Der zwölfte Winter

09-50-M1-T2: Tutorium 2 zu „Einführung in die Ethnologie“ | Tutor: Ben Baumgarten | WiSe 2023 | Tabea Heimbucher | 6327112 | Assoziativer Text

Im Grunde ein Stück Plastik, weiß-schwarz, vielleicht so groß wie zwei meiner Daumen. Nicht sonderlich kalt oder warm, ich spüre einzig diese kühl-schwitzige Wechselwirkung mit meiner Hand. Ein Blick länger und deine Farben werden viele, es glitzert und strahlt und funkelt und blinkt. Bewege ich dich, so tanzt helles Licht über deine Oberfläche und in bestimmten Winkeln leuchten da ganze Formationen von Regenbogenfarben. Die bunten Lichter scheinen aus dem Raum zwischen dem schwarzen und dem durchsichtigen Plättchen zu kommen, wo bei genauerem Hinsehen eine Ansammlung winziger, ebenfalls durchsichtiger Zacken zu erkennen ist. Diese kleinen Pyramiden fangen wohl alles ein, was an Licht auf deine Oberfläche trifft, und werfen Strahlen in die verschiedensten Richtungen zurück. Zwei Nummern sind auf deinem Äußeren eingraviert, Kombinationen von Buchstaben und Zahlen, und aus einer Seite tritt eine Halterung hervor; kleine Haken, eckig und rau. Vielleicht kann man dich damit an ein Fahrrad klemmen.Gerade ist das aber schwer vorzustellen, denn du liegst halt hier auf diesem Holztisch neben aufgerollten Kabelkopfhörern und einer zerbeulten blauen Flasche.

Elf Winter lang hat mir mein Vater gesagt, ich solle mich schützen. Elf Winter lang meine Mutter, ich solle mich sichtbar machen. Und elf Winter lang habe ich dich bei mir gehabt, an Taschen, Schuhen oder Jacken. Um im Dunkeln aufzufallen, um sicher zu sein. Daher kennen wir uns. Vielleicht hätte ich dich auch für die anderen Jahreszeiten behalten sollen. Aber in den hellen Monaten hat mir niemand geraten, mich zu schützen, geschweige denn zu zeigen. Manchmal sollte ich mich hüten oder auf mich aufpassen. Mich vorsehen oder mal melden. All das zu bewahren, was zu mir gehört, das hat mir aber keine geraten. Genauso wenig wie mich sichtbar zu machen. Viel eher waren da Jahre von Warnungen in die andere Richtung. Zu redselig, zu laut, zu provokant, zu viel, zu viel, zu viel. Ja, vielleicht wärst du da ganz nützlich gewesen, vielleicht sogar ähnlich überlebenswichtig wie an all den dämmrigen Winterabenden.

Im Frühling vor drei Jahren war viel Sonne da. Aber die war im Garten und ich in meinem Zimmer. Mit nichts außer mir und eigentlich nichtmal das wirklich. Der Rat, mich zu schützen, war vor der Türe geblieben, schon seit dem Winter lungerte er irgendwo unter der Decke. Ohne und doch irgendwie durch mein Zutun wurde ich immer sichtbarer, zumindest das kaputte in mir. Mutters Rat uminterpretiert. Vielleicht hätte ich dich damals gebraucht. Dann hätte ich mich zeigen und Schutz kriegen können, ohne dabei und daran zugrunde zu gehen.

Heute war ich mit meinem Fahrrad bei diesem Jungen und an meinem Fahrrad sind Reflektoren. Bestimmt könnte ich dich mit deinen zwei Haken dazu klemmen. Vielleicht brauche ich dich aber gar nicht mehr. Denn da sind schon Reflektoren, eine silberne Lampe und ein rotes Rücklicht, und ich bin ja zu ihm gefahren. Bin nicht in meinem Zimmer sitzen geblieben und in meiner Angst. Vielleicht bräuchte ich dich in meinem Kopf. Um mich vor mir selbst zu schützen. Vielleicht bräuchte ich auch meine Eltern, die mir dasselbe raten wie in all den Wintern, jetzt aber mit einer Allgemeingültigkeit für das ganze Jahr und mein ganzes Wesen und mein ganzes Tun. Und vielleicht bräuchte ich deine Lichter in meinem Zimmer, tanzend und bunt und liebevoll, um darin zu versinken und zu flirren und zu wirbeln, elf weitere Winter lang.

 

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