Ich fliege mit zerrissenen Flügeln

  • Verlag: Fontis – Brunnen Basel
  • Seitenzahl: 176
  • 2014
  • ISBN-13: 9783038480082
  • Autor: Raphael Müller

 

Dieses Buch wurde geschrieben von einem heute 14-jährigen Jungen. Raphael ist wegen eines vorgeburtlichen Schlaganfalls Autist und Epileptiker, kann nicht reden, sondern nur Laute von sich geben. Seit der Geburt sitzt er schwerstbehindert im Rollstuhl, hat aber einen enormen IQ, ist gläubig und konnte – ohne Unterricht – bereits als Kleinkind lesen und schreiben, was man aber erst herausfand, als er etwa 6 Jahre alt war. Bis dorthin glaubten alle, auch die Ärzte, er sei richtiggehend „blöde“. Dank gestütztem Schreiben (was das genau ist habe ich am Ende noch einmal erläutert) kann er nun, seit er 7 ist, Gedichte und ganze Romane schreiben, geht aufs Gymnasium und wird oft auch an die Universität Augsburg eingeladen, wo er sich von den Studenten „interviewen“ lässt.

In 6 Kapiteln berichtet Raphael von seiner Perspektive, und wie er das Leben so wahrnimmt. Dass es eben nicht einfach ist, und dass er mitunter auch stolz war, dass er schon sehr früh lesen konnte, weil er sich das selbst angeeignet hat. Denn für die Mitmenschen nach außen hin macht er nur komische Geräusche, kann gut und gerne auffallen und nur durch das schreiben kann er sich wirklich ausdrücken.

Auch liest man von seiner Mutter und wie sie das alles wahr genommen hat, was sie empfindet und im Anschluss findet man noch auf fast 20 Seiten ein paar Worte von Menschen, wie sie Raphael wahr genommen haben.

Es ist recht spannend, seine Welt zu erkunden, wenn auch nur am Rande. Dazu fand ich es faszinierend, dass es eben nicht immer so ist, dass das Unscheinbare auch unscheinbar ist, sondern das gerade dem Unscheinbaren eine tragende Rolle zugeteilt kommt.

Was mir noch etwas fehlte, ist dass Raphael oder am besten seine Mutter das Thema Unterstütztes Schreiben näher erläutert, dabei bewusstmacht, auf was es ankommt und wie es wirklich für sie ist.

Er erzählt sehr ausführlich von seinem Werdegang, seinen frühkindlichen Erinnerungen, seiner Schullaufbahn, seinen Auszeichnungen und Erfolgen, seinen Gedanken, aber auch von seinen Schmerzen und seinen schlechten Tagen.

Es ist sehr interessant zu lesen, dass sehr viele Menschen hinter Raphael stehen und wie er durch sein Engagement und seine vielschichtigen Interessen mit den unterschiedlichsten Personen in Kontakt kommt und sich für Themen wie Inklusion einsetzt. Die Hartnäckigkeit der Eltern und ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten haben ihm den Unterricht am Gymnasium ermöglicht. Er wünscht sich, dass auch andere diese Chancen bekommen.

Es ist ein Buch, das uns den Wert von Inklusion näherbringt und uns auch hier und da über A-Typischen Autismus aufklärt.

„Ein Buch, durch das ich nicht nur die Geschichte Raphaels kennen lernen durfte, sondern dass eindringlich nicht nur mir klar macht, dass man niemanden unterschätzen sollte, dass man nicht nur nach Schein und Sein beurteilen darf, dass man hinterfragen sollte und vor allem niemanden ausgrenzen darf. Weder Behinderte, noch Alte, noch sonst einen Menschen. Daher fordert Raphael vehement und zu Recht mehr Inklusion statt Ausgrenzung. Trotz aller Schmerzen und großen körperlichen Einschränkungen hat er den Blick fest nach vorne gerichtet, bleibt fest in seinem Glauben und denkt positiv. In unserer meist gesunden, ach so schnelllebigen Zeit, wo wir oftmals wie blind durch unseren Tag stolpern, ist seine Geschichte ein großer Ansporn für Veränderungen.“ (vielleser18: https://wasliestdu.de/rezension/beeindruckend-beruehrend-und-vor-allem-oeffnet-es-die-augen)

 

Raphael erzählt im Buch nicht nur sein Leben.  Er erlaubt mir als Leser einen Blick in seine besondere autistische Welt, eine Welt, die einem normalerweise verschlossen ist. Es ist eine andere Art der Wahrnehmung.

