Die subtilen Fesseln der Geschlechterrollen im 21. Jahrhundert

von Wibke Bils, Carolin Brandt, Celina Kuhlmann & Julia Munck

Hand aufs Herz: Wenn in deinem Haushalt etwas nicht mehr funktioniert, reparierst du es selbst? Mir wurde erst kürzlich bewusst, dass mein Partner Dennis und ich uns automatisch Aufgaben zuteilen, die stereotypisch für unsere Geschlechterrollen sind. Dennis kümmert sich ums Auto, Reparaturen am Haus und den Garten, während ich mich hauptsächlich um den Haushalt, organisatorische Aufgaben und das Kochen kümmere.

Aber warum teilen wir uns die Aufgaben so auf? 

Diese vorgeprägten Aufteilungen scheinen so tief in uns verankert zu sein, dass wir oft unbewusst danach handeln, wie auch Dennis und ich. „Mein Putzen genügt nicht den Ansprüchen meiner Frau“ oder „Mein Mann möchte meine Hilfe beim Möbelaufbau eigentlich nicht“ – solche Aussagen zeigen, wie stark wir in unseren geschlechtsspezifischen Rollen feststecken. Frauen übernehmen Aufgaben wie Hausarbeit, Putzen und Kinderbetreuung, während Männer handwerkliche Tätigkeiten und die Rolle des Hauptverdieners übernehmen. Klischees, die nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Erwartungen an andere beeinflussen.

Woher kommen diese Rollenbilder und wieso halten sie sich bis heute?

Auf meiner Suche nach einer Antwort auf diese Frage habe ich meine alten Vorlesungsinhalte aus dem Bereich der Sozialpsychologie durchforstet und stieß dabei auf die Social Role Theory von Alice Eagly und Wendy Wood aus dem Jahr 2012. Die Theorie besagt, dass soziale Rollen in der Steinzeit entstanden, als Männer für Jagd und Schutz zuständig waren und Frauen sich um die Kinder kümmerten. Diese Rollenzuteilungen sind auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen und sorgten schließlich auch für eine bestimmte Aufgabenverteilung. So sind Männer aufgrund ihrer körperlichen Stärke und Größe besser für die Jagd geeignet gewesen, während Frauen aufgrund ihrer Fähigkeit, Kinder auszutragen, in der Sicherheit des häuslichen Umfelds blieben (Eagly & Wood, 2012).

Die Beobachtung von weiblichen und männlichen Verhaltensweisen hat im Laufe der Zeit zu einer Einigkeit in der Gesellschaft geführt, welche Verhaltensweisen für das jeweilige Geschlecht als akzeptabel gelten (Eagly & Wood, 2012). Durch den Prozess der Sozialisierung werden diese Überzeugungen weiter verstärkt. So lernen wir im Laufe unseres Lebens Regeln, Werte und Verhaltensweisen unserer Umgebung kennen – eben Dinge, die in unserer Gesellschaft von Bedeutung sind und sogar von uns erwartet werden. Daraus entwickeln wir dann unsere eigene soziale Identität und Rollenvorstellung, die schlussendlich unser Denken und Handeln beeinflussen (Steffens & Ebert, 2016). Hier findest du die Theorie noch einmal verbildlicht:  

Theorie der sozialen Geschlechterrollen (Eigene Darstellung in Anlehnung an: Eagly & Wood, 2012)

Schließlich entstehen durch genau diesen Prozess nicht nur Vorurteile darüber, wie Personen sich aufgrund ihrer Gruppen- oder Geschlechterzugehörigkeit zu verhalten haben, sondern auch Diskriminierungen und Stereotype (Steffens & Ebert, 2016a). Fällt dir dazu vielleicht auch eine konkrete Situation ein?

