Von Holger Döring und Lothar Probst
Erarbeitung einer Internet-Wahlhilfe in einem integrierten Projektseminar des BA-Studiengangs Politikwissenschaft
Wahlen sind ein dankbares Thema für projektbezogenes forschendes Lernen mit Studierenden. Zum einen sind Parteien und Wahlen ein zentrales Forschungsfeld der Politikwissenschaft, zum anderen verfügen Studierende als Wähler über eigene Erfahrungen mit dem Wählen. Außerdem eignet sich das Thema sehr gut für die Beschäftigung mit den Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung. Die Motivation von Studierenden, sich an einer entsprechenden Projektarbeit zu beteiligen, ist dementsprechend groß.Vor diesem Hintergrund wurden am Institut für Politikwissenschaft in den letzten Jahren mehrfach Projekte im Bereich der Wahl- und Parteienforschung realisiert, an denen sowohl Bachelor- als auch Masterstudierende beteiligt waren: Eine Untersuchung zu Nichtwählern in Bremen, eine Begleitforschung zur Juniorwahl (ein Schulprojekt) in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Bremen sowie eine Auswertung des neuen Bremer Wahlrechts bei der Bürgerschaftswahl 2011 im Auftrag der Bremischen Bürgerschaft. Dabei hat sich nicht nur die Zusammenarbeit mit öffentlichen Institutionen, sondern auch mit anderen Instituten und Fächern an der Universität bewährt. So wurden einige der Projekte zusammen mit Kollegen und Studierenden des Instituts für Soziologie durchgeführt. Teilweise gingen sogar Publikationen aus diesen Projekten hervor, die von den beteiligten Studierenden maßgeblich mit erarbeitet und öffentlich vorgestellt wurden.
An diese Tradition der forschungsorientierten Projektarbeit mit Studierenden anknüpfend, konzipierten wir für das letzte Sommersemester anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl 2013 ein integriertes Projektseminar, dass aus zwei Teilen bestehen sollte: Einem wahltheoretischen Teil, in dem Grundlagen der Wahlforschung, insbesondere der Wahlrechtsforschung vermittelt werden, sowie einem praxisorientierten Teil, in dem eine Internet-Wahlhilfe für externe Nutzer entwickelt und programmiert werden sollte.
Wahl-O-Mat: Internet-Wahlhilfe seit 2002
Internet-Wahlhilfen haben sich seit Ende der 1990er Jahre als fester Bestandteil von Wahlen etabliert. Dabei beantworten Nutzer auf entsprechend programmierten Internetseiten Fragen über ihre politischen Einstellungen in ausgewählten Themenbereichen. Diese Antworten werden dann mit den Positionen der Parteien verglichen, und es wird die Nähe zwischen kandidierenden Parteien sowie den Nutzerpositionen dargestellt. In Deutschland ist seit 2002 der Wahl-O-Mat die am häufigsten verwendete Internet-Wahlhilfe. Diese wurde bei der Bundestagswahl 2013 über 13 Millionen Mal genutzt. Bei der Bundestagswahl 2013 gab es auch erstmalig einen regen Wettbewerb unter den Internet-Wahlhilfen. Neben dem Wahl-O-Mat waren drei Projekte von Politikwissenschaftlern (Bundeswahlkompass, ParteieNavi, Wen Wählen?) bundesweit verfügbar.