Hier zum Schluss noch mal eine kurze Info zum Thema Gestützte Kommunikation, weil ich das sehr interessant finde und falls sich jemand auch näher darüber informieren möchte, dann kann er das auf der untenstehenden Website.

 

Gestützte Kommunikation (Facilitated Communication)

Definition FC / Zielgruppe

FC ist eine Vorgehensweise, Menschen mit spezifischen Beeinträchtigungen angemessenes und zuverlässiges Nutzen von alternativen und sprachergänzenden Kommunikationsmaterialien zu ermöglichen.

Zielgruppe von FC sind Menschen, die in der Planung und Ausführung von zielgerichteten Handlungen beeinträchtigt sind. Für eine gelingende Kommunikation sind sie – neben den erforderlichen kommunikativen und interaktiven Hilfestellungen – auch auf eine physische Hilfestellung (Stütze) angewiesen.

Mit FC bezeichnen wir eine Unterstützung auf der Handlungsebene, die das zielgerichtete Zeigen auf Kommunikationsmaterialien erleichtern kann. Der Bedarf an physischer Hilfestellung muss je nach Situation neu eingeschätzt werden: „So wenig wie möglich! So viel wie nötig!“

(fc-netz.de/fc_netz/gestuetzte_kommunikation.html)

 

verbindlicher Ganztag mit jahrgangsübergreifendem Unterricht

In diesem Blog möchte ich euch gerne meine Praktikumsschule vorstellen, da ich das Schulkonzept ganz interessant und spannend finde.

Die Amerikanische Schule in Bremerhaven ist eine gebundene Ganztagsschule. Aktuell zählt die Schule über 200 Schüler und Schülerinnen. Dazu kommen Lehrpersonal: elf Grundschullehrer und -lehrerinnen, zwei Sonderschulpädagoginnen davon eine ZUP Koordinatorin. Das pädagogisches Personal umfasst: fünf Erzieher und Erzieherinnen, drei pädagogische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie externe Förderkräfte:  eine Logopädin, zwei Ergotherapeutinnen / Psychomotorik und ggf. Honorarkräfte. Zeitweise sind unter anderem Referendare und Referendarinnen sowie Praktikanten und Praktikantinnen anwesend.

Die Schüler und Schülerinnen werden in fünf Klassenfamilien jeweils 1/2 und fünf Klassenfamilien jeweils 3/4 unterrichtet. Durch veränderte Tagesstrukturen in einer Ganztagsschule entsteht ein anders gestalteter Ablaufplan sowohl für unterrichtliche Tätigkeiten, als auch für das soziale Lernen.
Es wird versucht den Kindern ein möglichst ausgewogenen Rhythmus aus Belastungs- und Entlastungsphasen anzubieten und darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten des Förderns und Forderns innerhalb des Ganztagsschulbetrieb zu bieten.

Um 7.00 Uhr beginnt die Frühbetreuung mit einem Frühstücksangebot. Die Ganztagsschule endet um 16.00 Uhr mit der Spätbetreuung. Die gebundene Kernzeit beginnt um 7.45 Uhr und endet um 15.30 Uhr. Alle Kinder der Schule nehmen am Unterricht, an den Kursangeboten in der Mittagszeit und am Mittagessen verpflichtend teil.
Die Mittagspause ist auf zwei Stunden ausgedehnt, damit die Kinder auch in den nachmittäglichen Unterrichtsstunden wieder belastbar sind, allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass trotzdem viele der Kinder gerade in der Schuleingangsphase weniger motiviert sind am Nachmittag und auf den Schulschluss hinfiebern. Dementsprechend bin ich der Meinung, man sollte in den Nachmittagsblöcken meiner Meinung nach keine neuen Inhalte in Mathe und Deutsch einführen, sondern sowas immer auf den Vormittag legen.

Die Früh- und Spätbetreuung ist ein freiwilliges Angebot. Am Montag- und Freitagnachmittag gibt es ein freiwilliges Kursangebot für die Zeit ab 14:00 Uhr. So haben Eltern die Möglichkeit, mit ihren Kindern auch am frühen Nachmittag etwas zu unternehmen bzw. bestimmte Termine oder Veranstaltungen wahrzunehmen.

