Diese empirischen Vignetten gehören zum Beitrag über die Horner Spitze.
Empirische Vignette 1: Beobachtungsprotokoll des Stalldienstes
Wir treffen uns am Mittwoch, den 12. Juni, um 8:40 Uhr mit Jc. an der Straßenbahnhaltestelle Riensberg und laufen durch die Kleingartenanlage zum Gelände des Vereins „Kinder, Wald und Wiese e.V.“. Jc. ist Stalldiensthelferin im Verein und übernimmt einmal in der Woche den Morgendienst für die Tiere des Vereins. Sie ist an dem Tag etwas später dran als sonst, denn normalerweise beginnt sie den Stalldienst schon um 8:30 Uhr. Der Wetterbericht für den Tag ist durchwachsen, aber noch ist es trocken. Nach dem Eingangstor und einem Fahrradstellplatz muss man zunächst eine Schneise aus Schlamm durchqueren, auf der Fernwärme-Bauarbeiten stattfinden. Aber auch das aktuelle Vereinsgelände wird von Schlamm dominiert. Abgesehen von den Wiesen- und Weideflächen sind alle Wege, Pferdekoppeln und der Reitplatz nass und schlammig. Jc. trägt hohe Reitstiefel und Kleidung, die dreckig und nass werden kann, außerdem Handschuhe. Wir legen unsere Sachen weg und beginnen mit der Vorbereitung des Pferdefutters. Das Futter wird in einem kleinen Holzhaus gelagert, zu dem jede:r auf dem Gelände Zugang hat. An den Wänden hängen Anleitungen zur Fütterung der verschiedenen Tiere und eine To-Do-Liste mit allen Aufgaben des Stalldienstes.
Die ältesten drei Pferde, Jack (28 Jahre), Barbette (28 Jahre) und Charly (über 30 Jahre) werden zugefüttert, weil sie mehr Nährstoffe brauchen als die jüngeren Pferde, welche hauptsächlich Heu und Gras fressen. Die Bottiche zum Anmischen des Futters liegen noch auf einem kleinen Stück Wiese zum Trocknen vom Vortag. Wir füllen die Bottiche mit Wasser aus Kanistern auf und mischen es mit Heucobs (gepresstem Heu) an. Da das Einweichen der Heucobs einige Zeit braucht, nehmen wir drei Halfter und machen uns auf den Weg zur Koppel, auf der Jack, Barbette und Charly stehen. Wir wollen sie zum Füttern von der Koppel holen und in der Nähe des Holzhauses anbinden. Die Pferde stehen auf einer Koppel mit mehreren Unterstellmöglichkeiten; auch dort ist der Boden sehr matschig. Wir legen Barbette und Charly ihre Halfter an und bemerken, dass Jacks Halfter kaputt ist. Jc. beschließt, die Pferde an dem Tag auf der Koppel zu füttern, das Futter also zur Koppel zu bringen. Wir binden Barbette und Charly für die Zwischenzeit am großen Heunetz auf der Koppel an. Barbette sei lieber allein, erzählt Jc., weswegen wir sie gegenüber von Charly anbinden. Eine Besonderheit ist hier, dass wir zum Anbinden der Pferde den üblichen Pferdeknoten binden, jedoch die letzte Schlaufe nicht mehr durchziehen. Jc. erklärt, dass so der Strick nicht nur für den Menschen schnell zu lösen ist, sondern sich das Pferd auch im Notfall selbst lösen könne. Auf dem Rückweg von der Koppel gehen wir an den Ziegen vorbei. Die Ziegenkoppel besteht aus einer kleinen Wiese mit einem Haus und einem alten Bauwagen als Unterschlupf, Haus und Bauwagen sind mit Streu ausgelegt.
