Das Konzept der Durchgängige Sprachbildung als sinnvolles Instrument zur Schaffung von mehr Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem.
Folgt man der Empfehlung der Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland, so sind bildungssprachliche Kompetenzen, die im Besten Falle während der Schullaufbahn erworben werden, ein eminenter Garant für Bildungserfolg und somit ein wichtiger Gelingensfaktor für gesellschaftliche Teilhabe und Gleichberechtigung. (KMK 2019, S.2) Bildungssprachliche Kompetenzen heißt im übergeordneten Sinne, dass Schüler:innen in der Lage sind, die sprachlichen Anforderungen des täglichen Unterrichts zu bewältigen und mit ihnen zu partizipieren. Bildungssprache an sich unterscheidet sich klar von andern Sprachvarietäten, wie der Alltagssprache. Sie ist gekennzeichnet durch den Modus der konzeptionellen Schriftlichkeit und besitzt je nach Kontext oder Jahrgangsstufe ein eigenes Inventar. Allgemein lässt sich festhalten, dass Bildungssprache als Register ein hohes Maß an Explizitheit und Informationsdichte vorweist. (Fornol/Hövelbrinks 2019, S.500f.)
Wenn also bildungssprachliche Kompetenzen einen so enormen Stellenwert für schulischen Bildungserfolg, gesellschaftliche Teilhabe und in diesem Sinne auch Chancengleichheit haben, dann stellt sich die Frage: Was ist die Konsequenz hieraus für jene Kinder und Jugendliche, die Schwierigkeiten im Umgang mit Bildungssprache im Kontext Schule besitzen? Hört man auf einige Stimmen aus der Forschungsliteratur zum Thema Bildungssprache, kristallisiert sich heraus, dass vor allem Kinder und Jugendliche, die aus einer Familie stammen, in welcher Deutsch nicht die Erstsprache ist, besonders betroffen sind von der benachteiligenden Wirkmacht der Bildungssprache in Schule. (Gogolin/Duarte 2016, S. 479) In einen großen Rahmen gesetzt führt dieser Nachteil dazu, dass diese Gruppe der Gesellschaft womöglich im Durchschnitt schlechter in der Schule abschneidet und weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben könnte.
Diese Feststellung führt zur Annahme, dass die Herkunft in Deutschland den Bildungserfolg im negativen Sinne negativ beeinflussen kann. Für ein Schulsystem, das an der passgenauen Versorgung aller jungen Menschen, egal welcher Startbedingungen diese entsprungen sind, interessiert sein sollte, ist dieser Umstand der Ungleichbehandlung ein Armutszeugnis.
So weit so negativ. Doch möchte man versuchen diesem Gesamtzustand etwas Positives zu entnehmen, lässt sich konstatieren: Es gibt sehr viele Möglichkeiten Dinge zu verbessern.
Um dem oben skizzierten Auseinanderklaffen der Bildungschancen bei jungen Menschen in Deutschland entgegenzuwirken, könnte das Konzept der Durchgängigen Sprachbildung zu Rate gezogen werden. Als Mittel gegen Chancenungleichheit könnte dieses Prinzip dazu führen, dass Schüler:innen mit Migrationshintergrund spezifisch gefördert werden und hiermit auch die Lücke der Chancengleichheit zum Teil eingerissen wird. Als sinniges Förderkonzept zur Durchgängigen Sprachbildung kann das Projekt „FörMig“ (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund) fungieren.
