1. Die Pluralisierung und Heterogenität der Lebensformen und Lebensbedingungen in der Gesellschaft sind ein Fakt. Wie kann Schule dem begegnen? Mich hat der in der Vorlesung behandelte Diversity-Ansatz angesprochen. Er stellt eine Weiterentwicklung der Ausländer-, Interkulturellen und Antirassistischen Pädagogik dar. Bei der Diversity Education findet eine Ausweitung der Heterogenitätsdimensionen statt um Dimensionen wie Gender, Beeinträchtigungen, soziale Lage. Dabei wird der Fakt der Heterogenität angenommen, wobei nicht die Differenzen im Fokus stehen, sondern ein Schwerpunkt auf die Gemeinsamkeiten gelegt wird bei einem gleichzeitigen Bewusstsein für die unterschiedlichen Voraussetzungen, wie in der Vorlesung dargelegt wurde. Dies ist in meinen Augen eine wichtige Grundhaltung als Lehrerin. Der Ansatz der Diversity Education steht in meinen Augen auch der Idee der Inklusion sehr nahe:
„In einer humanen Gesellschaft erfährt jeder Mensch mit seinen individuellen Eigenschaften, Interessen und Bedürfnissen Anerkennung und Wertschätzung und erhält die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Jede Form der Exklusion wirkt einem friedlichen, sozialen und humanen Zusammenleben entgegen. Inklusive Bildung ist ein wichtiger Baustein für die Entwicklung einer Gesellschaft, in der in dieser Weise Vielfalt gelebt und jedem Menschen die Chance auf Teilhabe gewährt wird. […] Danach bedeutet inklusive Bildung, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale entwickeln zu können, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen.“ (Resolution der 77. Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission, 2017)
Diversity Education und Inklusion können vielleicht insofern verknüpft werden, als dass Inklusion als Ziel verstanden werden und Diversity Education ein Weg bzw. eine Haltung auf dem Weg dorthin darstellen kann. Ähnlich bewertet dies auch Annedore Prengel (2013): „Inklusive Pädagogik hat mit verwandten internationalen Ansätzen – wie zum Beispiel Diversity Education, Menschenrechtsbildung und antirassistischer Erziehung – gemeinsam, dass sie auf den menschenrechtlichen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität beruht. Freiheit meint immer zweierlei: Befreiung aus Unfreiheit und Freiheit für vielfältige Lebensweisen.“ (Prengel 2015, S.5)
Sowohl Schule als auch Gesellschaft sind in meinen Augen aber noch weit von dem Ideal der Inklusion entfernt. Es hat den Anschein, als solle die Schule hier eine Vorreiter-Rolle zur Veränderung der Gesellschaft einnehmen. In keinem anderen gesellschaftlichen Feld ist der Versuch, Inklusion zu ermöglichen so weitreichend umgesetzt wie im schulischen. Es scheint mir eine zentrale Frage, ob die Schule es leisten kann, eine solche gesellschaftliche Veränderung zu bewirken. Nach Helma Lutz und Norbert Wenning (2001) bilden Differenzlinien die Grundlage der Organisation moderner Gesellschaften. Diese Differenzlinien sind soziale Konstruktionen, die der Logik der Grunddualismen folgen und hierarchisch funktionieren. Kategorien sind dabei Geschlecht, Sexualität, Hautfarbe, Alter, Gesundheit, Besitz, Klasse und viele weitere (vgl. Lutz, Wenning 2001, S. 20). Die Zusammenhänge und Machtgefüge sind hier so komplex, dass es einen als LehrerIn in meinen Augen eigentlich nur überfordern kann, der Vielfalt gerecht zu werden und die Ungleichheitsstrukturen zu durchbrechen.
In der Ringvorlesung ebenso wie in den Veranstaltungen der Fachdidaktiken ist deutlich geworden, dass ein zentraler Diskurs in den Erziehungswissenschaften gerade um das Thema Bildungssprache bzw. konzeptionelle Schriftlichkeit kreist. Dem Erwerb der Bildungssprache, die sich in Komplexität, Abstraktionsniveau und Wortschatz stark von der Alltagssprache unterscheidet, wird eine entscheidende Bedeutung für den Erfolg in Bildungsinstitutionen beigemessen. Entsprechend werden Konzepte entwickelt, welche bei der Sprachförderung bereits im Kindergarten ansetzen, um die Sprachentwicklung der Kinder soweit zu fördern, dass sie mit Schulbeginn bessere Voraussetzungen haben, im Umgang mit Bildungssprache kompetent zu werden bzw. zu sein. Interessanterweise wurden sowohl in der Mathedidaktik (Projekt Enter, vgl. Böning 2017) als auch in der Deutschdidaktik (Familiy Literacy, vgl. Nickel 2007) solche Konzepte entwickelt und vorgestellt. Dass die Sprachkompetenz eine wichtige Grundlage für das schulische Lernen ist, war mir bewusst. Dass ihre Bedeutung für den Mathematikunterricht ebenso entscheidend ist, wie für den Deutschunterricht und andere sprachorientierte Fächer, war für mich neu. Interessant fände ich, inwieweit diese Ansätze der frühen Förderung des Bildungsspracherwerbs über die Fächergrenzen hinweg verknüpft werden. Ebenfalls würden mich die Erfolge der Konzepte interessieren.