Plötzlich fängt es an, stark zu regnen. Jc. macht sich Sorgen um die Pferde, weil sie noch angebunden sind und sich nicht unterstellen können. Sie sagt, wir können noch maximal 5 Minuten warten, dann müssen wir zur Koppel rennen und sie losbinden. Wir bereiten das Futter für die drei „Rentner“-Pferde zu Ende vor, jedes bekommt neben Heucobs noch verschiedenes Kraftfutter. Während der Vorbereitungen sprechen wir mit Jc. darüber, ob sie für ihre Arbeit als Stalldiensthelferin entlohnt wird. Sie erzählt, dass sie ehrenamtlich vor Ort ist, jedoch eine Aufwandsentschädigung von 10€ pro Stunde bekommt, und fügt hinzu, dass die 2€, die bis zum Mindestlohn fehlen würden, für sie durch die Freude an den Tieren wettgemacht werde. Bevor wir das Pferdefutter zur Koppel bringen, füttern wir noch die Katze, die auf dem Vereinsgelände wohnt. Wir strecken ihr unsere Hände entgegen, aber sie faucht uns an. Zunächst müssen wir noch die Futterschale der Katze spülen. Dafür nutzen wir das Wasser aus einer Regentonne, die über die Regenrinnen des Holzhauses gefüllt wird. Die Katze bekommt Dosenfutter, bestehend aus Magen und Leber. Während der Fütterung ist die Katze zutraulicher zu uns. Jc. holt zwei Schubkarren, um die Futterbottiche zu den Pferden zu transportieren, da diese zum Tragen zu schwer sind.
Eine Person von uns muss die Toilette aufsuchen. Dafür muss man den Reitplatz und dann eine der Pferdekoppeln überqueren. Also: Sich durch den Zaun bücken und direkt an den Pferden vorbeigehen, die einem neugierig entgegentrotten. Es handelt sich um eine Komposttoilette, ein laminiertes Schild erklärt, wie diese zu benutzen ist. Jc. erklärt später, dass der einzige Wasserzugang auf dem Gelände ein Brunnen ist, aus dem elektrisch das Wasser hochgepumpt wird, Anbindung an das Abwassersystem gibt es keine. Das Brunnenwasser sei zwar getestet und unbedenklich, da es aber gelblich gefärbt ist, würde es von einigen Aktiven im Verein mit Skepsis behandelt werden. Das Pferdefutter beispielsweise wird stattdessen mit Wasser aus einem gemeinschaftlichen Wasserhahn des Kleingartenvereins angemischt.
Wir fragen Jc., wie es heute so läuft. Sie antwortet, dass ihr das wechselhafte Wetter Sorge bereitet, da die Pferde nicht lange angebunden im Regen stehen sollen. Auch macht sie sich Gedanken darüber, dass die Pferde heute etwas später als sonst ihr Futter bekommen und deshalb wohlmöglich schon sehr hungrig seien.
Wir laden die weichen Plastikeimer, die mit Futtergemisch gefüllt sind, auf Schubkarren. Die Schubkarren schieben wir über Wiese und durch Schlamm hin zur Pferdekoppel. Zwischendurch müssen Elektrozäune geöffnet und wieder geschlossen werden. Jc. merkt an, dass sie durchschnittlich bei jedem Stalldienst einen Elektroschock am Zaun bekomme. Sie erzählt auch, dass dies ihr erster Stalldienst seit 2 Wochen sei. In dieser Zeit habe sich einiges auf dem Gelände verändert. Manche Geräte liegen beispielsweise jetzt woanders, als normalerweise, was ihr nicht kommuniziert worden sei. Sie freue sich aber, wieder bei “ihren Pferdis” zu sein, und habe den Stalldienst vermisst.
Es hat fast aufgehört zu regnen, die Pferde sind nass, aber es geht ihnen gut. Nachdem Jack, Babette und Charly gefüttert sind, ist die nächste Aufgabe das Einsammeln der Pferdeäpfel auf den Koppeln, das sogenannte Abäppeln. Dafür nutzen wir eine Art Kehrschaufel sowie eine spezielle Harke. Hier kommt außerdem wieder die Schubkarre zum Einsatz, mit der die Pferdeäpfel dann zum Misthaufen transportiert werden. Insgesamt füllen wir drei Schubkarren mit Pferdemist. Jc. sagt, das Abäppeln sei die einzige Aufgabe, bei der sie z.B. nebenbei Musik oder Podcast hören könne. Alle anderen Stalldienstaufgaben würden viel Konzentration erfordern. Während wir über die Koppeln laufen, bleiben wir häufig im Matsch stecken, unser nicht ideales Schuhwerk und unsere Jacken werden dreckig.