Die Internet-Wahlhilfe, die in dem von uns konzipierten Projektseminar erarbeitet werden sollte, war im Anspruch bescheidener und zielte dennoch auf eine Innovation, denn im Unterschied zu den anderen Internet-Wahlhilfen wollten wir uns auf Kandidaten und deren Positionen konzentrieren und nicht die Positionen von Parteien erheben. Diese anders gelagerte Herangehensweise erschien uns sinnvoll, weil das deutsche Wahlrecht neben der Wahl einer Partei (Zweitstimme) die direkte Wahl eines Abgeordneten im Wahlkreis (Erststimme) ermöglicht und insofern ein Element von Persönlichkeitsorientierung enthält. So kommt es durchaus vor, dass Direktwahlkandidatinnen und -kandidaten in ihren Positionen von der jeweiligen Partei, der sie angehören, abweichen. Die Bedeutung dieser Persönlichkeitsorientierung im deutschen Wahlrecht ist zwar in der Wahlforschung umstritten, weil die Zweitstimmen über die eigentliche Sitzverteilung im Bundestag entscheiden, aber dennoch ist es wahltheoretisch und praktisch interessant zu untersuchen, wie die Wähler auch von der Erststimme Gebrauch machen und diese gegebenenfalls splitten. In der Vergangenheit wurde sogar häufig von der Möglichkeit des Stimmensplittings Gebrauch gemacht, weil Wähler davon ausgegangen sind, dadurch einer Partei eventuell zu Überhangmandaten zu verhelfen. Durch die bei der Bundestagswahl 2013 zum ersten Mal angewendete Ausgleichsmandatsregelung ist dieser Effekt jedoch nicht mehr relevant. Allerdings gibt es immer noch Stimmensplitter, die mit der Erststimme eine von ihnen präferierte große Partei wählen und mit der Zweitstimme eine kleinere Partei, der sie entweder über die Fünfprozenthürde verhelfen wollen (auch bekannt als Leihstimmeneffekt) oder die sie sich als potentiellen Koalitionspartner der großen Partei wünschen (Koalitionswahl).
Interdisziplinäres Projekt
Um die Internet-Wahlhilfe, die auf einer ansprechend gestalteten Internetseite öffentlich gemacht werden sollte, fachgerecht zu programmieren, war das Projekt interdisziplinär angelegt. Studierende der Sozialwissenschaften sollten ihre Kenntnisse über das deutsche Wahlsystem und Fähigkeiten der empirischen Sozialforschung (wie die Fragebogenerstellung) in das Projekt einbringen und Studierende technischer Fächer ein Konzept für die Erstellung der Internetseite erarbeiten und umsetzen. Erfahrungen zeigen, dass gerade der Austausch zwischen Studierenden der Sozialwissenschaften und der technischen Fächer eine Herausforderung darstellt. So waren einige Teilnehmer der technischen Fächer überrascht, wie viele Ausprägungsmerkmale einige Politikwissenschaftler im Fragebogen für die Variable Geschlecht vorschlugen. Ein weiteres Merkmal des Projektseminars war der mehrfache Praxisbezug. Studierende sollten in Vorlesungen und Seminaren erworbenes Wissen in einem Projekt anwenden. Außerdem sollte am Ende ein fertiges Produkt (die Internet-Wahlhilfe auf einer eigenen Internetseite) stehen, von dem Wähler aktiv Gebrauch machen können. Schließlich sollten auch politische Institutionen und Medien für eine Unterstützung des Projekts gewonnen werden.
Erfreulich war, dass sich im Sommersemester 2013 mehr als 60 Studierende für unser Konzept des forschungsorientierten Lernens interessierten und sich in die beiden Teile des Projektseminars einschrieben. In den ersten Sitzungen des stärker theoretisch orientierten Teils wurde ein besonderes Gewicht auf die Vermittlung der Besonderheiten des Wahlrechts der Bundesrepublik mit der Zweistimmenkonstruktion und dem Status der Direktwahlkandidaten gelegt. Parallel konstituierte sich eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Holger Döring, die sich zunächst generell mit Internet-Wahlhilfen beschäftigte und dann einen Fragebogen für die Direktwahlkandidaten in den ausgewählten Wahlkreisen erarbeitete. Beide Teile des Projektseminars wurden in der zweiten Hälfte des Semesters durch Einladungen an Direktwahlkandidaten aus den Wahlkreisen Bremens wieder stärker integriert. Direktwahlkandidaten fast aller Parteien, darunter Dr. Carsten Sieling von der SPD, Elisabeth Motschmann von der CDU, Marie-Luise Beck von den Grünen und Kristina Vogt von der Partei DIE LINKE, stellten sich der Diskussion mit den Studierenden und gaben Auskunft über ihren Wahlkampf im jeweiligen Wahlkreis. Die Informationen aus den Diskussionen konnten bei der Erstellung des Fragebogens verwertet werden, der im Juni 22 Direktwahlkandidaten in den ausgewählten Wahlkreisen mit der Bitte um Beantwortung zugestellt wurde. In dieser arbeitsintensiven Phase mussten von den Studierenden mehrere Aufgaben gleichzeitig koordiniert werden: Die kontinuierliche Kontaktpflege mit den Direktwahlkandidaten, um eine möglichst hohe Rücklaufquote bei den Fragebögen zu erzielen, die Programmierung der Internet-Wahlhilfe und die begleitende Öffentlichkeitsarbeit.
