Was ich schlecht an solchen Beiträgen finde…
Letzte Woche war in der ZEIT ein Artikel mit dem Titel Spiele ohne Grenzen. Leider sind Journalisten forschungsmethodologisch scheinbar so schlecht ausgebildet, dass der Aussagewert des Artikels sehr gering ist und die meisten Aussagen falsch oder zumindestens irreführend sind!
Bevor ich zu einer inhaltlichen Analyse übergehe, stelle ich mal eine zunächst etwas provokante Frage. Wenn z.B. der Nobelpreis für Physik verliehen wird, dann schreibt darüber ein Wissenschaftsredakteur, der zusätzlich zu seiner Journalismusausbildung meist eine naturwissenschaftliches Studium absolviert hat.
Warum darf aber jeder über erziehungswissenschaftliche Forschung und Medienwirkungsforschung schreiben, z.B. ein ehemaliger Literaturredakteur (Info über den Autor unter hier sowie da), obwohl anscheinend das methodische Rüstzeug fehlt?
Das soll nun nicht heißen, dass nur Personen mit dem entsprechenden Methoden-Know-How zu dem Thema schreiben dürfen und sollen – nein, natürlich brauchen wir einen breiten Diskurs in der Gesellschaft, z.B. zu den Fragen “Wieviel Gewalt wollen wir in den Medien haben?” oder “Sollten Erwachsene auf ihren Zugriff auf Gewaltmedien verzichten, damit Jugendliche und Kinder nicht auf Umwege an sie herankommen?”. Denn da geht es nicht um “objektive” Forschung sondern auch um die Setzung von Normen. Unerträglich ist es jedoch, wenn Ergebnisse von Studien so verbogen werden, dass sie passend zur eigenen Meinung und Position sind und dem Leser als Beweis vorgelegt werden bzw. wie in diesem Fall, Themen vermischt sowie Aussagen von Wissenschaftlern unkritisch übernommen werden.
Noch schlimmer wird die Sache gerade weil die Sache so ernst ist. Solche Artikel zwingen Wissenschaftler dazu, erstmal den Wahrheitsgehalt des Artikels herauszuarbeiten, was sie sofort aus den Augen der interessierten Öffentlichkeit zu Verteidigern von (in diesem Fall) unterträglicher Gewalt in Videospielen macht.
So, genug zur Vorrede, jetzt mal zum Artikel. Direkt unter der Überschrift “Spiele ohne Grenzen” heißt es: “Je öfter ein Kind am Computer ballert, desto schlechter die Schulnoten, zeigt eine neue Studie. Die Spiele lassen eine Generation von Jungs verwahrlosen.”
Aha! Das ist interessant. Gibt es eine neue Studie, die eine Kausalwirkung von “Ballerspielen” auf die Schulnoten beweist? Gibt es eine Studie, die zeigen, dass das Spielen besonders brutaler Spiele zu einer Verwahrlosung führt? Lesen wir weiter im Text:
Der Artikel beginnt mit den Beschreibungen expliziter (und abstoßender) Gewalthandlungen in den Spielen GTA – San Andreas (USK ab 16), Backyard Wrestling (USK ab 16) sowie Der Pate (USK ab 18). Der Autor argumentiert, das seines Erachtens nach diese Spiele ob ihrer Gewalt auf den Index gehören und nicht verkauft werden sollten. Das ist ein (nachvollziehbarer) Standpunkt. Besonders bedenklich wird es, wenn man bedenkt, wer diese Spiele alle spielt. Hier kommt nun der informativste Teil des Beitrages – deskriptive Statistik ist halt doch am wenigsten falsch zu interpretieren:
Wie verbreitet die Spiele sind, untersuchte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in einer bundesweiten Umfrage unter 6000 Viertklässlern und 17.000 Neuntklässlern. Das Team des bekannten Kriminologen Christian Pfeiffer fand heraus, dass nahezu jeder zweite Junge im Alter von zehn Jahren bereits über eigene Erfahrungen mit Computerspielen verfügt, die erst ab 16 freigegeben sind. Jeder fünfte dieser Viertklässler spielte so ein Spiel zum Zeitpunkt der anonymen Befragung. Bei den 14- bis 15-Jährigen zeigt sich ein noch extremerer Befund: Vier Fünftel von ihnen spielen zumindest gelegentlich und jeder Dritte spielt sogar häufig Computerspiele, die erst für Erwachsene erlaubt sind.
Im Original liest sich das natürlich differenzierter.
Deutlich wird hier, dass der Jugendschutz nicht wirksam ist: Kinder und Jugendliche können Medien konsumieren, die nicht für sie bestimmt sind. Ein wichtiges Ergebnis der Studie.
Jetzt macht der Autor einen Sprung: “Wir wissen, dass Killer- und Folterspiele Nachahmungstaten anregen.” Aha! Denn, so Herr Lau: Kimveer Gills Lieblingsspiel war Super Columbine Massacre RPG – sicherlich ist dabei zu diskutieren, inwieweit dieses Spiel die Satire ist, die ihr Autor angeblich beabsichtigte, und ob das ganze nicht einfach nur geschmacklos ist. Zu lernen war dabei aber nichts, außer das die beiden Shooter zum Schluß im Orginalfoto tot auf dem Boden liegen. Robert Steinhäuser, der Amok(?)läufer aus Erfurt, so Lau, “der seine Nachmittage mit Ego-Shooter-Spielen verdaddelte”, ermordete “16 Menschen an seiner Schule, genau wie er es spielend gelernt hatte”. Trotz aller Lerneffekte von Computerspielen hat er das Schießen als Sportschütze im Erfurter Polizeisportverein gelernt. Bleibt die Frage, ob die Spiele zu einer Abstumpfung und größeren Gewaltbereitschaft geführt haben.