Der Misthaufen liegt im hinteren Teil des Vereinsgeländes in Richtung der Straßenbahn. Hier verläuft auch die Schotterstraße der Baustelle, bei der Baumaterialien und Maschinen stehen. Die Baustelle ist während der gesamten Zeit im Hintergrund zu hören. Jc. selbst spricht überwiegend negativ von der Baustelle. Im Gegensatz zu den Koppeln, auf denen die Pferde stehen, ist dieser hintere Teil des Geländes nicht schlammig, sondern mit Gras bewachsen. Wir finden Hasenköttel auf der Wiese. Auf die Frage nach der “Wildnis” auf der Horner Spitze, gemeint ist damit der Abschnitt in Richtung Bahndamm, der dicht mit Büschen und Bäumen überwuchert ist, meint Jc., dass sie mit diesem Teil des Geländes nie etwas zu tun habe.
Wir sprechen über die Wetterbedingungen des Stalldienstes. Jc. sagt, dass sie bei dieser Arbeit komplett den Elementen ausgesetzt sei. Im Winter ist es kalt, dunkel und wegen der hohen Feuchtigkeit des Bodens oft glatt gefroren, und einmal habe es so stark geregnet, dass nach dem Dienst zwei ihrer Jacken durchnässt gewesen seien.
Auf dem Rückweg vom Misthaufen zum Hauptteil des Geländes fällt Jc. auf, dass eines der Shetland-Ponys auf Grund seiner geringen Größe nicht gut an sein Heu in der Traufe kommt, und schichtet ihm einen extra großen Haufen auf. Auffällig ist, dass Jc. besonders mit den Pferden häufig in einem verniedlichenden Ton – in “Babysprache” – spricht.
Die nächste Aufgabe ist, die Wasserkanister aufzufüllen. Wir laden fünf Kanister auf unsere Schubkarren und schieben diese über die schlammige Baustellen-Schneise durch das Tor und entlang eines Weges durch die Kleingartenanlage, bis zum gemeinschaftlichen Wasserhahn. Auf dem Weg dahin, neben dem Eingangstor zur Horner Spitze, befindet sich eine weitere Mistsammelstelle. Jc. erwähnt, dass sie hier auch manchmal die aufgesammelten Pferdeäpfel ablegt. Von hier können sich die Kleingärtner:innen der angrenzenden Gartenanlage den Kot als Dünger mitnehmen, gegen eine Spende in einen daneben hängenden Briefkasten. Wir füllen alle fünf Wasserkanister, wodurch sie nur noch schwer auf die Schubkarren zu heben sind. Jc. erzählt, sie nehme die Wege lieber zweimal, als die Schubkarren zu voll zu laden. Sie wolle sich nicht den Körper damit ruinieren, denn “dafür sind 10 Euro [pro Stunde] dann doch nicht genug”. Wir unterhalten uns noch einmal über die Bezahlung des Stalldienstes. Dieser gilt nicht als Job, sondern als Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung. Berechnet werden 10 Euro pro Stunde, bzw. 40 Euro pro Stalldienst, wobei Jc. anmerkt, dass sie meist mehr als die planmäßigen 4 Stunden benötigt. Die Arbeit sei jedoch zeitlich etwas flexibel, Jc. müsse z.B. nicht absolut pünktlich sein. Allerdings sei ein Stalldienst auch tagbestimmend und die körperliche Arbeit so anstrengend, dass Jc. für denselben Tag meist keine weiteren großen Aktivitäten einplane.
Mit dem frischen Wasser mischt Jc. eine neue Portion Futter für die drei ältesten Pferde an. Diese bekommen häufiger Futter, da sie Gewicht verloren haben. Mit den Schubkarren bringen wir die Futtereimer auf die Pferdekoppel.
