Promotionsprojekt mit dem Arbeitstitel:
„Stadt als Archipel“
Ziel des geplanten Forschungsvorhabens soll es sein, die Perspektiven derjenigen in den Blick zu nehmen, über die im medialen Diskurs zwar gesprochen wird, die in der Regel selbst jedoch nur selten zu Wort kommen, entweder, da ihnen aufgrund ihrer Außenseiterposition in der Gesellschaft der Zugang zu bestimmten Diskursen nicht gewährt wird oder sie aufgrund ihrer rechtlichen Situation gerade in der Anonymität Schutz suchen: die irregulären Einwanderer_innen, im französischsprachigen Kontext häufig als Sans-papiers bezeichnet. Um die Perspektive letzterer soll es im Sinne einer Diskurserweiterung in dem hier vorgestellten Forschungsvorhaben gehen und zwar spezifisch im Hinblick auf ihre Wahrnehmung der Metropole Paris, wie sie in literarischen und dokumentarischen Texten artikuliert wird. Das Erkenntnisinteresse richtet sich darauf herauszufinden, welche (Über)Lebensstrategien Menschen verfolgen, die qua ihrer Anwesenheit bereits gesellschaftlich und rechtlich exkludiert sind, und wie sie aus dieser Randposition heraus die vor der Migration bzw. Flucht in vielen Fällen als Eldorado erträumte Stadt wahrnehmen. Es geht folglich um eine Auseinandersetzung mit der Stadt Paris aus einer marginalisierten Perspektive, sozusagen mittels eines Blicks „von unten“: Wie wird die Stadt imaginiert und inwiefern dient sie selbst als Imaginations-, Handlungs- und womöglich gar Potenzialraum – auch zur eigenen Identitätskonstruktion und Selbstbehauptung? Welche urbanen Räume besetzen Menschen, die um keinerlei Umständen auffallen dürfen? Welcher (literarischer) Erzählweisen bedienen sie sich, um das inhärent widersprüchliche Verhältnis zwischen (aufgrund von Habitus oder auch Hautfarbe häufig geradezu extremer) Sichtbarkeit und erzwungener Un-/Durchsichtbarkeit deutlich zu machen? Diese und weitere Fragen, die allesamt von hoher gesellschaftlicher Relevanz und Brisanz sind, werden in der folgenden Fragestellung, die die zentrale Leitfrage der Arbeit darstellt, gebündelt: In welcher Relation stehen Selbst- und Stadtwahrnehmung bzw. -beschreibungen im Text? Die doppelte Perspektive auf Identitätskonstruktionen einerseits und Stadtbeschreibungen andererseits fußt auf der anhand der ausgewählten Texte zu überprüfenden Hypothese, dass sich sowohl die städtische als auch die identitäre Verortung durch ein Moment der Vagheit bzw. der Unbestimmtheit auszeichnen, das aus der Position der Sans-papiers im sozialen Feld resultiert und verschiedene Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Von besonderem Interesse ist hierbei neben der inhaltlichen insbesondere auch ihre formal-ästhetische Umsetzung. Das „sans“, das die Sans-papiers mit so vielen anderen „sans“-Identitäten teilen (les sans-emploies, les sans domicile fixe,…), richtet das Augenmerk auf die im öffentlichen Diskurs getätigte Zuschreibung einer „identité déficitaire“: Das Spezifische einer an sich sowohl kulturell als auch sozial sehr heterogenen Gruppe definiert sich hier durch ein Defizit und somit in klarer Abgrenzung zu einer Gruppe, der s.g. Mehrheitsgesellschaft, deren Besitz (von Papieren, Arbeit, einer Wohnung) die gesellschaftliche Norm bildet. Überlegungen zum Begriff der Vagheit sowie Versuche der Definition legen es nahe, den Blick insbesondere auf Grenzfälle, so genannte „borderline cases“ (Sorensen 2016) zu richten – sowohl in Bezug auf die dargestellten Räume als auch die Identitäten.