Momentan ermöglicht die Schule in der Wiw-Zeit (Was-ihr-wollt-Zeit) Angebote in den unterschiedlichsten Bereichen zu nutzen. Dabei können die Kinder unteranderem aus folgenden Möglichkeiten wählen: Schulhof, Schulgarten, Bibliothek, Spieleraum, Ruheraum, Computerraum, Basteln, Tanzen, Entspannung, Fußball, Sport aller Art.  Es wird ermöglicht, dass Kinder aus den 1. und 2. Klassen an einem Förderangebot teilnehmen können. Hierbei handelt es sind unter anderem um Sprachspaß, logopädische Förderung, ergotherapeutische Förderung, psychomotorische Förderung und sozial-emotionale Förderung. Die Kinder wählen auch ein festes Angebot aus. In der Klassenfamilie 1/2 mindestens ein Angebot, in den Klassenfamilien 3/4 mindestens zwei feste Angebote pro Woche. Diese Angebote laufen in der Regel über 1/3 des Schuljahres  (z.B.: Theater, Erlernen eines Instruments, Sportangebote). Des Weiteren gibt es noch das Lernbüro. Hierbei handelt es sich um eine freiwillige Übungszeit. Dort können Kinder noch nicht geschaffte Übungen nachholen. ( vgl. Konzept für eine gebundene Ganztagsschule, S. 6 ff.) Hausaufgaben gibt dann natürlich keine mehr.

Ich muss sagen, dass das Arbeiten in einer Jahrgangsübergreifenden Klasse mir sehr viel Spaß gemacht hat. Ich hatte den Eindruck, dass das Patensystem dort sehr gut funktioniert und die Lehrerin in der Klasse, in der ich war, hat es auch sehr schön hinbekommen, wie ich finde, gut auf beide Altersgruppen einzugehen.

Außerdem war das Kollegium und die Schulleitung sehr offen und freundlich und hätte sicher nichts gegen Hospitationen, um mal so ein Ganztagskonzept kennen zu lernen. 😉

…und um mich kümmert sich keiner

Buch von Ilse Achilles: …und um mich kümmert sich keiner. Situation von Geschwistern behinderter Kinder

Autorin

Ilse Achilles ist in München Journalistin. Sie ist Mutter eines Sohnes, der über einen Förderschwerpunkt in der geistigen Entwicklung verfügt, und zweier Töchter. Sie hat mehrere Fachbeiträge verfasst und ist Vorsitzende des Angehörigenbeirats der Lebenshilfe München.

 

Inhalt

Es geht um die Lebenserschwernisse und die Bereicherungen des Lebens der Kinder, die eine behinderte Schwester oder einen behinderten Bruder haben. Dies geschieht unter anderem auf der Auswertung eigener Erfahrungen und in Bezug auf einige wichtige Studien von Waltraud Hackenberg zur psychosozialen Situation der Geschwister behinderter Kinder in Deutschland. Es werden auch mehrere Erfahrungsberichte von betroffenen Geschwistern und eine Einschätzung welche Einflussfaktoren die Einstellung und die Beziehung der Eltern haben angeführt.

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Geschwister sind Bestandteil vieler Familien und nehmen eine nicht zu vernachlässigende Position im Leben der jeweils anderen Geschwister ein. Sie haben großen Einfluss auf die Entwicklung der Geschwister und wie sich ein Geschwisterkind auf diese auswirkt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Zu berücksichtigen sind bei einer Betrachtung von solchen Einflüssen zum Beispiel die Altersdifferenz, die Geschwisterzahl und das Geschlecht.

In vielen Veröffentlichungen wird die Annahme vertreten, dass Geschwister behinderter Kinder verschiedenen Gefährdungen und Belastungen ausgesetzt sind und deren Entwicklung durch die häufig erschwerte Lebenssituation stark gefährdet wird (vgl. Hackenberg 2008).

Es wird aber nach neueren Erkenntnissen auch deutlich, dass sich auch positive Entwicklungsverläufe aus einer solchen Situation ergeben können und sich Verhaltensauffälligkeiten o.ä. nicht zwangsläufig auf das Zusammenleben mit einem behinderten Geschwister zurückführen lassen, sondern auch andere Gründe haben können.

Ein Zitat von einem betroffenen Geschwister spiegelt meiner Meinung ganz gut wieder, dass es sich oft um einen Zwiespalt von positiven und negativen Aspekten handelt.