Zu Beginn sollte festgehalten werden, dass der Startschuss des Förderprojektes „FörMig“ in den Ergebnissen der großen Bildungsstudien PISA, TIMSS und IGLU zu sehen ist. Die Resultate dieser groß angelegten Untersuchungen haben dem deutschen Bildungssystem eine große Ungerechtigkeit in der Verteilung der Bildungschancen nachgewiesen. Vor allem die Korrelation zwischen weniger gut ausgebildeten Chancen auf Erfolg in der Schule und dem sozialen, sprachlichen und kulturellen Hintergrund von Schüler:innen stieß einen Diskurs über Ungleichheit an. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, wurde das Modellprojekt „FörMig“ 2004 ins Leben gerufen und in Zusammenarbeit von Bund und Ländern über fünf Jahre ausgeführt. (Gogolin/Saalmann S. 191)
Hinter dem Namen „FörMig“ verbirgt sich die Systematik der Durchgängigen Sprachbildung. Die Organisator:innen des Projekts sehen einen großen Nachteil im deutschen Schulsystem darin, dass Sprachbildung als isolierter Gegenstand lediglich im Unterricht geschieht. In Abkehr zu dieser Handhabung schlägt „FörMig“ einen anderen Weg ein. Aufbauend auf einer Bedingungsanalyse, die nicht nur die Sprachdiagnose, sondern auch die unterschiedlichen Akteur:innen am jeweiligen Ort miteinbezieht, folgt die Durchgängige Sprachbildung. Diese setzt dort an, wo Übergänge im Bildungssystem stattfinden und begleitet die Kinder und Jugendlichen beständig auf diesem Weg. Ziel ist es als von der Elementarstufe bis zum Schulabschluss ein System aufzubauen, in welchem Schüler:innen zusätzlich zum Unterricht Unterstützung beim Sprachenlernen erhalten. Um diesem Credo gerecht zu werden, soll ein Sprachfrödernetzwerk mit Institutionen um die Schule herum aufgebaut werden, sodass Schüler:innen außerhalb der Schule Anlaufpunkte haben, um sprachliche Kompetenzen aufzubessern. Weiter soll Sprachbildung als Querschnittsaufgabe ins Schulcurriculum aufgenommen werden und ferner sollen zuständige Pädagog:innen an den Schulen besser ausgebildet und für sprachliche Vielfalt sensibilisiert werden. (Gogolin/Saalmann S. 200ff.)
Hierdurch ergibt sich das Bild, dass Schüler:innen, die besonderer Sprachförderung bedürfen, während ihrer gesamten Bildungsbiographie stetige Unterstützung finden können, dass eine Vielzahl von Akteur:innen in den Prozess der Sprachbildung einbezogen sind und in der Schule die sprachliche Bildung als systematische Aufgabe aller Fächer angesehen wird und umgesetzt wird.
Die Stärke dieses Modellprogramms liegt in der Sensibilisierung sprachlicher Bildung und der Annahme dessen als Aufgabe, die es auf mehrere Schultern zu legen gelte. Dieser Ansatz könnte ebenfalls ein schulisches Umdenken zum Thema Sprachbildung bewirken, was ebenfalls allen Sprachlerner:innen zu Gute käme. Man stelle sich vor, wie eine Verstetigung und Implementierung dieses Konzepts der Durchgängigen Sprachbildung an allen öffentlichen Schulen in Deutschland aussehen würde und was dies zur Folge haben könnte. Darin könnte ein großer Paradigmenwechsel gesehen werden, der zum einen die Augen nicht mehr vor der Produktion ungleicher Verhältnisse durch das Schulsystem verschließt, sondern diesen anerkennt. Zum anderen würde dies die Tür öffnen für eine fundierte Unterstützung für strukturell Benachteiligte und somit auch zu mehr Chancengleichheit führen. Es bedarf nun einer minutiösen Evaluation der schon etablierten FörMig-Projekte, um diese hier anvisierte positive Tendenz in der Wirkung zu beweisen. Sollten die Resultate zufriedenstellend sein, dann sollte keine Schule in Deutschland mehr in der Lage sein dürfen, diesem Konzept auszuweichen, sondern sich durch die Reichweite und Wirkkraft dazu genötigt sehen, selber zu handeln und im Sinne der Gleichberechtigung aktiv zu werden.
Literatur:
-
- Fornol, S.; Hövelbrinks, B. (2019): 20. Bildungssprache, in: Jeuk, S; Settinieri, J (Hrsg.): Sprachdiagnostik. Deutsch als Zweitsprache. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton. S. 497-522.
- Gogolin, I.; Duarte, J (2016): 23. Bildungssprache, in: Kilian, J.; B. Brouër , B; Lüttenberg, D (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Bildung. Berlin, Boston: De Gruyter, S. 478-499.
- Gogolin, Ingrid; Saalmann, Wiebke (2007): Das Modellprogramm FÖRMIG (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund). Konzept und Beispiel aus der Praxis im Länderprojekt Sachsen, in: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg im Breisgau, Fillibach), S. 187-204.
- Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 05.12.2019: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2019/2019-12-06_Bildungssprache/2019-368-KMK-Bildungssprache-Empfehlung.pdf, letzter Aufruf: 12.06.21.
Diskussion (0)
Es gibt keine Kommentare zu diesem Dokument vor.