Der letzte große Arbeitsschritt ist das Ausmisten der Ziegenställe. Eine Harke, die Jc. dafür bisher immer verwendet hat, ist nicht auffindbar, stattdessen eine andere, die laut Jc. jedoch nicht so gut funktioniert. Wir kehren Sägespäne vermischt mit Ziegenkot und Heu aus dem Bauwagen und dem Holzhaus, in denen die Ziegen leben, und laden das Gemisch wieder in Schubkarren. Im Gegensatz zu den vorherigen Fuhren sind die Schubkarren nun leichter, als wir uns wieder auf den Weg zum Misthaufen begeben. Wir merken dennoch, wie sich von den Schubkarrengriffen Schwielen an unseren Händen bilden. Das wechselhafte Wetter ist inzwischen dauerhaft auf Sonnenschein umgeschwenkt und die Temperatur gestiegen, sodass wir unsere Jacken ausgezogen haben. Wir gehen ein letztes Mal auf die Pferdekoppel, um die Futtereimer zu holen. Jc.‘s letzte Arbeitsschritte bestehen daraus, die Futtereimer zu säubern und schon neues Futter für den Stalldienst am Nachmittag vorzubereiten. An dieser Stelle verabschieden wir uns.
Die Futtereimer. Eigene Aufnahme.
Empirische Vignette 2: Go-Along Interview und Beobachtungsprotokoll der Jugendgruppe
Wir sind verabredet, an einem Treffen der Jugendgruppe teilzunehmen. Als wir das Vereinsgelände betreten, begrüßt uns Jt., welche verschiedene Kinder- und auch die Jugendgruppe leitet. Wir besuchen kurz die Kindergruppe, die vor der Jugendgruppe stattfindet und ebenfalls von Jt. betreut wird. Die Kindergruppe sitzt aufgrund des Regens in einem alten Bauwagen und malt Bilder. An diesem Tag sind drei Mädchen und ein Junge zwischen 6 und 10 Jahren vor Ort. Jt. erklärt uns, dass die Kinder in der Kindergruppe regelmäßig reiten würden, aber auch andere Dinge unternehmen, wie zum Beispiel Pferde-Putzwettbewerbe oder das Bemalen von Beschilderungen auf dem Gelände. Die Eltern der Kinder würden einen Beitrag für die Kindergruppe zahlen, da der Schwerpunkt hier auf dem Umgang mit den Pferden liege.
Jt. sagt, dass aufgrund des starken Regens noch nicht klar sei, was die Jugendgruppe heute überhaupt machen wird. Prinzipiell finden alle Treffen aber unabhängig vom Wetter statt, das sei auch Teil des naturnahen Ansatzes des Vereins. Bevor wir uns aber der Jugendgruppe anschließen, kommt B. auf dem Gelände an. Er war unsere Kontaktperson aus dem Vereinsvorstand und bietet an, uns eine Führung über das Gelände zu geben und unsere Fragen zu beantworten. Spontan entscheiden wir uns, dies als Go-Along-Interview aufzufassen, wobei wir wegen des Wetters auf eine Audioaufnahme verzichten, sondern die Begehung mit Fotos und Notizen dokumentieren.
Wir starten in der Nähe des Eingangs zum Grundstück. Im Gegensatz zu unserer Teilnahme am Stalldienst knapp eine Woche zuvor ist diese Stelle nun in einem sehr anderen Zustand. War hier vorher eine schlammige Schneise, an der noch letzte Schritte der Fernwärmebauarbeiten stattfanden, so ist diese jetzt mit Kies ausgestreut und somit halbwegs befestigt. Auf der Fläche daneben, wo ebenfalls Bauarbeiten stattfanden, wächst zwar noch kein Gras, dafür stehen dort leere Hochbeete. Diese sind unter anderem ein Projekt der Jugendgruppen, aber B. möchte sie auch für andere Gruppen, auch außerhalb des Vereins, zugänglich machen. Dafür nennt er zwei Gründe: Erstens sei das Gelände der Horner Spitze zu groß für den Verein allein, sehr viel Platz bleibe ungenutzt. Zweitens habe er die Hoffnung, dass durch zusätzliche Akteur:innen auf dem Gelände die Hürde für eine Bebauung größer wird. Die Prüfung der Horner Spitze als Gewerbefläche ist ein wiederkehrendes Thema während unseres Besuchs, die dadurch entstehende Ungewissheit im Verein für uns deutlich wahrnehmbar.