Auch heutzutage werden Frauen noch Attribute zugeschrieben wie Fürsorglichkeit und Emotionalität, während Männer eher als dominant und karriereorientiert dargestellt werden. Sowohl unsere soziale Umgebung, beispielsweise Freunde und Familie, als auch die Medien prägen uns. Sie geben uns vor, wie wir uns verhalten sollten, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Ist dir zum Beispiel schon mal von jemandem gesagt worden, dass du dich in einem Moment anders verhalten solltest? Mir fällt dazu ein, dass mir als Kind ständig gesagt wurde, dass Mädchen nicht raufen und sich nicht rüpelhaft verhalten dürfen, mein Bruder dagegen hat solche Bemerkungen nie bekommen. Durch genau solche Erwartungen ist im Laufe der Zeit ein informelles Regelwerk entstanden, das geschlechtsspezifische Verhaltensweisen vorschreibt und nach wie vor unser Denken und Handeln beeinflusst – einschließlich das von Dennis und mir. 

Wie spiegeln sich Geschlechterrollen heute im Berufsleben wider?

Als kaufmännische Leiterin stelle ich mir nun die Frage, ob meine beruflichen Erfolge von bestehenden Geschlechterrollen beeinflusst werden. Diese Überlegung führte mich zu einer faszinierenden Studie von Balachandra und ihren Kolleg:innen aus dem Jahr 2017, die nicht nur meine eigenen Gedanken, sondern auch gängige Stereotype im beruflichen Umfeld beleuchtet.

In ihrer Untersuchung haben die Autor:innen die Auswirkungen geschlechtsstereotypischer Verhaltensweisen auf die Bewertung von Unternehmenden durch Invenstierende während eines Pitches unter die Lupe genommen. Der Pitch ist sozusagen eine knackige Vorstellung des Unternehmens, in der die Überzeugungskraft der Unternehmenden im Mittelpunkt steht.

Der erste Blick auf die Studie offenbarte einen signifikanten Unterschied beim Erhalt von Finanzmitteln zwischen Männern und Frauen. Männer galten aufgrund von Stereotypen als unternehmerischer und wachstumsorientierter (Eddleston et al., 2016). Verbinden wir das mit der Theorie der sozialen Rollen, erscheint das Unternehmertum eine „Männerdomäne“ zu sein – ein Bild, das an den starken, dominanten Mann erinnert, der für die Jagd verantwortlich war.

Doch hier wird es interessant: Sowohl Männer als auch Frauen sollten laut der Studie stereotypisch männliche Verhaltensweisen aufzeigen, um mehr Interesse und Unterstützung von Investierenden zu erhalten (Balachandra et al., 2019). Doch bedeutet das auch, dass Männer automatisch erfolgreicher sind und mehr Macht im Unternehmertum haben?

Die überraschende Antwort lautet: nicht unbedingt. Die Studienergebnisse enthüllen, dass Unternehmen, die von Männern repräsentiert werden, nicht per se gegenüber solchen bevorzugt werden, die von Frauen repräsentiert werden. Entscheidend war das Verhalten der Unternehmenden. Diejenigen, die stereotypisch weibliches Verhalten zeigten – unabhängig vom Geschlecht – wurden schlechter bewertet als diejenigen, die sich stereotypisch männlich verhielten. Damit wird klar, dass Investierende nicht zwangsläufig gegen Unternehmerinnen voreingenommen sind, sondern eher gegen die Darstellung von Verhaltensweisen, die als stereotypisch weiblich angesehen werden und somit nicht zum Unternehmertum passen (Balachandra et al., 2019).

Diese Erkenntnisse werfen vielleicht auch bei dir viele Fragen auf. Warum werden bestimmte Eigenschaften, die als stereotypisch weiblich gelten, in der Geschäftswelt negativ bewertet? Sind individuelle Verhaltensweisen, sei es von Männern oder Frauen, tatsächlich von Stereotypen abhängig, um als erfolgreich wahrgenommen zu werden?

Was bedeutet das für uns alle?

