von Julian Ismail, Oliver Koch & Alina Wortmann
Was haben schlechte Manieren, Mitsprache am Arbeitsplatz oder Streit unter Geschwistern gemeinsam? Ganz einfach: Macht.
Macht ist dem Philosophen Bertrand Russell (1938) zufolge die Basis jeder sozialen Beziehung. Sie drückt sich darin aus, dass Personen in der Lage sind, andere durch die Bereitstellung oder Zurückhaltung von Ressourcen sowie das Verhängen von Strafen zu beeinflussen (Keltner et al., 2003). Diese Ressourcen und Bestrafungen können materiell sein, wie z.B. Essen oder Geld oder sozial im Sinne von z.B. Zuneigung oder Beschimpfungen. Jede Ressource und Bestrafung hat für jede Person einen anderen Stellenwert. Dieser wird von der individuellen Abhängigkeit der Personen von den Ressourcen bestimmt. Beispielsweise hat die Spende von Nahrungsmitteln bei Obdachlosen einen größeren Stellenwert als bei jemandem, der über ausreichend Essen verfügt.
Warum verfügen manche Menschen über mehr Macht als andere? Liegt es daran, dass sie besonders clever, attraktiv oder wohlhabend sind?
Diese Fragen können anhand der Annäherungs- und Hemmungstheorie der Macht von Keltner et al. (2003) geklärt werden. Laut der Theorie gibt es vier Einflussfaktoren, die einer Person Macht gegenüber einer anderen verschaffen; diese sind: 1) individuelle, 2) dyadische, 3) gruppeninterne und 4) zwischen-Gruppen Variablen.
Zu den individuellen Variablen zählen u. a. Persönlichkeitsmerkmale wie Dominanz oder Charisma. Auch bestimmte körperliche Attribute wie Körpergröße und Attraktivität können auf individueller Ebene mit erhöhter Macht assoziiert werden.
Die zweite Ebene der Einflussfaktoren stellen dyadische Variablen dar. Die im Kontext der individuellen Variablen genannten Eigenschaften bestimmen die Macht einer Einzelperson in Verbindung mit anderen Faktoren, wie das Interesse und das Engagement in Beziehungen. Das bedeutet, dass beispielsweise die Ressource Zuneigung nur dann die Macht steigert, wenn die andere Person diese als wertvoll erachtet. Wenn die andere Person die Zuneigung über andere Wege erhalten könnte, wird die Macht der ausübenden Person nicht gesteigert.
Zu der dritten Ebene, den gruppeninternen Variablen, zählen die Autorität beziehungsweise die Rolle, die eine Person innerhalb einer Gruppe einnimmt und der Status dieser Person. So bestimmen Rollen das Ausmaß, in dem Gruppenmitglieder anderen Personen Ressourcen zur Verfügung stellen können. Von formalen Hierarchien, wie sie in Organisationen vorkommen oder informellen Autoritätsstrukturen wie Hierarchien unter Geschwistern, hängt ab, welche Macht eine Person in dieser Gruppe besitzt.
Auch zwischen Gruppen existieren Variablen, die die Macht beeinflussen. Zu diesen Faktoren zählen u. a. die Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder Minderheitengruppe, die ethnische Zugehörigkeit, der sozioökonomische Stand oder das Geschlecht. Abhängig von den Ausprägungen der einzelnen Einflussfaktoren, sowie den zur Verfügung stehenden Ressourcen, verfügt eine Person über eine hohe oder niedrige Macht.
Wenn Macht die Grundlage jeder sozialen Beziehung ist, wie äußern sich dann die verschiedenen Machtausprägungen?
