Teilnehmende Beobachtung – Netto-Parkplatz SL

Datum: 13.11.2023

Zeitraum: 10:10-10:35

Ort: Vorplatz vom Netto, Admiralstraße 54 in Findorff

Um kurz nach 10 treffe ich auf dem Parkplatz zwischen Netto und Aleco an der Admiralstraße in Findorff ein. Ich stelle mein Fahrrad in den dafür vorgesehenen Ständer auf der Mitte zwischen den zwei Geschäften, an den schon eine Handvoll Räder angeschlossen sind. Gerade bin ich die einzige Person auf dem Platz. Die anliegende Straße ist normal befahren und auf dem Bürgersteig gehen Passant*innen vorüber, meist alleine, manchmal zu zweit. Vom nahegelegenen Schulhof klingt Kinderlachen und -geschrei herüber und von einer Baustelle an der Straße kommen Bohrgeräusche hinzu. Ansonsten ist es ziemlich ruhig hier, dafür aber umso kälter. Auf dem Parkplatz stehen ungefähr 20 Autos, darunter 3 Firmenwagen, mit größtenteils Bremer Kennzeichen. Ich stelle mich vor den Eingangsbereich vom Netto. Rechts von der Türe gibt es eine überdachte Ausgabe von Einkaufswagen und unmittelbar hinter dem Eingang befindet sich eine Leergutabgabe, an der eine kleine Gruppe von Menschen ansteht. Die Leute, die den Parkplatz betreten, kommen entweder auf dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem Auto an, wobei die Radfahrer*innen die kleinste Gruppe bilden, was an der Kälte liegen mag. Die meisten Menschen sind alleine unterwegs. Es gibt immer wieder Momente, in denen der Platz leer ist und dann wieder solche, in denen sich gleichzeitig mehrere Personen hier aufhalten. Dennoch beobachte ich keine einzige verbale Interaktion zwischen Fremden – weder Gruß, noch Hinweise oder Kommentare. Lediglich die Leute, die zu zweit ankommen, führen Gespräche. Außerdem sind sie meistens langsamer und gemütlicher unterwegs, während die Personen, die alleine ankommen, zielstrebiger und durchgetakteter wirken. Vor allem von denjenigen, die mit dem Auto ankommen, holen sich viele einen Einkaufswagen, andere packen im Gehen eine mitgebrachte Einkaufstasche aus und wieder andere betreten den Laden ohne dergleichen. Die Radfahrer*innen haben oft Rucksäcke auf und schließen ihr Rad an den Fahrradständer oder lehnen es gegen die Hauswand. Beim Verlassen des Geschäfts transportieren die Leute ihre Einkäufe entweder per Hand, in einer Tragtasche oder im Einkaufswagen. Letzterer wird dann zum Auto geschoben und anschließend leer wieder zurückgebracht. Die Menge an eingekauftem ist meist groß und scheint den Wocheneinkauf darzustellen, einige wenige haben bloß Verpflegung oder Getränke für den direkten Verzehr in der Hand. Das sind ausnahmslos jüngere Personen und/oder solche in Arbeitskleidung. Mir fällt auf, dass die Leute mich viel eher in dem Moment registrieren zu scheinen, in dem sie den Einkaufswagen zurückbringen, während mich viele beim Betreten des Geschäfts gar nicht anschauen. Die Personen, die sich am längsten auf dem Platz aufhalten, sind Senior*innen, Radfahrer*innen und Eltern mit jungen Kindern. Letztere bilden die einzige Gruppe, die aus dem eingespielt wirkenden Ablauf herausstechen, da sie die nötigen Handlungen wie beispielsweise die Nutzung eines Einkaufswagens kommentieren, erklären und begründen. Ansonsten wirkt das Geschehen vor dem Netto geschmeidig und routiniert – die Leute kommen an, betreten das Geschäft, verlassen es mitsamt ihren Einkäufen und verschwinden dann auch wieder vom Parkplatz. Seitens der Menschen kommte es zu keinen Zwischenfällen; ein bellender Hund, der vor dem Eingang mit seinem Herrchen auf dessen Begleitung wartet, und ein klemmender Einkaufswagen stellen die einzigen Abweichungen dar. Möglicherweise hat die zielstrebige und fokussierte Stimmung etwas mit der Kälte zu tun; insofern, dass niemand in Erwägung zieht, sich bei dem Wetter zu verquatschen. Außerdem mag Montagmorgen eine Zeit sein, zu der viele einiges zu erledigen haben und sich daher weniger ablenken lassen wollen. In jedem Fall ist hier ein Ort, an dem Routine stattfindet und an dem viele unterschiedliche Routinen aufeinander treffen und parallel funktionieren. Und der Ort wirkt beinahe autonom; durch den ständigen Personenwechsel und aufgrunddessen, dass sich niemand konstant hier aufhält, entsteht keine Hierarchie, zu der sich die anwesenden Personen verhalten müssten. Natürlich basieren sowohl der gesamte Ablauf als auch die Räumlichkeiten auf Regelungen und Gesetz, dennoch findet das Geschehen gewissermaßen unabhänig davon statt und entwickelt sich immer neu – einhergehend mit der aktuellen Konstellation von Menschen.

Tabea H.