Wir gehen am Ziegengehege vorbei. Früher hat der Verein Ziegen gehalten, die als eine Art Leihgabe aus dem Bürgerpark abgegeben wurden. Die Person, die im Bürgerpark für Spezialpflege und Gesundheit der Tiere verantwortlich ist (z.B. für die Pflege der Klauen), habe sich auch um diese Ziegen gekümmert. B. erzählt, dass die Ziegen im Verein ca. 20 Jahre alt geworden seien, was viel älter wäre als Ziegen „in Gefangenschaft“ normalerweise werden. Nach dem Tod dieser Ziegen kaufte der Verein zwei neue Ziegen auf Kleinanzeigen von einer Familie ab, welche sich nicht adäquat um sie kümmern konnte. Eine dritte Ziege kam wieder aus dem Bürgerpark dazu, da diese sich dort nicht mit den anderen Ziegen verstand.
Während wir weiter über das Gelände laufen, fragen wir B. nach seiner Rolle und seinen Aufgaben im Verein. B. stellt klar, dass jegliches Engagement im Verein auf Ehrenamt basiert, auch seine Arbeit. Seiner Lohnarbeit geht B. zweiwöchentlich in einer anderen Stadt nach, somit ist er jede zweite Woche hauptsächlich mit der Vereinsarbeit beschäftigt. B. nimmt die Arbeit, die im Verein anfällt, als anstrengender und chaotischer als seine Lohnarbeit wahr und sieht die Lohnarbeit deshalb sogar als eine Art Entspannung an. Auf die Frage, was genau seine Aufgaben im Verein sind, antwortet er: „Eigentlich mache ich alles“. Als Vorstand kümmere er sich um Verwaltungs- und Koordinationsaufgaben, Finanzen und die Betreuung der Mitglieder. Er habe außerdem die Digitalisierung der Abläufe und der Bürokratie des Vereins angestoßen und führt die Kommunikation mit der Baustelle. Zusätzlich sei er viel auf dem Gelände unterwegs, übernimmt viele Arbeiten und Reparaturen. Er sei auch für den Social Media Auftritt des Vereins verantwortlich, ein Gebiet, zu dem er vorher keine Verbindung gehabt habe.
B. erzählt, dass er durch seine Tochter zum Verein gekommen sei. Diese habe eine Reitmöglichkeit gesucht, aber der Umgang mit den Pferden in einer klassischen Reitschule, die sie zunächst besuchte, schreckte sie ab. Daraufhin wurden sie auf den Verein „Kinder, Wald und Wiese“ aufmerksam. B. habe vorher keinen wirklichen Kontakt zu Pferden gehabt, er sei eigentlich kein „Pferdemensch“. Doch er begann, sich im Vorstand des Vereins zu engagieren, seit nunmehr fünf Jahren. B. erzählt, dass der Verein seit der Corona-Pandemie viele Aktive verloren habe, auch im Vorstand. Gleichzeitig sei die Nachfrage nach den Vereinsangeboten gestiegen, da die Angebote hauptsächlich im Freien und somit weniger eingeschränkt stattfinden konnten. Auch kooperiere der Verein viel mit Bildungseinrichtungen, z.B. mit einer, inzwischen allerdings geschlossenen, Schule für Sonderpädagogik. Wir fragen, wie der Verein sich finanziert. B. antwortet, dass der Verein durch die Stadt Bremen gefördert wird, außerdem durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Für Personen, die die Beiträge für die Reitstunden finanziell nicht aufbringen können, gäbe es Subventionierungen und außerdem die Möglichkeit, stattdessen mehr auf dem Gelände mitzuhelfen. Sowieso werde erwartet, dass die Eltern der teilnehmenden Kinder auf dem Gelände mithelfen. Derzeit gäbe es jedoch weniger Personen, die Interesse hätten, sich viel zu engagieren. Das läge aber auch daran, dass viele der neuen Mitglieder sich noch nicht so gut auskennen würden. Insgesamt wären jedoch vor allem an Wochenenden bis zu zehn Personen aktiv. Diese würden vor allem daran arbeiten, das Gelände aufzuwerten, Dinge zu bauen und Reparaturen durchzuführen. Dabei sei keine Perfektion gefordert, es werde viel improvisiert und ausprobiert, das Prinzip sei „trial and error“. Dass auch mal etwas kaputt gehe, sei normal. B. berichtet, dass er für viele Arbeiten auf dem Gelände einen Trecker nutzen müsse, wie zum Beispiel beim Pflügen oder zum Transport von Futter und Mist. Dabei sei er aktuell der Einzige, der diesen fahren könne, weswegen er zurzeit Jt. das Treckerfahren beibringe. Wenn sie einen Teil der Treckerarbeiten übernehmen könne, wäre das für ihn eine große Entlastung.
