Heimweg

Die Kette von meinem Fahrrad knackt und knackt und knackt. Ruhe, die Speiche dreht sich. Dann wieder ein Rattern. Die Schaltung ist eingefroren, die Bremse eiskalt. Auf dem Sattel taut der Frost unter dem Stoff meiner Hose. Ich lasse mein Tempo auslaufen, komme zum Stehen, erst einen Fuß auf dem Boden, dann beide. Schwarze Chucks auf glitzernd-grauem Asphalt. Hier ist niemand. Nur ich in dieser Dunkelheit. Über mir tausend Sterne und es werden mit jeder Sekunde mehr und sie scheinen so nah zu sein und so behütend. Den Mond kann ich nicht sehen, bloß zwei stählerne Laternen, dunkel und verziert, am Rand der Brücke. Und überall Bäume. Sie sind riesig und majestätisch und ihre kahlen Zweige ragen bis in den Himmel hinauf. Es ist ruhig hier. Lediglich in meinem Kopf schwingen noch die letzten Sequenzen nach, begleitet von einem angenehmen Fließen. Ich bin nicht auf dem Heimweg. Ich bin in Gedanken, unterwegs, bin hier. Unter diesem Sternenhimmel und den rahmenden Baumwipfeln. Ich bin dazwischen und darunter und mittendrin und außenvor und heute Abend finde ich das schön, denn dass ich bei mir immer und sowieso bin, dessen bin ich mir gerade so richtig bewusst.

Wohin Heval?

09-50-M1T2: Tutorium 2 zu „Einführung in die Ethnologie“ I Tutor: Ben Baumgarten I WiSe 2023 I Dicle Hisir I 6297869 I Assoziativer Text SL

Ich beobachte dich, einen dünnen, langen Stofffetzen. Einen halben Finger breit und fast sechs Finger lang, so dass ich dich vier Mal um mein Handgelenk wickeln könnte. Du strahlst in einem dunklen Grün, aber kein trauriges, in sich gekehrtes Grün. Ein Grün, welches mich anlächelt und je nach Anblick in seiner Helligkeit ab und zunimmt. Sanft, fein, wenn ich ehrlich bin, makellos, so fühlst du dich an, wenn ich langsam über die Mitte deiner Oberfläche streiche. An den Seiten bist du teilweise losgelöst in einzelne feine Fäden, aber habe keine Angst, du schaust trotzdem friedlich aus. Weißt du wem du ähnelst? Du ähnelst wunderschönem Satain, weil du unter jeder Bedingung glänzt, beinahe glitzerst. Besonders, wenn die Lichtstrahlen der Sonne auf dich treffen und dich, genauer gesagt jede Faser in dir, zum Leben erwecken. 

Ist es nicht verrückt, dass ich dich immer wieder gesehen habe-in der Heimat, auf Bildern aus der Heimat, an den Bäumen aus der Heimat, aber nie wirklich kannte? Wer du bist wusste ich nicht, so wie ich manchmal weinend da saß und vergessen habe, wer ich eigentlich bin. Und doch konnte ich nie wirklich wegschauen, wenn ich  auch nur für einen kurzen Augenblick das lächelnde Grün sah. An der Tür und am Schrank, bei Oma zuhause. Du hingst dort, gefestigt mit einem Knoten. Komischer Weise war es immer genau einer. Wie gerne hätte ich dich gefragt: „Woher kommst du heval, wohin geht dein Weg heval? Manchmal schaute ich dich für eine längere Zeit an, aber ohne Erfolg. Frustriert ging ich fort, inmitten der Enttäuschung nicht zu wissen warum du mein Herz erwärmst. Vielleicht weil du mein Herz beschützen und meinen Frieden behüten sollst. So ähnlich hat es mir zumindest Anne erzählt, als sie deine andere Hälfte an meine andere Hälfte gegeben hat, an abla. So musste es sein, weil grade sie doch mein innerer Frieden ist. Vielleicht aber auch, weil du zwischen dem Licht der Sonne und der unendlichen Freiheit der Berge geboren wurdest. Zwischen Eupharat und Tigris und das Feuer in dir trägst. 

Du hast das jahrelange Leiden mit deiner Sanftheit geheilt, Hoffnung in die bedrückten Herzen gesetzt und Müttern, die in Richtung der Berge weinen, ihre Tränen weggewischt. Dein Anblick ist rein, mag sein, dass man dich in der Vergangenheit zerpflückt hat und an manch Stellen deine wertvollen Fasern auseinandergerissen hat, aber doch bist du Ruhe und in deinem Dasein vollkommen. Die Menschen sind rein, mag sein, dass man sie vertrieben und gespalten hat, ihnen Unrecht und unwiderstehlichen Schmerz in die Brust niedergelassen hat, aber doch sind sie Widerstand. Du wehst im Wind, der zwischen Leben und Tod weht und tanzt zwischen den eng liegenden Schultern, die sich bereit erklärt haben, nicht aufzugeben. Du bist das, wonach sich meine Seele sehnt. Nach meinem Zuhause, dem Ort, wo ich genau wie du in der Sonne glitzere. Die Antwort, auf meine Frage, wer ich bin. Du bist ich, ich bin du, ateşin ve güneşin coğu, heval.  

 

 

*heval (kurdische Wort für Freund/Kamerad)