Die Horner Spitze und der Verein Kinder, Wald und Wiese e.V. in Bremen als Beispiel für Fürsorge für Natur in der Stadt
Autorinnen: Rebecca Sommer und Sarah Tilly
Hier geht es zu den zugehörigen empirischen Vignetten und Werkzeugen.
Wer ist der Verein „Kinder Wald und Wiese e.V.“ in Bremen?
Fährt man mit der Linie 6 zur Bremer Uni, passiert man auf Höhe der Haltestelle Riensberg ein unscheinbar wirkendes Stück Stadtgrün. Diese Fläche, die Horner Spitze genannt wird, ist ein weitestgehend unbebautes, ca. 4 Hektar großes Gelände zwischen Straßenbahngleisen, Bahndamm und Kleingärten. Was nicht offensichtlich sein mag: Die Horner Spitze wird zu großen Teilen genutzt. Hier befindet sich ein Verein namens Kinder, Wald und Wiese e.V., dessen Ziel es ist, „Kindern und Jugendlichen aus der Stadt die Natur näher zu bringen“ (Kinder, Wald und Wiese e.V. 2024). Der Verein hält Pferde, Ziegen und eine Katze und bietet verschiedene Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche an: regelmäßige Pferdestunden, Gruppentreffen oder Ferienprogramme. Er ist außerdem Teil der „Bürgerinitiative Horner Spitze“, die sich für den Erhalt der Horner Spitze einsetzt. Denn das Gelände ist Prüffläche für die Bebauung und Nutzung als Gewerbegebiet (Die Senatorin für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung & Die Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation 2021). Gegen diese Entwicklung wehrt sich die Initiative. Die Horner Spitze repräsentiert also nicht nur einen Flecken Natur in Bremen, sondern hat sich zu einem Politikum entwickelt. Wir wollen herausfinden, welche Beziehungen zwischen der Horner Spitze als Natur in der Stadt und dem Verein bestehen, in welcher Form Fürsorge (Care) stattfindet und was dies für die Menschen und Tiere im Verein und die Natur auf der Horner Spitze bedeutet.
Was ist Care?
Unsere Fragen beruhen auf einer theoretischen Konzeption von Care (Fürsorge). Dabei beziehen wir uns auf das Verständnis von Joan C. Tronto (1993). Sie beschreibt Care als eine Praktik, „a reaching out to something other than the self” (Tronto 1993: 102). Diese Praktik setzt sich idealerweise zusammen aus vier Phasen: „Caring About“, der Erkenntnis über Notwendigkeit von Fürsorge, „Taking Care of“, der Verantwortlichkeit, Fürsorge zu übernehmen, „Care-giving“, der tatsächlichen Arbeit der Fürsorge-Leistung, und „Care-receiving“, der Beurteilung der Reaktion auf erhaltene Fürsorge (ebd.: 106ff.).
Fürsorge hat individuelle Bedeutungen und Wirkungen. Puig de la Bellacasa schreibt dazu: „To care can feel good; it can also feel awful. It can do good; it can oppress.” (2017: 1). Dabei endet Fürsorge nicht beim Menschen, sondern betrifft auch das mehr als Menschliche (ebd.). Zu „more than human“ (mehr als Menschliches) zählen Nichtmenschen, andere Tiere und Lebewesen, Organismen, physikalische Kräfte, spirituelle Entitäten und Dinge, die neben den Menschen in der Natur existieren. Die Beziehungen zwischen Menschen und dem mehr als Menschlichen sind komplex und untrennbar miteinander verbunden. Die Autorin betont, dass Fürsorgepraktiken für mehr als Menschliches eine politische Dimension haben, die über traditionelle ethische Perspektiven hinausgehen (ebd.).
Was haben wir gemacht?