2. Dass Konzepte zur vorschulischen Sprachförderung in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion einen wichtigen Stellenwert einnehmen, liegt meiner Meinung nach an einer eindeutigen praktischen Relevanz. Die sprachlichen Kenntnisse, die Kinder in der ersten Klasse mitbringen sind sehr unterschiedlich. Insbesondere bei Kindern, die aus anderen Ländern zugezogen sind, stellt sich die Frage, wie allgemeinsprachliche und bildungssprachliche Kompetenzen zu vermittelt werden können. Hier bestehen unterschiedliche Konzepte schon innerhalb Bremens nebeneinander: von gesonderten Sprachlernklassen, über dem Unterricht vorgelagerten Sprachunterricht bis zur Inklusion von Kindern ohne Deutschkenntnisse in Standartschulklassen.
Eine weitere in der Praxis sehr relevante Heterogenitätsdimension ist die Leistungsheterogenität. Um dieser Rechnung zu tragen, wurde in Bremen das Kompolei-Modell (kompetenzorientierte Leistungsrückmeldung) entwickelt. Zentral ist hierbei eine Kompetenz- statt Defizit-Orientierung, eine individuelle und kontinuierliche lernstandbezogene Rückmeldung sowie eine dialogische Form. Ob dieses Modell der Beurteilung von Leistungen von heterogenen Lerngruppen gerechter wird, kann ich noch nicht beurteilen.
3. Die Ringvorlesung konnte viele Themen nur anreißen. Mich würden zum einen Themen eher aus praktischer Perspektive interessieren, gerne auch best practise Berichte von und im Austausch mit Praktikerinnen. Hier würden mich konkrete Erfahrungen mit der Inklusion und ebenfalls der Umgang mit Leistungsheterogenität interessieren. Ich stelle mir mit Praktikerinnen einen produktiven Austausch über Wege, Möglichkeiten und Grenzen vor; weniger normativ als in der Theorie, sondern ganz ehrlich, runtergebrochen und pragmatisch. Des Weiteren würde mich das Thema „Armut“ interessieren, da Kinderarmut besonders in Bremen ein sehr relevantes Thema ist. Hier finde ich sowohl eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema als auch das Entwickeln einer Haltung wichtig (wie gehe ich konkret mit Armut um: Bringe ich Brot mit für Kinder, die Zuhause kein Frühstück erhalten? Thematisiere ich mit Kindern Armut? Etc.).
Ebenfalls würde mich eine theoretische Auseinandersetzung zu dem unter Fragestellung 1 aufgeworfenen Spannungsfeld „inklusive Schule in einer nicht-inklusiven Gesellschaft“ interessieren, kann das funktionieren und was soll und kann Schule bewirken…
4. Wie vermutlich in meinen Ausführungen deutlich geworden ist, sehe ich viele der aufgeworfenen Aspekte als große Herausforderung. Da ich mich erst im zweiten Semester befinde, hoffe ich sehr, dass ich im weiteren Verlauf des Studiums einige Antworten auf meine Fragen und Befürchtungen finden werde. Ich denke, dass sowohl eine theoretische Auseinandersetzung auch im Austausch mit KommilitonInnen wichtig ist, als auch das Lernen in der Praxis. Im besten Fall begegnen mir nun schon in meinem Orientierungspraktikum LehrerInnen, die den vielfältigen Herausforderungen kreativ und kompetent begegnen und von denen ich lernen kann.
Literatur:
- Bönig, D./ Thöne, B. (2017): Integrierte Förderung von Mathematik und Sprache in Kita und Familie. In Schuler, S., Streit, C. & Wittmann, G. (Hrsg.). Perspektiven mathematischer Bildung im Übergang vom Kindergarten zur Grundschule. Wiesbaden, S. 27-40
- Lutz, H./ Wenniger, N. (2001): Differenzen über Differenz – Eine Einführung in die Debatte – IN: Lutz, H./ Wenniger, N. (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden, Differenzen in der Erziehungswissenschaft, Opladen, S. 11-24
- Nickel, S. (2007). Family Literacy – Familienorientierte Zugänge zur Schrift. – IN: Panagiotopoulou, A./Carle, U. (Hrsg.). Sprachentwicklung und Schriftspracherwerb, Baltmannsweiler, S. 71-83
- Prengel, A. (2013): Inklusive Bildung in der Primarstufe – Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes, Frankfurt, https://grundschulverband.de/wp-content/uploads/2017/01/prengel_kurzfassung.pdf
- Resolution der 77. Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn (2017), https://www.unesco.de/node/1728