Teilnehmende Beobachtung 21.12.2021 – Hilal

Ich habe mich am 21.12. auf dem Weg zu meiner dritten Corona-Impfung entschieden, die
Beobachtungsaufgabe an diesem Tag durchzuführen.

Es ist ein eher dunkler Tag, es herrschen Minusgrade und es hat die Nacht zuvor gefroren.
Um 14:05 Uhr komme ich an der Bahnhaltestelle „Am Brill“ an und begebe mich zu dem
derzeit leerstehenden Gebäude der Sparkasse, welches zurzeit als eine der Bremer
Impfstellen dient. Dort angekommen, begegnet mir eine sehr lange Schlange an Menschen,
die ich entlanglaufe. Sie ist ca. 1 km lang, auf diesem ich mir die Menschen anschaue, die alle
anstehen und auf ihre Impfung warten.

Auf den ersten und kurzen Blick, den ich im Vorbeigehen bekomme, zeigen sich in den
Gesichtern keine groß variierenden Emotionen. Die meisten stehen eher regungslos in der
Schlange, unterhalten sich mit ihren Begleitungen oder blicken denjenigen entgegen, die an
ihnen vorbeilaufen, mich eingeschlossen. Auf einigen Gesichtern erkennt man amüsierte
Gesichtsausdrücke als Reaktion auf meinen eigenen Ausdruck, der etwas genervt und
überrascht über die scheinbar endlose Schlange wirkt.

Am Ende angekommen, stelle ich mich an. Es ist 14:15 Uhr. Vor mir stehen ein Mann und
eine Frau zusammen, eng beieinander und leise redend. Ich bin nicht lange die letzte Person
in der Schlange, einige Augenblicke nach mir stellt sich schon die nächste an. Es ist eine
junge Frau, ich würde sie auf Anfang 20 schätzen. Direkt nach ihr stellen sich bereits die
nächsten an; zwei ältere Damen, die zusammen gekommen sind.
Die allgemeine Stimmung unter den Menschen in meiner Umgebung ist ruhig, einige
unterhalten sich entweder ruhig oder gar nicht. Es stellen sich weitere an, sodass ich schon
das Ende der Schlange nicht mehr überblicken kann.

Die junge Frau hinter mir hat Kopfhörer im Ohr und schaut sich, genauso wie ich, die
Umgebung und ab und an die vorbeilaufenden Menschen an. Ein Herr teilt im Vorbeigehen
seiner Begleitung mit: „Guck mal, wie lang die Schlange ist. Wollen wir uns wirklich
anstellen?“. Da sich der Überblick über das aktuelle Ende der Schlange schwierig ist, kann ich
nicht sehen, ob die beiden sich entscheiden zu bleiben, um ihre Impfung zu erhalten.
Die zwei Damen hinter der jungen Frau unterhalten sich über ihre jeweiligen
Weihnachtspläne.

Da es sehr kalt ist, beobachte ich viele dabei, wie sie versuchen sich einigermaßen warm zu
halten, indem sie sich auf der Stelle bewegen, sich die Hände reiben oder auf und ab
springen. Ich versuche mich auch etwas zu bewegen und bewege mich auf der Stelle von
einer Seite zur anderem, um meine Füße etwas warm zu bekommen. Die Schlange bewegt
sich immerhin weiter nach vorne und ich bin fast am Eingang des Gebäudes angekommen.
Es ist 15:05 Uhr. Ich frage die junge Frau hinter mir, um wieviel Uhr sie ursprünglich ihren
Termin gehabt hätte. Sie antwortet mir mit 14:15 Uhr; meiner wäre um 14:10 Uhr gewesen.
Ich versuche sie etwas aufzumuntern, indem ich sage, dass wir es fast geschafft haben und
es bestimmt nicht mehr als zehn Minuten dauern sollte bis wir immerhin ins warme
Gebäude können. Wir bewegen uns weiter nach vorne und sind um 15:15 Uhr im Gebäude,
um uns impfen lassen zu können.

 

Die beiden Damen, die sich über ihre Weihnachtspläne unterhalten haben, schienen
Freundinnen und nicht Verwandte zu sein. Sie haben eher oberflächlich Informationen
ausgetauscht und Smalltalk gehalten. Auch könnte man denken, dass sie vielleicht in diesem
Umfeld mit anderen fremden Menschen nicht über Tieferes sprechen wollten. Es kam jedoch
herüber als wären die beiden nur Freundinnen, die sich nicht sehr regelmäßig treffen und
sich entweder zeitgleich Impftermine gemacht oder sich zufällig getroffen haben.
Die junge Frau hinter mir hat nicht viel geredet und sah nicht aus als hätte sie das Gespräch
zwischen uns angefangen. Jedoch hat sie offen mit mir gesprochen als ich anfing, sie etwas
zu fragen. Später im Sparkassen-Gebäude kam auch eine persönliche Frage von ihr an mich,
woran ich sehen konnte, dass nicht jede passiv-wirkende Person es auch ist. Man möchte
vielleicht nicht aufdringlich wirken, da der Mensch gegenüber ein unbekannter ist und vom
Aussehen allein kann kein Mensch eingeschätzt werden.
Diese drei Personen waren mir die nächsten und diese habe ich die meiste Zeit
„beobachtet“.

Auch interessant ist das Gefühl der temporären Verbundenheit in dieser Gemeinschaft an
Menschen, die sich alle nicht kennen, zusammen in der Kälte stehen und alle dasselbe Ziel
haben: die Corona-Impfung. Obwohl ich persönlich niemanden kannte, habe ich mich schon
etwas „zugehörig“ gefühlt und bin nicht dem Gedanken nachgegangen, mich nicht am Ende
dieser langen Schlange anzustellen als ich dort anstand und nicht wusste, wie lange ich
warten muss bis ich endlich an der Reihe sein würde. Ich hatte nämlich folgenden Gedanken:
„Wenn alle anderen hier anstehen und nicht gehen, kann ich das auch“. Geteiltes Leid soll ja
halbes Leid sein und so entstand in dieser Situation eine Art Zugehörigkeit für mich, die ich
mir bei einigen anderen Menschen in dieser Schlange auch vorstellen könnte.

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