Um die tatsächliche Arbeit auf der Horner Spitze zu dokumentieren, begleiteten wir eine Person, Jc., bei ihrem Stalldienst und halfen mit. Dabei handelte es sich um eine teilnehmende, offene und unstrukturierte Beobachtung (vgl. Flick 2007; Laatz 1993) mit autoethnografischer Dokumentation (vgl. Butz 2010). Nach einem ähnlichen Verfahren nahmen wir außerdem an einem Treffen der Jugendgruppe des Vereins teil. Durch die Offenheit unserer Forschungsmethodik entwickelte sich dieser zweite Beobachtungstermin in Teilen zu einem spontanen Go-Along-Interview mit einem Mitglied des Vereinsvorstandes, welches mit Gedächtnisprotokollen und Fotos dokumentiert wurde.
Akteur:innen und Praktiken auf der Horner Spitze
Wir konnten uns mit unterschiedlichen Akteur:innen unterhalten und Einblicke in deren Arbeitsaufgaben bekommen. Auf Grund der Größe des Geländes und der Diversität der Vereinsangebote konnten wir allerdings nicht alle Akteur:innen und Praktiken erfassen. Somit beschränkt sich unsere Untersuchung auf den Stalldienst und die Stalldienstleistende Jc., eine Jugendgruppe und deren Leiterin Jt., sowie das Vorstandsmitglied B. Jegliches Vereinsengagement geschieht ehrenamtlich, der Stalldienst aber gegen eine finanzielle Aufwandsentschädigung.
Stalldienst
Der Stalldienst wird täglich morgens und abends verrichtet. Jc. ist eine der Ehrenamtlichen und übernimmt pro Woche einen Vormittagsdienst, der sich aus standardisierten Abläufen zusammensetzt. Beim morgendlichen Dienst muss zuerst Pferdefutter, versetzt mit auf das jeweilige Pferd abgestimmten Nährstoffen und Kraftfutter, angemischt werden. Im Gegensatz zu den anderen Pferden, die nur Heu und Gras fressen, bekommen drei der Pferde auf Grund ihres Alters Zusatzfutter. Während das Futter einweicht, werden die drei Pferde an ihrer Futterstelle angebunden, die Katze, die auf dem Gelände lebt, mit Dosenfutter gefüttert. Die Futterbottiche werden mit Schubkarren zur Pferdekoppel geschoben und den Pferden hingestellt. Danach werden die Pferdäpfel von den Koppeln aufgesammelt und auf Schubkarren zum Misthaufen gefahren. Zwischendurch müssen Wasserkanister an einem gemeinschaftlichen Wasserhahn des angrenzenden Kleingartenvereins aufgefüllt werden. Danach wird für die Pferde eine weitere Portion Futter angemischt und zur Futterstelle gebracht. Außerdem werden die Ställe der Ziegen ausgemistet. Zum Schluss folgen Aufräumarbeiten, um alle Materialien für den nächsten Stalldienst am Abend vorzubereiten.
Vorstand und Vereinsarbeit
Die Arbeit im Vereinsvorstand lässt sich im Gegensatz zum Stalldienst nicht auf einen standardisierten Arbeitsablauf runterbrechen. B. selbst sagt, er mache „eigentlich alles“, und dass die Arbeit im Verein auch ziemlich chaotisch sein könne. Er kümmert sich einerseits um administrative Angelegenheiten des Vereins: Verwaltung, Koordination, Finanzen, Mitgliederbetreuung, Kommunikation (derzeit viel mit den Verantwortlichen der Baustelle auf dem Gelände), Social Media und Digitalisierung. Andererseits erledigt er viele Arbeiten, die auf dem Vereinsgelände anfallen, wie z.B. Reparaturen, (Um-)Gestaltung des Geländes, Pflege der Fläche und Transport von Materialien. Für viele Arbeiten, wie z.B. das Traktor fahren, seien spezifische Fähigkeiten oder Kenntnisse notwendig, daher kann B. diese schwer an andere Engagierte abgeben.