Während wir sprechen, laufen wir über die Pferdekoppeln und die Weide auf dem hinteren Teil des Geländes. Dahinter liegt der wild bewachsene Teil des Geländes, der uns schon bei unserem letzten Besuch aufgefallen ist. Wir sprechen B. darauf an. Er erklärt, dass bei den Wiederaufbauten der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg der Bauschutt der zerstörten Häuser auf der Horner Spitze abgeladen worden sei. “Sichere” Bestandteile aus Stein, Glas oder Metall wurden auf dem Teil des Geländes abgeladen, auf dem heute der Verein agiert. Ab und zu würden sie bei Arbeiten auf dem Gelände auf Bauschutt stoßen. Auf dem verwilderten Teil des Geländes hingegen wurden “unsichere” Materialien abgelagert. B. führt nicht weiter aus, was diese konkret beinhalten. Der Zustand des Bodens führe jedoch dazu, dass eine, beispielsweise bauliche, Nutzung dieses Abschnittes mit erheblichen Kosten zur Beseitigung eventueller toxischer Stoffe verbunden sein würde. Daher könnten Pflanzen hier unberührt und uneingeschränkt wachsen. Laut B. würden auch Tiere dort leben.
Wir befinden uns auf dem Teil des Geländes in Richtung der Straßenbahnschienen der Linie 6. Hier steht das Gras sehr hoch, dazwischen versteckt liegt ein kleiner Teich. Der Teich ist eine Ausgleichsmaßnahme der Bauarbeiten, erzählt B., da durch diese ein Tümpel am Eingang des Geländes entfernt werden musste. Der Ausgleichs-Teich habe fast 2 Jahre lang keine Tiere angezogen, doch jetzt, kurz vor Ende der Bauarbeiten, sei Leben eingekehrt. Es fänden sich dort u.a. Frösche und Lurche. Nach dem Baustellenplan ist die alte Wasserstelle wiederhergestellt worden und der Ausgleichs-Teich soll eigentlich wieder entfernt werden. B. äußert sein Unverständnis darüber: Es habe so lange gedauert, bis der neue Teich belebt wurde, und er schätzt, dass es ähnlich lange dauern wird, bis dies auch für den wiederhergestellten Teich der Fall sein wird. B. bezweifele, dass die Tiere aus dem neuen Teich dessen Entfernung überleben würden. Außerdem störe der neue Teich an der jetzigen Stelle nicht. B. hoffe jedoch, dass die Entfernung des neuen Teichs von der zuständigen Stelle vergessen wird. Der Teich ist aufgrund des hohen Grases kaum zu sehen. Für den „Tag der offenen Wiese“, einem Familienfest auf der Horner Spitze, habe daher die Gefahr bestanden, dass Kinder versehentlich in den Teich fallen könnten. Doch da gerade Vogelbrutzeit ist, dürfe B. eigentlich das Gras nicht mähen. Er hätte sich mit diesen Bedenken an die zuständige Behörde gewendet, welche ihm die Erlaubnis erteilten, im Bereich vor dem Teich etwas zu mähen.
Wir fragen B. nach der Baustelle allgemein. Die Baustelle sei fast fertig, jedoch verzögere sich der endgültige Abschluss immer weiter nach hinten und B. wisse nie genau, wie der aktuelle Stand ist. Insgesamt dauerten die Bauarbeiten schon zwei Jahre, mit fünf Jahren Vorlaufzeit. Die lange Bauzeit und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten wie beispielsweise die Einschränkungen auf dem Gelände oder der Lärm seien natürlich störend. Allerdings betont B., dass die Baustelle auch positive Effekte für den Verein habe. So sei auch schon in frühen Morgenstunden fast immer jemand vor Ort und die Bauarbeitenden würden auch aufmerksam das Gelände beobachten. Das helfe z.B. gegen Einbruch und Vandalismus, womit der Verein in der Vergangenheit Probleme gehabt habe. B. berichtet, den Bauarbeitenden sei einmal früh morgens aufgefallen, dass es einem Pferd nicht gut gehen würde. Sie kontaktierten den Verein, der so viel früher handeln und dem Pferd helfen konnte. Ein weiterer positiver Effekt sei die Schotterstraße, die für die Baustellenfahrzeuge über das Gelände angelegt wurde. Davor habe es keine befestigte Zufahrt zum Gelände gegeben. Das war ein Problem für den Brandschutz, und als es tatsächlich einmal einen Brand auf dem Gelände gab, konnte die Feuerwehr nicht vorrücken, da der Löschwagen den feuchten Boden nicht überwinden konnte. Doch selbst hätte der Verein für eine solche Straße nicht finanziell aufkommen können. Nun aber gäbe es die Abmachung, dass die Straße nach Ende der Baustelle nicht zurückgebaut wird und so dem Verein erhalten bleibt.