In sozialen Interaktionen zeichnen sich mächtige Personen, wie z. B. Donald Trump oder Wladimir Putin dadurch aus, dass sie häufiger ein zielorientiertes, egoistisches und sozial unangemessenes Verhalten zeigen. Außerdem achten sie vermehrt auf Belohnungen und darauf, wie andere ihre eigenen Interessen befriedigen können. Ebenso zeigen und erleben mächtigere Personen öfter eine positive Stimmung und positive Emotionen, wie Vergnügen oder Liebe (Anderson et al., 2001). Auf kognitiver Ebene, also den Denkprozessen, ist festzuhalten, dass mächtige Menschen automatische und weniger komplexe Denkmuster verwenden. Mächtige Menschen tendieren dazu, Menschen anhand von Stereotypen, also Vorurteilen, zu bewerten. Dies ist einfacher und schneller, vernachlässigt aber relevante individuelle Merkmale anderer Personen, was zu einer ungenauen Bewertung führt.
Personen, die über weniger Macht verfügen, verhalten sich in gewisser Weise genau gegenteilig. Sie tendieren dazu, ihr Verhalten vielmehr zu kontrollieren und achten darauf, ob ihnen durch ihr Verhalten eine Bedrohung oder Strafe droht. Das heißt, sie richten ihr Verhalten anhand der Situation aus, in der sie sich befinden. Sie nehmen sich selbst häufig als Mittel zum Zweck mächtiger Personen wahr und achten im Allgemeinen vermehrt auf andere Personen. Damit einhergehend verarbeiten sie Informationen detaillierter und nutzen komplexere Denkmuster, um die Konsequenzen des Verhaltens vorherzusagen. Außerdem zeigen und erleben sie häufiger negative Emotionen, wie z. B. Angst oder Schuld (Anderson et al., 2001).
Hier ist die Theorie veranschaulicht:
Bleiben mächtige Personen immer mächtig oder können sie ihre Macht verlieren?
Die Antwort darauf ist, dass Macht Grenzen hat. Es gibt drei Faktoren, welche das Ausmaß von Macht beeinflussen:
1. Stabilität der Macht und wahrgenommene Bedrohungen
Macht wird verringert, wenn die Machtverhältnisse innerhalb sozialer Systeme instabil sind, neu verhandelt werden oder wenn die Legitimität der Mächtigen durch z. B. Skandale bedroht wird.
2. Verantwortlichkeit
Wenn Personen in Machtpositionen wissen, dass ihre Handlungen transparent sind und sie für diese verantwortlich gemacht werden können, tendieren sie eher dazu, soziale Konsequenzen ihres Handelns zu bedenken und die Interessen anderer zu berücksichtigen.
3. Individuelle und kulturelle Unterschiede
In Kulturen, in denen Machtunterschiede weniger toleriert werden, wird das Verhalten Mächtiger eingeschränkt und Personen mit wenig Macht dazu motiviert, Machtpositionen in Frage zu stellen.
Macht im Arbeitsalltag: Kennst du auch das Gefühl der Machtlosigkeit am Arbeitsplatz?
Du äußerst deine Meinung und machst Vorschläge zur Lösung eines ethischen Problems, doch deine Führungskraft nimmt deine Meinung kaum wahr und handelt nach eigenen Vorstellungen. Es ist daher wenig verwunderlich, dass viele Mitarbeitende eine psychologische Hürde aufbauen und ihre Meinung am Arbeitsplatz nicht mehr äußern (Morrison, 2011). Positiv ist, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden dennoch motivieren können, ihre Meinung zu äußern, indem sie ihnen ein Gefühl der Macht vermitteln.
Lin et al. (2017) untersuchten, ob demütige Führungskräfte Mitarbeitende zu mehr Mitsprache bewegen können und was das persönliche Machtgefühl und die Machtdistanz damit zu tun haben. Zur Untersuchung der Fragestellung wurden 50 Führungskräfte und 232 Mitarbeitende eines großen chinesischen Pharmaunternehmens befragt.