Die Erstellung der Internet-Wahlhilfe fand in teilgeblockten Seminarsitzungen statt. Zunächst wurden in diesen Sitzungen aktuelle politikwissenschaftliche Forschungen über Internet-Wahlhilfen vorgestellt und bereits vorhandene Wahlhilfen europäischer Länder miteinander verglichen. Zudem hatten wir zu einer Sitzung Jonas Israel von der Universität Düsseldorf eingeladen, der den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung wissenschaftlich begleitet. In einem Vortrag stellte er Forschungsergebnisse zum Einfluss von Internet-Wahlhilfen auf das Wahlverhalten vor. Die konkrete Erarbeitung der Internet-Wahlhilfe Erststimme 2013 erfolgte dann in drei Gruppen: Eine Gruppe ermittelte Fragen, die besonders für Direktkandidaten von Relevanz sind; eine zweite Gruppe entwarf den Fragebogen und legte das Auswertungsverfahren fest, mit dem die Nähe zwischen Nutzern und Parteien berechnet werden sollte; und eine dritte Gruppe konzipierte und erstellte die Internetseite. Während die ersten beiden Gruppen ihren Fokus auf sozialwissenschaftliche Aspekte legten, waren in der dritten Gruppe sowohl technische Fähigkeiten als auch Kenntnisse in der Öffentlichkeitsarbeit und im Design gefragt.
Erarbeitung des Konzepts
Die Entscheidungen über die im Fragebogen verwendeten Themen, das Berechnungsverfahren und das Design der Internetseite wurden in Seminarsitzungen von allen Teilnehmern getroffen. Dazu mussten die einzelnen Gruppen in Kurzvorträgen jeweils ihren Konzeptvorschlag präsentieren und fachlich begründen. Besonders die an die Vorträge anschließenden Diskussionen und Abstimmungen über die Umsetzung des Projektes waren ein wichtiger und integrierender Teil des Projektseminars. Ein erster Entwurf der Internet-Wahlhilfe war im Juni 2013 fertig. Ein darin enthaltener Blog dokumentierte die Fortschritte der im Seminar geleisteten Vorarbeit. Bei einer ‚launch party‘ am Ende der Vorlesungszeit wurde die Internet-Wahlhilfe Erststimme 2013 im Juli online bereitgestellt. Aufgrund der begrenzten zeitlichen Arbeitsmöglichkeiten und finanziellen Mittel beschränkte sie sich geographisch auf die drei Direktwahlkreise Bremen I und II sowie Osterholz-Verden.
Für das hohe Engagement und den Enthusiasmus der Studierenden in diesem Projekt des forschungsorientierten Lernens spricht, dass ein Teil auch nach Semesterende an der erfolgreichen Implementierung der Internet-Wahlhilfe weiter gearbeitet hat. Tatsächlich dauerte es noch bis Anfang August, bis die Wahlhilfe offiziell vorgestellt wurde. Ein Erfolgserlebnis für die Studierenden war die öffentliche Präsentation für die Medien im Haus der Bremischen Bürgerschaft am 15. August, an der als „Schirmherr“ auch Bürgerschaftspräsident Christian Weber teilnahm. Sowohl der Weser-Kurier als auch das Fernsehmagazin „Buten un Binnen“ von Radio Bremen sowie zahlreiche regionale Printmedien berichteten über das Projekt. Die Rückmeldungen waren dabei durchweg positiv.