Jugendgruppe
Die Jugendgruppe trifft sich einmal in der Woche, mitmachen können Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren. Dabei sind die Aktivitäten vielfältig und werden von den Jugendlichen selbst bestimmt. Das Einbinden und Reiten der Pferde ist, im Gegensatz zu den Reitgruppen, zweitrangig, denn die Vereinstiere sind mittlerweile alt und können zum Teil nicht mehr oder nur noch von Kindern geritten werden. Daher beschäftigt sich die Jugendgruppe insbesondere mit der Gestaltung und Pflege der „Wiese“, wie sie die Vereinsfläche nennen. In der Vergangenheit haben sie Sitzmöglichkeiten aus alten Paletten gebaut, bei Veranstaltungen mitgeholfen und zuletzt mehrere Hochbeete gebaut. Sie haben noch viele Pläne zur Aufwertung des Geländes. Doch sie treffen sich auch zum Basteln, Filme schauen oder Kochen, wie auch an jenem Tag, an dem wir die Gruppe begleitet haben.
Die Teilnahme an der Jugendgruppe soll, angelehnt an klassische Jugendtreffs, für jede:n zugänglich sein und ist daher kostenlos. Sie wird von ehrenamtlichen Helfer:innen geleitet, die dies teils schon seit vielen Jahren machen. Die Gruppenleiter:innen sind für die Planung und Durchführung der verschiedenen Pferdegruppen, Kinder- und Jugendgruppen oder Ferienfreizeiten zuständig.
Die Bedeutung von Care für die Horner Spitze
Aus unseren Beobachtungen lassen sich vielschichtige Care-Beziehungen zwischen den menschlichen und mehr-als-menschlichen Akteur:innen auf der Horner Spitze sowie die Bedeutungen dieser herausarbeiten. Sowohl unter den Mitgliedern der Jugendgruppe als auch bei Jc.‘s Stalldienst-Arbeit zeigen sich persönliche Verbindungen zu den Pferden. Jc. äußerte, dass sie die Pferde vermisst habe, und sprach mit ihnen oder über sie in einem verniedlichenden Tonfall. Die Jugendlichen erzählten von den individuellen Charaktereigenschaften der Pferde und erinnerten an bereits verstorbene Tiere. Steele et al. (2019) beschreiben diesen Beziehungstyp zwischen menschlichen und mehr als menschlichen Wesen als Konzept des „Freundes“, das auf emotionalen Verflechtungen und Fürsorge beruht. Die von den Akteur:innen geteilte, auch wenn subjektive, Perspektive ist es, dass auf der „Wiese“ mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Pferde geachtet werde als im klassischen Reitstall, wovon sich auch die Reitgruppen abgrenzen würden.
Nach Trontos vier Phasen des Caring praktiziert der Verein „Caring About“ und „Taking Care of“, da er sein Wirken eng mit den gebotenen Tier- und Naturerfahrungen verknüpft hat und dementsprechend die Verantwortung trägt, für die gehaltenen Tiere, aber auch die genutzte Fläche, Fürsorge zu leisten. Der Verein delegiert das „Care-giving“ unter den Freiwilligen, welche die tatsächliche Care-Arbeit leisten. Der Aspekt des „Care-receiving“ lässt sich schwer für Außenstehende evaluieren, Erzählungen und Beobachtungen liefern aber Hinweise. Die Pferde reagieren während des Stalldienstes aufmerksam und neugierig auf Menschen auf der Koppel, laufen ihnen entgegen oder zeigen Ungeduld, während sie auf ihr Futter warten. Im Kontrast dazu steht die Interaktion der Katze, die auf jeglichen Annäherungsversuch von Menschen mit Fauchen reagiert – außer bei der Fütterung. Die Ziegen reagieren kaum auf die Personen, die ihren Stall säubern, jedoch erzählt B., dass Ziegen, die der Verein in der Vergangenheit hatte, viel älter geworden seien, als Ziegen „in Gefangenschaft“ normalerweise werden.