 „Na klar ist es geil, wenn mein Bruder mal ein Wochenende weg ist und die ganze Familie Ruhe hat, das ist wie Ferien. Na klar habe ich mir oft Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn er in ein Heim ginge und wir unsere Ruhe hätten, na klar musste ich schon oft auf irgendwas verzichten, weil mein Bruder die volle Aufmerksamkeit brauchte, und es gab auch ‘ne Zeit, wo ich mich geschämt habe, neue Freunde mit zu mir nach Hause zu nehmen, weil ich nicht wollte, dass die mitkriegen, wie es bei uns zugeht. Aber es gab ja auch viele Vorteile. Ich habe, glaube ich, mehr Freiheit, meine Alten haben gar nicht so viel Zeit alles zu kontrollieren, ich kann viel mehr als die meisten Schulfreunde alleine entscheiden, und ich kann mich schief lachen, wenn ich sehe, wie die Leute Angst vor Behinderten haben. Die haben eben einfach keine Ahnung. Vielleicht ist die Angst der Leute vor Menschen wie meinem Bruder das eigentliche Problem. Wenn aber alle ein bisschen Kontakt zu behinderten Leuten hätten, gäb’s bestimmt weniger Probleme. Dann wäre das nämlich alles einfach normal.“ (zit. n. Heimbold 2008, S. 14)

Achilles stellt ein paar Leitpunkte auf, nach welchen sie die Entwicklung eines Geschwisterkindes als gelungen einschätzen würde. Eine positive Entwicklung würde folglich gelungen sein, wenn das Geschwisterkind eine überwiegend positive Beziehung zu dem behinderten Kind hat und sicher im Umgang mit ihm agiert. Sie sagt, es ist wichtig, dass sich das Kind gegenüber seinem Geschwister abgrenzen kann, wenn es nötig ist und in der Lage ist, auch negative Gefühle in Zusammenhang mit dem Bruder oder der Schwester ohne Reue empfinden und auch äußern kann. Es muss seine Schamgefühle in der Öffentlichkeit mit dem behinderten Kind gesehen zu werden überwunden und ein positives Selbstbild entwickelt haben. Einer der wichtigsten Punkte nach Achilles für eine ungehemmte Entwicklung eines Geschwisters von einem behindertem Kind ist, dass es sich abgrenzen und seine Zukunft unabhängig von dem behinderten Kind planen kann. Hier liegt auch eine Wichtige Aufgabe der Eltern, dem Kind nicht das Gefühl zu geben es sei irgendwann für die Pflege seiner Schwester oder seinem Bruder verantwortlich (vgl. Achilles 2002, S. 91).

Mir persönlich erscheint es einleuchtend, dass man die Entwicklung des Kindes nur unter Beachtung aller Einflussfaktoren beurteilen kann und das die Tatsache, ein behindertes Geschwisterkind zu haben natürlich viele Umstände und zusätzliche Belastung für die Familie mit sich bringt, es aber nur eine von vielen Faktoren ist die die Entwicklung beeinflussen. Ich denke es ist wichtig, dass Familien sich informieren und sich bewusstmachen, was es für ihr gesundes Kind bedeuten kann, in so einem Umfeld aufzuwachen. Wenn das Umfeld, also das Familienklima etc., stimmt, dann müssen sich die Eltern aber auch nicht zu große Sorgen machen, da in einem sicheren und liebenden Umfeld Kinder viele Schwierigkeiten von alleine überwinden können und sich gut an neue oder ungewohnte Umstände anpassen können. Ich stehe den defizitorientierten Forschungen eher kritisch gegenüber, denn meiner Meinung nach machen sie Angst vor einer möglichen Entwicklungsbehinderung, die Eltern von einem gesunden und einem behinderten Kind dazu verleiten könnte zu sehr in dieser Angst zu versinken und zu vergessen und gegen etwas anzukämpfen, was vielleicht oder sogar wahrscheinlich gar nicht da ist.

Das Buch eignet sich meiner Meinung nach sehr für Studierende sämtlicher Erziehungswissenschaften, weil hier ein zu selten bedachtes Thema betrachtet wird. Außerdem ist es lesenswert für Eltern behinderter Kinder, Geschwister von behinderten Kindern und allen Personen, die sich mit diesen Menschen umgeben.