Werbung für die Online-Wahlhilfe
Nach der Vorstellung des Projektes in den Medien war es wichtig, am Ball zu bleiben und die Internet-Wahlhilfe möglichst vielen potentiellen Nutzern, also den Wählerinnen und Wählern in den beiden Wahlkreisen Bremens und im Wahlkreis Osterholz-Verden, bekannt zu machen. Dazu wurden sowohl die sozialen Netzwerke Facebook, Twitter und Google+ als auch die Lernplattform der Uni-Bremen (Stud.IP) genutzt. Die Pressestelle der Universität unterstützte das Projekt zudem mit Pressemitteilungen über dessen Fortschritte. Die Bedeutung dieser ‚Werbekampagne‘ konnte aus den wachsenden Nutzerzahlen der Internetseite abgeleitet werden. Eine anfangs geplante Kampagne zur Vorstellung des Projektes in Schulen der drei Wahlkreise konnte aufgrund der Ferien nicht wie vorgesehen realisiert werden. Nur im Unterricht der Oberstufe des Domgymnasiums Verden wurde die Internetseite vorgestellt und mit Schülern diskutiert.
Mit Spannung verfolgten die Studierenden des Projektseminars in den Wochen bis zur Bundestagswahl am 22. September 2013, wie die Internet-Wahlhilfe genutzt wird. Die Nutzer-Zahlen blieben zwar etwas hinter den Erwartungen zurück, aber mit über 5.000 Teilnehmern war die Internet-Wahlhilfe dennoch ein Erfolg. In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass die Studierenden mit sehr begrenzten Mitteln (es gab einen Zuschuss aus Studienkontengeldern) eine funktionale und optisch ansprechende Internet-Wahlhilfe programmiert haben, die sich nicht hinter dem „großen Bruder“, dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung, zu verstecken braucht. Als eine der wenigen Internet-Wahlhilfen der Bundestagswahl konnte Erststimme 2013 auch auf mobilen Geräten problemlos verwendet werden.
In der gemeinsamen Auswertung und kritischen Evaluation des Projekts betonten die beteiligten Studierenden, dass die Projektarbeit nicht nur „enormen“ Spaß gemacht, sondern auch viele Kenntnisse, Schlüsselqualifikationen und Erfahrungen vermittelt habe, die im „normalen“ Studium eher zu kurz kommen. Besonders hervorgehoben wurde die Verknüpfung von wissenschaftlicher Theorie und Praxisorientierung, die in vielen Seminaren fehle. So erwarben Studierende der Informatik Kenntnisse der Wahlforschung, und die Studierenden der Sozialwissenschaften entwickelten ein Grundverständnis von modernen Ansätzen des Programmierens. Auch für uns als Lehrende waren die gemeinsame Konzeptionierung und Vorbereitung des Projektseminars, die Abstimmung und Koordination während des Projekts sowie der intensive Kontakt und Erfahrungsaustauch mit den beteiligten Studierenden eine wertvolle Erfahrung, die uns in unserer Bereitschaft, in diese Richtung auch in Zukunft weiterzuarbeiten, bestärkt hat.
Über die Autoren:
Holger Döring ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik.
Lothar Probst ist Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien und Leiter des Arbeitsbreichs Wahl-, Parteien-, und Partizipationsforschung am Institut für Politikwissenschaft.
Bildnachweis:
- Autorenfotos: Holger Döring (Viviane Reineking); Lothar Probst (privat)
- Abb. 1: www.erststimme2013.de / iStockphoto
- Abb. 2: Kathrin Pleus
- Abb. 3: Viviane Reineking