Als wir wieder an den Pferdekoppeln vorbeikommen, sprechen wir mit B. über den aktuellen Bestand der Pferde. B. erklärt uns, was uns schon beim Begleiten des Stalldienstes klar wurde: Viele der Pferde des Vereins seien sehr alt und können nicht mehr geritten werden, wie auch Charly, Barbette und Jack. Andere Pferde seien zu klein für jugendliche Reiter:innen und werden nur von jüngeren Kindern geritten. B. erzählt, dass sie vor kurzem zwei neue Pferde, Wusa und Estera, gekauft hätten. Beide kämen von einem kleinen Bauernhof eines ihm bekannten Bauern, sind keine Tiere aus dem Reitschulbetrieb. Estera ist ein junges Pferd, welches auch von Jugendlichen geritten werden kann. B. begründet den Zukauf damit, dass der Besitz von reitbaren Pferden immer ein Magnet für neue Vereinsmitglieder sei. Um die Pferde kümmerten sich vor allem Reit- bzw. Pflegebeteiligungen, wobei die Bedürfnisse der Tiere an erster Stelle stünden, so B.
Wir gehen zum nördlichen Teil des Geländes, wo die Baustelle bereits zum Großteil rückgebaut wurde. Hier wurde der frühere Tümpel wiederhergestellt und ist nun sogar größer als zuvor. Ein Teil der Fläche um den Teich wurde wieder mit Mutterboden zugeschüttet, ein anderer Teil jedoch mit einem Gemisch aus Erde und Schutt. B. zeigt sich darüber unzufrieden und betont, dass durch die Bauarbeitenden auf der gesamten Fläche wieder Mutterboden gelegt werden müsse. Er erzählt, dass an der Stelle früher eine wild bewachsene Wiese mit einem Fußballplatz und einem Labyrinth gewesen sei. Die Fläche soll zukünftig wieder bepflanzt werden. Dies hätte ursprünglich bereits Anfang des Jahres durch die Verantwortlichen der Baustelle geschehen müssen, doch durch die Verzögerungen sei die Saatzeit bereits verstrichen und die Aufgabe der Bepflanzung würde zukünftig beim Verein liegen. Außerdem soll der Ort als Standort für die Hochbeete dienen. B. wirbt dafür, dass auch wir und andere Studierende ein Hochbeet bewirtschaften können.
In der Zeit, in der wir das Go-Along-Interview führen, hat die Jugendgruppe bereits angefangen. B. verabschiedet sich von uns, er hätte noch viel zu tun auf dem Gelände am Abend. Wir gehen zu dem alten Bauwagen, in dem Jt. auch mit ihrer Jugendgruppe aufgrund des starken Regens Unterschlupf gesucht hat. Der Bauwagen ist mit einem Tisch mit Bank und Stühlen, einer kleinen Küchenzeile und mehreren Regalen ausgestattet. Beim Betreten begrüßt uns Jt.‘s Hund, den sie mitgebracht hat. An dem Abend nehmen vier Mädchen an der Jugendgruppe teil, wobei zwei Jugendliche 12 Jahre alt sind, die älteste schon 17. Sie erzählen, dass sie meist zu acht oder neunt sind, und bisher nur Mädchen an der Jugendgruppe teilgenommen haben – anders als in der Kindergruppe. Jt. erklärt uns zu Beginn, dass die Jugendgruppe ein kostenloses Angebot für alle Personen zwischen 12 und 17 Jahre sei, da sie einen Status eines offenen Jugendtreffs haben soll. Sie selbst leite Gruppe bereits seit vielen Jahren. Im Gegensatz zu den Reit- und Kindergruppen stehe das Reiten auf den Pferden des Vereins eher im Hintergrund. Grund dafür sei auch das höhere Alter der Pferde, wie auch B. schon zuvor erzählte. Die Jugendlichen sollen frei entscheiden können, wie sie ihre Treffen gestalten.