B. vermittelt ein Selbstverständnis des Vereins, welches über die Tierhaltung hinausgeht, sondern mit der Horner Spitze als Fläche verflochten ist. Weil das Gelände nicht an die Wasserversorgung angeschlossen ist, wird mit Regenwasser, einer Grundwasserpumpe und Wasser aus einem zentralen Hahn des Kleingartenvereins gearbeitet. Als Toilette steht eine Komposttoilette zur Verfügung. Doch trotz der Verantwortung, der sich der Verein gegenüber des mehr als Menschlichen angenommen hat, stellt B. die Sicherheit der Menschen, insbesondere der Kinder, über die Fürsorge zur Natur: er hat eine Genehmigung erhalten, auch während der Brutzeit der Vögel Wiesenflächen zu mähen, um den sonst vom hohen Gras verdeckten Teich sichtbar zu halten.
An verschiedenen Orten des Geländes erzählt B., was dort einmal stand oder gemacht wurde, z.B. ein Fußballplatz, was dort geplant ist, z.B. Hochbeete, aber auch, welche Form die Fläche dort ohne Einwirken des Vereins hatte oder hat. Ein prominentes Beispiel ist der Tümpel, der ursprünglich im nördlichen Teil des Geländes stand. Dieser musste für Fernwärmebauarbeiten entfernt werden, stattdessen wurde als „Ausgleich“ ein Teich auf der anderen Seite der Wiese geschaffen. Dieser habe laut B. jedoch zwei Jahre zur Wiederbelebung gebraucht, und er gehe davon aus, dass die Tiere aus dem alten Tümpel nicht „umgezogen“, sondern gestorben seien. An der Stelle des alten Tümpels ist jetzt, nach den Bauarbeiten, ein neuer Teich angelegt, dessen Belebung wohl ähnlich lange dauern werde.
Der Tümpel repräsentiert im Kleinen die größere politische Debatte um die Horner Spitze und den Verein. Er zeigt, dass etablierte Naturflächen nicht einfach ausgeglichen werden können. Zwar kann die Schaffung des Ausgleichs als Care-Praktik interpretiert werden – immerhin wird Naturraum an anderer Stelle wieder hergestellt – dennoch wurde ein bestehendes Ökosystem zerstört. Solche Care-Praktiken sind ambivalent (vgl. Puig de la Bellacasa 2017) und zeigen hier negative Auswirkungen. Auch wird auf politischer Ebene die Gleichgültigkeit dieser Art von Care deutlich: Natur wird als austauschbar gesehen. Dabei wird vergessen, dass der Verein ohne die Natur auf der Horner Spitze nicht in seiner jetzigen Form existieren und wirken könnte. Die Jugendlichen nennen die „Wiese“ ihren „safe space“, ihr „zweites Zuhause“. So wird auch verständlich, warum sich der Verein trotz des Angebots einer Umsiedelung gegen eine potenzielle Bebauung wehrt.
Literatur
Butz, D. (2010). Autoethnography as sensibility. In: The Sage Handbook of Qualitative Research in Human Geography, Hrsg. D. DeLyser, S. Aitken, S. Herbert, M. Crang & L. McDowell, 138-155. London: Sage.
Die Senatorin für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung & Die Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation (2021). Einigung Regierungskoalition zum GEP2030. Bremen. https://www.senatspressestelle.bremen.de/sixcms/media.php/13/20211007_Koa%20GEP2030_FINAL.pdf
Flick, U. (2007). Qualitative Sozialforschung: eine Einführung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Kinder, Wald und Wiese e.V. (2024). Über uns. https://kinderwaldundwiese-bremen.de/ueber-uns/ (Abgerufen 30.07.2024)
Laatz, W. (1993) Empirische Methoden: ein Lehrbuch für Sozialwissenschaftler. Thun: Verlag Harri Deutsch.
Pitt, H. (2018). Questioning care cultivated through connecting with more-than-human communities, Social & Cultural Geography, 19:2. https://doi.org/10.1080/14649365.2016.1275753
Puig de la Bellacasa, M. (2017). Matters of care: Speculative ethics in more than human worlds. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Steele, W., Wiesel, I., & Maller, C. (2019). More-than-human cities: Where the wild things are. Geoforum.
Tronto, J. C. (1993). Moral Boundaries. A Political Argument for an Ethic of Care. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9781003070672
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