Rojbas, Selam, Merhaba

Ich fließe durch drei Länder und münde im persischen Golf. Zwischen mir und Eupharat liegt Mesopotamien, wo ich das Leben ermöglichte. Zumindest hat es mir anne so erklärt. Mein Herz schlägt am schnellsten, wenn die kurdischen Lieder von früher angehen und ich in Nostalgie schwebe und mich gleichzeitig ärgere, dass ich die Worte doch gar nicht richtig verstehe. Eins hat sich geändert- die Schuld dafür bei den beiden zu suchen, denen die Worte und Sprache verboten worden ist. Und wenn ich meinem jüngeren Ich etwas zuflüstern könnte, wäre es, dass ich  Kind der Sonne und des Feuers bin, auch wenn ich es manchmal vergesse. Dass es mich gibt, dass es uns gibt, dass es unsere Lieder gibt, welche von Menschen in den Bergen gesungen werden. Dass mein Herz dafür schlagen darf, auch wenn es nicht auf der Karte abgebildet ist.

Ich würde Abla nicht in meinem harten Ton widersprechen, während sie mir liebevoll über mein Haar streicht und eine kleine Locke um ihre Finger wickelt. Abla, jetzt liebe ich sie.    Meine Liebe für neue Klamotten, Taschen und Schmuck hast du aber schon immer kritisch hinterfragt. Genommen hast  du sie mir aber nie. Im Gegenteil, du hast mir gezeigt, dass darin eine kleine Passion von mir steckt. Ich vermisse unsere kleinen Unterhaltungen, mit großer Bedeutung. Über das Leben, unsere Träume, unsere Unsicherheiten, unsere Geheimnisse. Nicht zu vergessen, unsere hochpolitischen Diskussionen über unsere Rolle als Frau und warum wir nicht Monopoly spielen dürfen, weil es doch der Kapitalismus in seiner leichtsinnigsten Form ist.

Lehrstunden von baba über Karl Marx, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin am Abend haben sich manchmal ewig lang angefühlt, aber nur, weil er so viel Wissen hatte und wir versucht haben mitzuhalten. Sein Ego ist so klein und sein Verständnis eine Kunst für sich. Und wenn die hitzigen Diskussionen im Streit ausgingen und wir uns in unsere Zimmer verkrochen haben, kam er am Abend an unsere Betten und hatte trotzdem liebe Worte für uns übrig. Heute sehe ich mich in ihm, in seinem Bedürfnis aufzuklären und Ungerechtigkeiten aufzudecken. Die wichtigste Regel dabei verliere ich aber manchmal aus den Augen- dass es manchmal schon reicht, wenn du sie in deinem Kopf aufdeckst. 

Rojbas, Selam, Merhaba, mein Name ist Dicle 

Im Grunde für die Katz

Es ist windig und es ist bunt. Wie immer in dieser Stadt. Immer seit nun drei Wochen. Ich brettere auf meinem Rad den Wallanlagen entlang Richtung Westen und lasse sowohl die Gesichter der auf mich zukommenden Leute als auch den Vormittag an mir vorbeiziehen. Da waren neue Namen in vollen Räumen, Pläne, die bis ins nächste Jahr reichen, Fragen auf englisch oder auf deutsch. Und eben dieser Tisch. Zwanzig Euro, das kann doch nicht sein. Ebenso wenig kann es sein, dass ich schon während meines ersten Tutoriums parallel anderswo unterwegs bin, aber das Stöbern auf ebay Kleinanzeigen ist wohl der nötige Ausgleich zur Relevanz dieser letzten Stunden.

Über knackende Haselnussschalen und knisternde Blätter rolle ich also auf eine Kreuzung zu, komme zum Stehen und halte Ausschau nach Symbolen, die auf einen Fahrradweg hinweisen könnten. Etwa fünf Minuten dauert die Überquerung der zwei Strassen. Bestimmt ginge das schneller, aber ich bin noch neu unter den Bremer Radelnden und ausserdem tut das Anhalten in der herbstlichen Sonne gut. Und es gibt mir Zeit, mir die verbleibende Route mithilfe meines Handys einzuprägen. Geeren – was ein Strassenname.

Ausnahmsweise mal ohne mich zu verfahren komme ich hier auch wenig später an, schliesse mein Rad ab und klingle beim mir beschriebenen Namen. Dann geht für gute fünfzehn Minuten alles ziemlich schnell – ein junges Paar zeigt mir den besagten Tisch, ich stelle ein paar Fragen zu dem Möbelstück, wir quatschen, mir wird ein Kaffee angeboten und abwechselnd verweisen wir alle auf den Kater, der um uns herum huscht. Er ist grau und sein Fell ist weich und ich bin hin und weg. Dass ich den Tisch nehme, ist mir klar, ich ziehe bloss noch den Aufenthalt in Gesellschaft dieses süssen Kerls in die Länge, merke, wie sehr ich ein Haustier vermisse, besonders meinen Moses. Und wir warten sowieso auf Hannah, die mir mit ihrem Auto zur Hilfe kommt. Nun steht es 1:1 bei unseren gegenseitigen ebay-Begleitungen.

Für weitere fünfzehn Minuten bin ich also Gast in diesem völlig anderen Alltag, schnuppere Luft, die gefestigter, sicherer riecht, bekomme eine Idee, eine Ahnung, wie meine Lage in ein paar Jahren aussehen könnte. Irgendwann ist Hannah da und zu dritt legen wir die Stangen und Bretter auf die umgeklappten Sitze ihres Fiats. Mit einem Gefühl, als hätte ich gerade eine weitere Feder zwischen Trampolinnetz und -rahmen gespannt, steige ich ein und wir fahren los.

Diese Mischung aus Stolz und neuer Perspektive hält genau eine Abbiegung lang an; da fällt mir mein Fahrrad ein, das ich doch gerade noch an einen Zaun in einer Strasse namens Geeren angeschlossen habe. Ich springe also aus der Beifahrer*innentür und mache mich auf den Rückweg, finde mein Rad vor, wie ich es zurückgelassen habe, schwinge mich auf den Sattel und breche auf in Richtung Norden.

Tabea H.