Während die Autoren der Originalstudie zusammenfassen: “Wir stellen fest: Entscheidend letztlich ist der Bildungsgrad der Eltern.” (siehe BLLV), übernimmt Lau lediglich die methodisch fragwürdige Kausalargumentation der Autoren und vermischt sie zusätzlich mit der Hypothese, dass das Spielen von Gewalttiteln zu einem weiteren Absinken der Leistung führt.
Die These von Pfeiffer lautet:
Je mehr Zeit Kinder mit Computerspielen verbringen und je brutaler die Inhalte sind, desto schlechter sind die Schulnoten. Dies betrifft vor allem Jungen, weil sie doppelt bis dreimal so viel spielen und brutalere Inhalte bevorzugen.
Kritisch wird das z.B. in der telepolis reflektiert:
Die ungeklärte Frage ist, ob die Verbindung zwischen Medienausstattung, Medienkonsum, Gewaltdarstellungen und Schulleistung direkt gekoppelt. Vermutlich dürfte der längere Medienkonsum stärker für das Absinken der Schulleistungen verantwortlich sein als die Gewaltdarstellungen. Nach der Befragung schneiden jedoch die Schüler im Klassendurchschnitt am schlechtesten ab, die stärker für sie nicht freigegebene Filme sehen oder solche Computerspiele nutzen.
Allerdings kommt noch ein weiteres, wichtiges Moment mit der Schulausbildung der Eltern hinzu. So könnte das in der PISA-Untersuchung festgestellte Nord/Süd-Gefälle bei den Schulnoten auch eine Folge der unterschiedlichen Einwohnerschichten sein. Ist in München das Bildungsniveau bei den Viertklässlern zu 52,8 Prozent hoch, so beispielsweise in Dortmund nur zu 24,7 Prozent. Bei den Neuntklässlern zeigte sich, dass die Arbeitslosigkeit und relative Armut in Dortmund gleichfalls sehr viel höher liegt. In Dortmund verbringen die Jungen an einem Schultag 3,3 Stunden mit Fernsehen und Computerspielen, in München nur 1,8 Stunden. In Dortmund empfehlen die Lehrer 29,9 Prozent der Jungen und 38,4 Prozent der Mädchen den Besuch des Gymnasiums, in München 48,5 Prozent der Jungen und 51,2 Prozent der Mädchen. Natürlich sind die Kinder von Eltern mit hohem Bildungshintergrund ganz allgemein in der Schule besser als Kinder von Eltern mit geringer Ausbildung.
Pfeiffer und Kollegen führen die schlechteren Schulleistungen der Jungen, der Schüler aus den nördlichen Bundesländer und mit Eltern, die ein geringeres Ausbildungsniveau haben, primär auf den gesteigerten Medienkonsum zurück, das alleine schon viel Zeit von der Beschäftigung mit Schulinhalten und anderen Tätigkeiten abzieht. Dazu gesellt sich weniger Bewegung, was Auswirkungen auf Kognition, Gewicht und Leistungsfähigkeit haben kann. Angeblich wird nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen in jungem Alter die Durchblutung des Gehirns und die Plastizität der Gehirnzellen durch Sport begünstigt. Starke emotionale Erfahrungen können auch, so spekulieren die Wissenschaftler, Lernprozesse beeinträchtigen und Vergesslichkeit von aktuell Gelerntem fördern. Sie weisen zudem auf mögliche Verbindungen zwischen Medienkonsum und dem Auftreten von Aufmerksamkeitsstörungen hin.
Eines ist klar aus der Studie herauszulesen: wir wissen aus der Studie deutlich mehr darüber, was Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten nachmittags machen als die Kinder aus der Mittelschicht: stumpf, kostengünstig und platzsparend vor der Konsole geparkt sein. Ob nun der Zugriff auf besonders gewalttätige Spiele zu einer kausalen Verschlechterung der Schulleistung beiträgt, oder sie nur eine weitere Kovariate eines möglichen Faktors “Bildungsferne der Eltern” oder “Mangelnde Betreuung” ist, kann anhand der vorgelegten Auswertung nicht gesagt werden. So unglaublich es auch klingen mag: anhand der bisher vorgelegten Auswertung und dem Querschnittsdesign ist leider nicht abzuleiten, ob die betroffenen Schüler aus den bildungsfernen Schichten nun schlechter durch die Konsole sind, oder ob sie vielleicht ohne die Konsolen noch schlechter wären. Klar liegt der Verdacht nahe, aber dann bitte differenziert argumentieren.
Um mal abschließend auf dem Niveau des Autors zu argumentieren:
Siehe (Schein)korrelationen zum Thema Videospiel und Aggressionen.
Mögliche Diskussionsaufgaben wären dazu:
- Wie kann die Kausalbehauptung von der Forschungsgruppe um Pfeiffer geprüft werden?
- Wie könnten die Aussagen durch eine Mehrebenenanalyse geschärft werden?
Mehr zu lesen gibt es hier:
- Ebenfalls differenzierter schreibt da die taz.
- Gegenpositionen von Henry Jenkins sowie Craig Anderson.
- Online Gaming und Gewalt im im Fantasy-Bereich: Keine Wirkung auf Aggressivität
Liste mit Studien (Anti-Gewalt) - Mehr Studien
- Selbst suchen
Am 7. November 2006 um 13:01 Uhr
http://meyerholz.wordpress.com/2006/11/07/gewalt-im-videospiel-konsequenz-unbekannt/