…und um mich kümmert sich keiner

Buch von Ilse Achilles: …und um mich kümmert sich keiner. Situation von Geschwistern behinderter Kinder

Autorin

Ilse Achilles ist in München Journalistin. Sie ist Mutter eines Sohnes, der über einen Förderschwerpunkt in der geistigen Entwicklung verfügt, und zweier Töchter. Sie hat mehrere Fachbeiträge verfasst und ist Vorsitzende des Angehörigenbeirats der Lebenshilfe München.

 

Inhalt

Es geht um die Lebenserschwernisse und die Bereicherungen des Lebens der Kinder, die eine behinderte Schwester oder einen behinderten Bruder haben. Dies geschieht unter anderem auf der Auswertung eigener Erfahrungen und in Bezug auf einige wichtige Studien von Waltraud Hackenberg zur psychosozialen Situation der Geschwister behinderter Kinder in Deutschland. Es werden auch mehrere Erfahrungsberichte von betroffenen Geschwistern und eine Einschätzung welche Einflussfaktoren die Einstellung und die Beziehung der Eltern haben angeführt.

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Geschwister sind Bestandteil vieler Familien und nehmen eine nicht zu vernachlässigende Position im Leben der jeweils anderen Geschwister ein. Sie haben großen Einfluss auf die Entwicklung der Geschwister und wie sich ein Geschwisterkind auf diese auswirkt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Zu berücksichtigen sind bei einer Betrachtung von solchen Einflüssen zum Beispiel die Altersdifferenz, die Geschwisterzahl und das Geschlecht.

In vielen Veröffentlichungen wird die Annahme vertreten, dass Geschwister behinderter Kinder verschiedenen Gefährdungen und Belastungen ausgesetzt sind und deren Entwicklung durch die häufig erschwerte Lebenssituation stark gefährdet wird (vgl. Hackenberg 2008).

Es wird aber nach neueren Erkenntnissen auch deutlich, dass sich auch positive Entwicklungsverläufe aus einer solchen Situation ergeben können und sich Verhaltensauffälligkeiten o.ä. nicht zwangsläufig auf das Zusammenleben mit einem behinderten Geschwister zurückführen lassen, sondern auch andere Gründe haben können.

Ein Zitat von einem betroffenen Geschwister spiegelt meiner Meinung ganz gut wieder, dass es sich oft um einen Zwiespalt von positiven und negativen Aspekten handelt.

 „Na klar ist es geil, wenn mein Bruder mal ein Wochenende weg ist und die ganze Familie Ruhe hat, das ist wie Ferien. Na klar habe ich mir oft Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn er in ein Heim ginge und wir unsere Ruhe hätten, na klar musste ich schon oft auf irgendwas verzichten, weil mein Bruder die volle Aufmerksamkeit brauchte, und es gab auch ‘ne Zeit, wo ich mich geschämt habe, neue Freunde mit zu mir nach Hause zu nehmen, weil ich nicht wollte, dass die mitkriegen, wie es bei uns zugeht. Aber es gab ja auch viele Vorteile. Ich habe, glaube ich, mehr Freiheit, meine Alten haben gar nicht so viel Zeit alles zu kontrollieren, ich kann viel mehr als die meisten Schulfreunde alleine entscheiden, und ich kann mich schief lachen, wenn ich sehe, wie die Leute Angst vor Behinderten haben. Die haben eben einfach keine Ahnung. Vielleicht ist die Angst der Leute vor Menschen wie meinem Bruder das eigentliche Problem. Wenn aber alle ein bisschen Kontakt zu behinderten Leuten hätten, gäb’s bestimmt weniger Probleme. Dann wäre das nämlich alles einfach normal.“ (zit. n. Heimbold 2008, S. 14)

Achilles stellt ein paar Leitpunkte auf, nach welchen sie die Entwicklung eines Geschwisterkindes als gelungen einschätzen würde. Eine positive Entwicklung würde folglich gelungen sein, wenn das Geschwisterkind eine überwiegend positive Beziehung zu dem behinderten Kind hat und sicher im Umgang mit ihm agiert. Sie sagt, es ist wichtig, dass sich das Kind gegenüber seinem Geschwister abgrenzen kann, wenn es nötig ist und in der Lage ist, auch negative Gefühle in Zusammenhang mit dem Bruder oder der Schwester ohne Reue empfinden und auch äußern kann. Es muss seine Schamgefühle in der Öffentlichkeit mit dem behinderten Kind gesehen zu werden überwunden und ein positives Selbstbild entwickelt haben. Einer der wichtigsten Punkte nach Achilles für eine ungehemmte Entwicklung eines Geschwisters von einem behindertem Kind ist, dass es sich abgrenzen und seine Zukunft unabhängig von dem behinderten Kind planen kann. Hier liegt auch eine Wichtige Aufgabe der Eltern, dem Kind nicht das Gefühl zu geben es sei irgendwann für die Pflege seiner Schwester oder seinem Bruder verantwortlich (vgl. Achilles 2002, S. 91).

Mir persönlich erscheint es einleuchtend, dass man die Entwicklung des Kindes nur unter Beachtung aller Einflussfaktoren beurteilen kann und das die Tatsache, ein behindertes Geschwisterkind zu haben natürlich viele Umstände und zusätzliche Belastung für die Familie mit sich bringt, es aber nur eine von vielen Faktoren ist die die Entwicklung beeinflussen. Ich denke es ist wichtig, dass Familien sich informieren und sich bewusstmachen, was es für ihr gesundes Kind bedeuten kann, in so einem Umfeld aufzuwachen. Wenn das Umfeld, also das Familienklima etc., stimmt, dann müssen sich die Eltern aber auch nicht zu große Sorgen machen, da in einem sicheren und liebenden Umfeld Kinder viele Schwierigkeiten von alleine überwinden können und sich gut an neue oder ungewohnte Umstände anpassen können. Ich stehe den defizitorientierten Forschungen eher kritisch gegenüber, denn meiner Meinung nach machen sie Angst vor einer möglichen Entwicklungsbehinderung, die Eltern von einem gesunden und einem behinderten Kind dazu verleiten könnte zu sehr in dieser Angst zu versinken und zu vergessen und gegen etwas anzukämpfen, was vielleicht oder sogar wahrscheinlich gar nicht da ist.

Das Buch eignet sich meiner Meinung nach sehr für Studierende sämtlicher Erziehungswissenschaften, weil hier ein zu selten bedachtes Thema betrachtet wird. Außerdem ist es lesenswert für Eltern behinderter Kinder, Geschwister von behinderten Kindern und allen Personen, die sich mit diesen Menschen umgeben.