Die Studie bestätigte die Annahme, dass die Bescheidenheit der Führungskraft eine entscheidende Rolle spielt. Eine bescheidene Führungskraft weiß Stärken und Beiträge ihrer Mitarbeitenden zu schätzen und zeigt sich belehrbar. Dadurch beeinflusst sie positiv, dass Mitarbeitende ein erhöhtes persönliches Machtgefühl haben und sich respektiert fühlen. Daraus entwickelt sich wiederum ein stärkeres Gefühl, die eigene Führungskraft beeinflussen zu können.
Wie erwähnt, führt Macht zur Aktivierung verhaltensbezogener Annäherungssysteme, z. B. ein enthemmtes Verhalten. Dieses äußert sich darin, dass Mitarbeitende ihre eigenen Ziele verfolgen und aktiv ihr Arbeitsumfeld beeinflussen. Darüber hinaus trägt das stärkere Machtgefühl dazu bei, dass sich Mitarbeitende als Machthabende sehen und mehr Freiheiten in ihrem Umfeld wahrnehmen. Zudem nutzen ermächtigte Mitarbeitende dadurch ihr Mitspracherecht häufiger.
Welche Rolle spielt die kulturelle Machtdistanz, also die Vorstellungen über Status, Autorität und Macht?
Mitarbeitende mit niedriger Machtdistanz haben öfter persönliche Beziehungen zu Führungskräften und erwarten häufiger, konsultiert zu werden. Deshalb trauen sie sich eher, ihre Meinung am Arbeitsplatz zu äußern, um Veränderungen hervorzurufen. Hingegen sind Mitarbeitende mit einer hohen Machtdistanz weniger geneigt, ihre Meinung gegenüber ihren Führungskräften zu äußern, selbst wenn sie glauben, dass sie die Macht haben, diese zu beeinflussen (Lin et al., 2017).
Fazit: Welche Schlüsse kannst Du hieraus für die Praxis ziehen?
In unserer komplexen Welt sollten Unternehmen Führungskräften vermitteln, dass Bescheidenheit ein zentraler Faktor zur Ermächtigung von Mitarbeitenden ist. Durch ermächtigte Mitarbeitende können Führungskräfte Unterstützung erhalten, um schnell adaptive Maßnahmen zu entwickeln und unübersichtliche, dynamische Probleme zu bewältigen. Dies trägt zum effektiven Funktionieren und zum ethischen Management von Gruppen und Organisationen bei (Argandona, 2015).
Konkrete Maßnahmen sind Führungskräftetrainings zu Bescheidenheit und Ermächtigung von Mitarbeitenden sowie stärkenorientierter Führung, um ihre Mitarbeitenden angemessen zu würdigen und sich der eigenen Grenzen und Fehler bewusst zu werden. Daneben sollte bei der Personalauswahl auf die Machtdistanz der Mitarbeitenden geachtet werden (Lin et al., 2017).
Literatur:
Anderson, C., Langner, C., & Keltner, D. (2001). Status, power, and emotion. Unpublished manuscript.
Argandona, A. (2015). Humility in management. Journal of Business Ethics, 132(1), 63–71. https://doi.org/10.1007/s10551-014-2311-8
Keltner, D., Gruenfeld, D. H., & Anderson, C. (2003). Power, approach, and inhibition. Psychological Review, 110(2), 265–284. https://doi.org/10.1037/0033-295X.110.2.265
Lin, X., Chen, Z., Tse, H., Wei W. & Ma, C. (2017). Why and When Employees Like to Speak up More Under Humble Leaders? The Roles of Personal Sense of Power and Power Distance. Journal of Business Ethics 158, 937–950. https://doi.org/10.1007/s10551-017-3704-2
Morrison, E. W. (2011). Employee voice behavior: Integration and directions for future research. Academy of Management Annals, 5(1), 373–412. https://doi.org/10.1080/19416520.2011.574506
Russell, B. (1938). Power: A new social analysis. London: Allen and Unwin.
Bildquellen:
Unsplash (2018). https://unsplash.com/de/fotos/silhouette-der-person-TzVN0xQhWaQ