2. Geschichten aus dem Zug


Moin Leute,

heute geht es weiter mit meinem Blog.

Ich fahre Zug. Viel Zug. Jeden Tag fast 2 Stunden Straßenbahn und jedes Wochenende jeweils knapp 1,5 Stunden pro Weg nach Hause zu meiner Familie und wieder zurück nach Bremen. Dementsprechend viel befinde ich mich an Bahnhöfen und Haltestellen. Nach Marc Augé sind diese Transiträume keine wirklichen Orte.

Im Seminar haben wir seinen Text gelesen, in dem er ausführt, dass diese Transiträume als „Nicht-Orte“ zu sehen sind. „Nicht-Orte“ sind Plätze, zu denen man keine persönliche Beziehung hat, die nur der Reise dienen und die nur ein Mittel zum Zweck sind. Darunter fallen etwa Autobahnen, Einkaufszentren oder Bahnhöfe. Also unter anderem auch eben jener Ort, an dem ich regelmäßig viel Zeit verbringe.
Ich empfinde es nicht so, als hätte ich keine persönliche Beziehung zu diesem Ort. Dafür habe ich schon viel zu viel in der Bahn und am Bahnhof erlebt. Ein paar meiner Erlebnisse möchte ich euch hier berichten.

Einmal, als wieder eine Bahn ausgefallen war, begann ein älterer Mann sich mit mir zu unterhalten. Er war bereits morgens um kurz nach 7 alkoholisiert und lallte etwas. Er sei Mathematiker, das habe seine Mutter schon direkt bei der Geburt gemerkt. Allerdings könne er nicht richtig lesen und schreiben, weshalb er sein Geld jetzt mit dem Verkauf von Drogen verdiene. Das dürfe aber niemand wissen.

Ein anderes Mal saß ich mit mehreren Jugendgruppen im Zug, diese zogen ihre Schuhe aus, rauchten im Zug und hörten laut Musik. Das war echt ziemlich nervig, denn eigentlich wollte ich noch etwas für die Uni machen, aber so konnte ich mich kaum konzentrieren.

Viele Leute haben auch kaum Hemmungen, im Zug zu telefonieren, gern so laut, dass es alle anderen mitbekommen. Manchmal würde ich dann am liebsten fragen, ob sie vielleicht den Lautsprecher am Telefon anmachen können, damit man bei Streitgesprächen wenigstens beide Positionen mitbekommen und sich dann ein Urteil bilden kann. So ist es immer schwierig, sich eine ausgewogene Meinung zu bilden und Teil des Gespräches zu sein. Ich finde aber, dass das mein gutes Recht ist, wo sie doch schon so laut telefonieren, dass ich nichts anderes machen kann.

Aber nicht nur im Zug, sondern auch am Bahnhof habe ich schon einiges erlebt.
Jedes Mal sehe ich die freundlichen Verkäufer, die jeden Tag im Bahnhof sind, dort ihr Geschäft haben und jeden ihrer Kunden mit einem Lächeln begrüßen. Oder die Frau, die neulich von zwei Polizisten weggeführt wurde und den Bahnhof verlassen musste. Ich weiß zwar nicht, warum sie gehen musste, aber auf mich wirkte es so, als hätte sie keinen anderen Ort an dem sie sein könnte. Auch Obdachlose sehe ich regelmäßig am und um den Bahnhof, auch sie treffen sich hier oft und einige von ihnen werden wahrscheinlich auch dort übernachten.

Und genau an dieser Stelle funktioniert Augés Theorie nicht mehr. Denn wenn schon ich nach so kurzer Zeit so viele Geschichten von einem „Nicht-Ort“ zu berichten habe, dann habe ich eine persönliche Beziehung zu diesem Ort. Die Menschen, die jeden Tag im Bahnhof arbeiten oder dort ihre Zeit verbringen, weil ihnen einfach kein anderer Ort zur Verfügung steht, werden den Bahnhof auch mit einer persönlichen Bindung besetzen. Daraus ergibt sich dann, dass auch Transiträume wie ein Bahnhof sehr wohl Orte sind und nicht wie Augé erläutert „Nicht-Orte“. Vielleicht werden wir in Zukunft noch einen Text besprechen, der sich kritisch mit seiner Theorie auseinandersetzt, im Seminar bleibt dafür zu wenig Zeit, da die Gruppe zu groß ist.

 

Wie ist es mit euch, habt auch ihr eine persönliche Geschichte, die ihr mit einem „Nicht-Ort“ verbindet? Kommentiert gern 🙂

Ylva

 

 


Eine Antwort zu “2. Geschichten aus dem Zug”

  1. Hey!

    Nachdem ich deinen Blog gelesen habe, musste ich wirklich nachdenken!

    In der Tat…Ich verbinde mittlerweile auch vieles, auch eigene Geschichten, mit den Nicht Orten.
    Da kommt auch echt vieles zusammen, wenn ich darüber weiter nachdenke!

    Züge sind eigentlich echt fast wie ein zweites Zuhause für mich, da ich auch schon extrem oft Zug gefahren bin. Meine Mutter hat kein Führerschein, wahrscheinlich deshalb das häufige Zugfahren.

    Witzig war dann einmal die Rückfahrt von einem Wandertag mit der Klasse, wo wir mit meinem Mathelehrer Mau Mau gespielt haben. Daran erinnere ich mich gerne zurück.

    Viele Erinnerungen stecken auch einfach in den Nicht Orten…Also würde ich dir da schon voll zustimmen, dass man eine persönliche Verbindung zu manchen Nicht Orten hat.

    Toller Blog und interessante Eindrücke!

    Liebe Grüße
    Sophie!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert