Wie unsichtbare Annahmen sichtbare Hierarchien bilden

 > von Jonas Rheinwald, Philipp Hahling, Yannik Himstedt & Katharina Haller

Habt ihr oft das Gefühl in manchen Gruppen nicht entsprechend wahrgenommen zu werden, sei es am Arbeitsplatz oder auch woanders? Wird anderen dafür umso mehr Beachtung geschenkt und ihr versteht nicht wieso? Woran dies liegen könnte und wie das möglicherweise mit der Gender-Pay-Gap zusammenhängt, soll in diesem Beitrag erklärt werden.

In der Stark AG wird die gesamte Marketingabteilung umstrukturiert. Aufgrund des starken Wachstums im letzten Jahr wird zudem viel neues Personal eingestellt. Die einzelnen Teams werden völlig neu zusammengewürfelt. Sabine freut sich riesig, dass sie von nun an die Werbeanzeigen mitgestaltet, denn in diesem Bereich liegen ihre Stärken. Sie hat vor, sich einzubringen und strebt eine leitende Position an. In ihrem letzten Team kam sie sich nämlich wie eine Mitläuferin vor. Die Strukturen waren dort ziemlich starr und eingefahren. Das soll sich jetzt ändern! Am Tag des Kennenlernens des neuen Teams hält sie sich zunächst bedeckt, um ihre neuen Teammitglieder zu beobachten. Kurt fällt ihr besonders auf. Er zeigt sich sehr kommunikativ und betont zudem seine Erfahrungen im Bereich der Werbung. Sabine ist davon eher weniger beeindruckt. Sie findet, dass sie selbst mehr Expertise mitbringt. In den darauffolgenden Tagen werden die ersten Kampagnen geplant. Kurt kommt ihr mit den guten Ideen zwar immer zuvor, Sabine zeigt sich aber trotzdem äußerst motiviert. Nach einiger Zeit hat sich eine Hierarchie in dem neuen Team etabliert. Kurts anfängliche Dominanz verhalf ihm an dessen Spitze. Sabine ist frustriert. Wie konnte es so weit kommen? 

 

Welche Aspekte Einfluss darauf haben, wer an der Spitze einer Hierarchie steht 

Die Beobachtung von Unterschieden innerhalb von sozialen Gruppen bildet den Nährboden für Ungleichheit. Aus diesen Beobachtungen schließen wir auf die Kompetenz einer Person und erwarten eine entsprechende Leistung. Daraus bildet sich mit der Zeit eine Statushierarchie. Diese wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Treibende Kräfte sind (a) Merkmale der Person, (b) Belohnungen und (c) Verhaltensmuster. 

 

(a) Dass Kurt der Ranghöchste der sozialen Hierarchie wurde, ist nicht verwunderlich. Dies ist auf sein Geschlecht zurückzuführen. 

Die Wahrnehmung bestimmter Merkmale lässt uns unbewusst auf Kompetenz dieser Person schließen. Zwei Arten von Merkmalen sind hier relevant: 

Spezifische werden in Bezug auf eine Aufgabe gebildet. So nehmen wir an, dass jemand mit Computerexpertise fähiger ist, wenn sich die Aufgabe auf etwas technisches bezieht. Diffuse ziehen eine allgemeine Betrachtung hinzu und beziehen sich auf das Geschlecht oder die Herkunft. So wird beispielsweise wahrgenommen, dass ein Mann generell kompetenter ist als eine Frau. Auf Basis dieser Merkmale erwarten wir eine bestimmte Leistung von einer Person. Diese Leistungserwartungen werden in eine Hierarchie innerhalb der sozialen Gruppe umgewandelt. 

 

(b) Kurt ist bereits viele Jahre in der Stark AG angestellt. Er erhält ein höheres Gehalt als Sabine und besitzt zudem ein schöneres Büro. Dadurch wird Kurt mehr Kompetenz zugesprochen, was sich wiederum positiv auf seinen Rang in der Hierarchie auswirkt.  

Eine ungleiche Verteilung von Belohnung ist an die Erwartungen bzgl. der Leistung einer Person geknüpft. Eine Art von Belohnung ist z. B. das Gehalt. Erfahren oder erwarten wir beispielsweise, dass jemand viel verdient, sprechen wir ihm auch viele Einflussmöglichkeiten zu. Weiterhin erwarten wir, dass diese Person eine hohe Leistung erbringt. So scheint die höhere Bezahlung als gerechtfertigt. Daraus bildet sich eine neue oder festigt sich eine bestehende Hierarchie. 

 

(c) Anfangs versuchte Sabine ihre Ideen einzubringen. Allerdings hat Kurt seine Vorschläge oftmals durchsetzen können. Mit der Zeit hat er im Team viel Respekt erlangt. Aufgrund der durchweg positiven Bewertung werden größtenteils Kurts Ideen umgesetzt.

Die Verhaltensmuster sind ein weiterer Indikator für die Kompetenz einer Person. Hier bildet sich eine wechselseitige Beziehung: Die dominanteste Person der Gruppe hat ein hohes Durchsetzungsvermögen. Die Ideen werden respektiert und positiv bewertet.  Außerdem wird sie insgesamt als kompetenter wahrgenommen. Das bestärkt sie, in Zukunft weitere Aufgabenvorschläge zu machen. Diese Beziehung kann abhängig von unterschiedlichen Merkmalen sein – so tritt ein Mann häufig durchsetzungsfähiger auf als eine Frau. Gleiches gilt, wenn eine Person eine für die Aufgabe relevante Ausbildung vorweist. So ist es für Kurt zusätzlich förderlich, dass er seine vorhandene Expertise bereits beim Kennenlernen postuliert. 

 

Zwischen diesen drei Aspekten gibt es spannende Verlinkungen. Die Sozialpsychologen Stewart und Moore untersuchten in einer Studie, inwiefern Lohnunterschiede und die angenommene Leistungsfähigkeit zusammenhängen. Die Versuchspersonen wurden paarweise zugeteilt. Einige Paare erhalten Informationen über eine Entlohnung für die Teilnahme an der Studie, wobei einer der beiden mehr Geld erhält. Im Folgenden lösen sie die gleiche Aufgabe in Einzelarbeit. Vor Abschluss der Aufgabe kann die eigene Lösung mit der des Gegenübers verglichen werden. In 80 % der Fälle wird angezeigt, dass der*die Partner*in die Aufgabe anders gelöst hat. Nun besteht die Möglichkeit, bei der ursprünglichen Meinung zu bleiben oder die eben gezeigte Lösung anzunehmen. Anhand dessen untersuchten Stewart und Moore, inwiefern sich Personen bei der Lösung einer Aufgabe beeinflussen lassen. In dem Zusammenhang betrachteten sie zudem, ob die unterschiedliche Entlohnung darauf einen Einfluss hat. Die Untersuchungen belegen vorhandene Unterschiede der Einschätzung der Leistungsfähigkeit in Abhängigkeit von der Entlohnung. Männer und Frauen, die mehr verdienen als ihr*e Partner*in, sind widerstandsfähiger gegen die Beeinflussung durch diese*n Partner*in. Daraus kann man schließen, dass Kurt aufgrund seines Gehalts durchsetzungsfähiger auftritt. Sprich, die in Abschnitt (b) aufgezeigten Belohnungen können auf die in Abschnitt (c) erklärten Verhaltensweisen wirken. 

Weitere Untersuchungen deuten auf einen Unterschied zwischen den Geschlechtern hin. Gutverdienende Männer treten widerstandsfähiger gegenüber weniger verdienenden Frauen, als gegenüber weniger verdienenden Männern auf. Weniger Gehalt wird mit geringerer Kompetenz assoziiert. Der Gender-Pay-Gap verstärkt so die Ungleichheit der Geschlechter. Die geringe Anzahl weiblicher Führungskräfte ist also nicht verwunderlich. So ist Kurt beständiger gegen Widerworte von Sabine, als von männlichen Kollegen. Diffuse Merkmale (siehe Abschnitt a) beeinflussen also vor allem, wie Männer sich verhalten.  Müssen Kurt und alle anderen Männer Feministen werden und Frauen mehr Fähigkeiten zusprechen? Ganz so einfach ist das nicht. 

 

Die soeben thematisierten Überzeugungen sind einvernehmlich, das heißt, sowohl Männer als auch Frauen teilen diese Ansichten. Das führt dazu, dass Frauen auf eine dementsprechende Art und Weise handeln. Das bestärkt Männer zusätzlich in ihrer dominanten Rolle.  

Es liegt nicht an dem Geschlecht, dass Frauen nicht als Führungskraft angesehen werden. Vielmehr steckt die Erwartung dahinter, dass sie weniger kompetent sind und auch so auftreten, eben weil sie eine Frau sind. Zusätzlich werden ihre guten Ergebnisse sehr kritisch hinterfragt, weil von ihnen keine guten Leistungen erwartet werden. Diese Phänomene sind nicht auf das Geschlecht limitiert. Ähnliches gilt beispielsweise für die Hautfarbe von Menschen. Schwarze Personen werden aufgrund ihres Erscheinungsbildes als weniger fähig eingestuft. Somit sind auch sie seltener in leitenden Positionen zu finden. Es wird deutlich, dass das Gehalt in der Praxis zumindest einen ersten wichtigen Dreh- und Angelpunkt darstellt, um der Ungleichheit entgegenzuwirken.

 

Was bedeutet das für uns?

An den Beispielen von Kurt und Sabine lässt sich erkennen, dass es nicht so einfach ist, sich an die Spitze zu kämpfen. Viele Faktoren spielen in die Entstehung von Statushierarchien und Leistungserwartungen von Beschäftigten. Belohnungsstrukturen, Verhaltensmuster und Überzeugungen, aber auch Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit eines*einer Beschäftigten haben dabei großen Einfluss. Die daraus entstandenen unbewussten Annahmen lassen ungleiche Strukturen entstehen. Das Verständnis der Entstehung und Reproduktion von Ungleichheit hilft diesem entgegenzuwirken. Der Schlüssel für eine Auflösung solcher ungerechten Strukturen ist die Aufklärung über die beschriebenen unbewussten Annahmen, denn die Wichtigkeit der Faktoren sind nicht dauerhaft festgeschrieben und somit veränderbar. Weiterhin können betriebliche Maßnahmen der Entstehung von Ungleichheiten entgegenwirken. 

Der in der Studie beobachtete wahrgenommene Kompetenzunterschied zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz zeigt eine sehr lange bestehende Baustelle auf. Diese vorherrschenden Einschätzungen können sich in aber Zukunft auch ändern. Männer- und Frauenbilder haben sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt und wir rücken einer Gleichstellung der Geschlechter im Alltag und im Beruf näher und näher.

 

Literaturquellen

Correll, S. J., & Ridgeway, C. L. (2006). Expectation states theory. In Handbook of social psychology (pp. 29-51). Springer, Boston, MA.

Human Development Report Office (2020). Human Development Perspectives. Tackling social Norms – A game changer for gender inequalities. New York. 

Stewart, P. A., & Moore Jr, J. C. (1992). Wage disparities and performance expectations. Social Psychology Quarterly, 78-85.

 

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