich über die Ruhe kaum gewundert, immerhin ist es spät in der Nacht, aber jetzt siehst du überall um dich herum Bewegung. Am Himmel bewegen sich gewaltige Schatten, die sich scheinbar mühelos von den gewaltigen Gebäuden abstoßen. Gleichzeitig vernimmst du überall das Kratzen von Metal auf Stein, als wenn sich irgendwo im Untergrund jemand oder besser etwas den Weg bereitet. Es wird Metall auf Metall geschlagen, gewaltige, schmiedeiserne Tore werden knarrend zur Seite bewegt, um irgendetwas den Weg frei zu machen.

Wo bist du hier gelandet? Was machst du hier und vor allem, was willst du tun???

3 Responses to “Der lange Heimweg”

  1. Anja Says:

    Hey Manuel,
    huh, das klingt ganz schön gruselig, erinnert etwas an Kafka, nein eher an „Der Spiegel im Spiegel“ von Ende.
    Das ist Kunst!
    Erinnert mich an meine kleinen Lernschritte … seufz.
    Viele Grüße,
    Anja

  2. manuel Says:

    Hallo Anja,

    Ich bin jetzt die Tage erst dazu gekommen mal „Der Spiegel im Spiegel“ zu lesen. auch wenn es schon länger hier lag und ich muss sagen ich bin wirklich sehr begeistert.

    Gruss,

    Manuel

  3. Alex Says:

    Das … ist KULT.

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