Als Frau in einer Führungsposition fühle ich mich von diesen Ergebnissen gleichermaßen bestärkt und herausgefordert. Einerseits zeigt es, dass das Geschlecht nicht zwangsläufig das Erfolgspotenzial beeinflusst. Andererseits beunruhigt es mich, dass stereotypisch weibliches Verhalten in der Geschäftswelt nach wie vor benachteiligt wird.

Investierende diskriminieren also unabhängig vom Geschlecht vor allem stereotypisch weibliche Verhaltensweisen, wodurch sich die Geschlechterrollen im Unternehmertum als komplexer erweisen als bisher angenommen. Eigenschaften wie Fürsorglichkeit, Gemeinschaftssinn oder Sozialfähigkeit können bei Unternehmenden daher zu Benachteiligungen führen. 

Doch es drängt sich mir die Frage auf, warum Eigenschaften wie Fürsorglichkeit als stereotypisch weiblich gelten und Unternehmende scheinbar nicht dazu ermutigt werden, diese zu zeigen? Dabei fühlen sich Arbeitnehmende doch scheinbar wohler bei einer fürsorglichen Führungskraft (Hamm & Köhler, 2020). Erscheint es für dich nicht auch unfair, dass individuelle Verhaltensweisen, sei es von Männern oder Frauen, unterdrückt werden sollen, nur um in der Berufswelt erfolgreicher sein zu können? 

Wie können wir gemeinsam die Geschlechterrollen ändern?

Wir alle kennen Momente, in denen wir unbewusst nach Geschlechterrollen leben. Ich habe selbst festgestellt, dass ich Dennis Attribute wie Stärke und Mut zuschreibe, mir selbst vielleicht zu wenig zutraue. Geschlechterrollen sind präsent und es ist unsere gemeinsame Herausforderung, diese Muster zu durchbrechen. Lasst uns also das unausgesprochene Regelwerk hinterfragen und uns von den subtilen Fesseln der Geschlechterrollen befreien. Es ist an der Zeit, ein zeitgemäßes Rollenverständnis zu schaffen, das nicht an Geschlecht gebunden ist, sondern individuelle Werte, Interessen und Verhaltensweisen hervorhebt.

Zum Abschluss möchte ich dir noch einen passenden Podcast empfehlen, der vielleicht auch dir dabei helfen kann dich von den Erwartungen an die Geschlechterrollen zu befreien (Spotify, 2023).

 


Literatur:

Balachandra, L., Briggs, T., Eddleston, K., & Brush, C. (2019). Don’t pitch like a girl!: How gender stereotypes influence investor decisions. Entrepreneurship theory and practice, 43(1), 116-137.

Eagly, A. H., & Wood, W. (2012). Social role theory. Handbook of theories of social psychology, 2, 458-476.

Eddleston, K. A., Ladge, J. J., Mitteness, C., & Balachandra, L. (2016). Do you see what I see? Signaling effects of gender and firm characteristics on financing entrepreneurial ventures. Entrepreneurship: Theory & Practice, 40(3), 489–514.

Hamm, I. & Köhler, W. (2020). Mitarbeiterbegeisterung: das Vorgehen. In Springer eBooks (S. 27–46). https://doi.org/10.1007/978-3-662-61128-9_2

Steffens, M. C. & Ebert, I. D. (2016). Geschlechterunterschiede. In Springer eBooks (S. 79–101). https://doi.org/10.1007/978-3-658-10750-5_7

Steffens, M. C. & Ebert, I. D. (2016a). Frauen – Männer – Karrieren: Eine sozialpsychologische Perspektive auf Frauen in männlich geprägten Arbeitskontexten. Springer-Verlag.

Spotify (2023). Geschlechterrollen – so befreien wir uns von den Erwartungen anderer. https://open.spotify.com/episode/7zmNkhgPTXDP8w345dRppd. Abgerufen am 15.01.2024

Bildquellen:

Unsplash (2020). Gender Roles, Abgerufen am 26.01.2024 https://unsplash.com/de/fotos/grune-und-weisse-schreibmaschine-auf-schwarzem-textil-qox5EIqtctQ


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