An diesem Dienstag basteln die Jugendlichen Armbänder und Ringe aus Perlen, unter der Anleitung von Jt. Dazu hören sie Taylor Swift Songs, singen mit und unterhalten sich freudig. Das Gesprächsthema: die Pferde des Vereins. Die Mädchen sind uns gegenüber sehr offen und beantworten unsere Fragen gerne. Auch das Verhältnis zur Leiterin Jt. scheint sehr vertraut und harmonisch. Eines der Mädchen kommt seit zwei Jahren regelmäßig zur Wiese, die anderen schon deutlich länger. Sie reden über die Pferde, als würden sie von jedem einzelnen die Persönlichkeit kennen. Dabei erzählen sie auch von alten Pferden, die bereits verstorben sind. Sie erinnern sich mit Freude zurück. Wir fragen, ob sie auch selbst im Verein auf der Wiese reiten. Die Mädchen bringen unterschiedliche Pferdeerfahrungen mit: Sie nehmen an den Reitergruppen teil oder haben dies in der Vergangenheit getan, eine von ihnen hat auch eine Pflegebeteiligung für eines der Pferde auf der Wiese. Die Reitgruppen hätten immer eine lange Warteliste, weswegen sie die Jugendgruppe als Ausgleich nutzen würden. Zwei der Mädchen reiten noch in einem anderen Reitstall. Eine begründet das damit, dass sie noch „richtig reiten lernen“ möchte – womit sie vermutlich leistungsorientierten Reitunterricht meint. Wir fragen die Jugendlichen, ob sie Unterschiede zwischen den anderen Reitställen und dem Verein „Kinder, Wald und Wiese e.V.“ wahrnehmen, worauf sie uns direkt entgegnen, dass sie finden, dass es die Tiere auf der Wiese besser hätten, und dass sie den Umgang mit den Tieren im Verein sehr schätzen. Wir bemerken im Gespräch, dass die Bindung zu den Pferden auf der Wiese sehr groß ist. In unserem Gespräch fällt die Aussage eines Mädchens, dass die Wiese ihr „zweites Zuhause“ sei. Eine andere sagt: „Wenn ich nicht zur Wiese komme, bin ich auf Entzug“. Dass der Verein und die Aktivitäten vor Ort den Jugendlichen viel bedeutet, merken wir auch daran, dass sie das Thema rund um die mögliche Bebauung der Fläche sehr bewegt. Als wir sie fragen, ob sie über den politischen Konflikt der Horner Spitze Bescheid wissen, entgegnet eines der Mädchen: „das versuche ich zu verdrängen“.
Jt. erzählt uns, dass die Jugendlichen in der Vergangenheit Paletten-Sofas gebaut hätten und bei der Vorbereitung des „Tag der offenen Wiese“ mithalfen. Vor kurzem hätten sie die großen und kleinen Hochbeete gebaut und teils bepflanzt, die B. uns bei unserem Rundgang schon gezeigt hat. Die Jugendlichen erzählen, dass sie bei schlechtem Wetter auch schon zusammen Filme geschaut hätten oder mit dem angepflanzten Gemüse kochten. Freudig diskutieren sie, was sie nach den Hochbeeten als nächstes machen wollen und haben viele Ideen: sie wollen zum Beispiel die Bauwagen anmalen und bitten Jt., bald gemeinsam auf der Wiese zu zelten. Die Zeit vergeht wie im Flug und die Mädchen wirken traurig, dass die Gruppenzeit schon wieder vorbei ist. Wir bedanken uns und haben vor allem eine Aussage im Kopf behalten: Für die Jugendlichen ist der Verein „Kinder, Wald und Wiese e.V.“ ihr „Safe Space“.
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