RV11 // Prof. Dr. Florian Schmidt-Borcherding // Die kognitiven Dimensionen von Lernerfolg: Intelligenz vs. Vorwissen

  • Welche Rolle spielen Intelligenz und Vorwissen für erfolgreiches Lernen? In welchem Verhältnis stehen diese beiden Heterogenitätsdimensionen zueinander? Wie hat man ihren jeweiligen Einfluss auf Lernerfolg empirisch untersucht?

Im Vortrag von Prof. Schmidt-Borcherding hat mich zunächst die hohe Korrelation von Intelligenz und Schulerfolg überrascht (Folie 17), der sich auf eine eher aktuelle Quelle (2007), aber auch auf Forschungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts (Binet&Simon 1905, zit. nach Schmidt-Borcherding 2023) beruft. Relevant ist dabei, dass das Konzept der Intelligenz sich seit 1905 stark ausdifferenziert hat und man den Intelligenzbegriff von 1905 sicher nicht mit dem heutigen Begriff gleichsetzen kann; insbesondere haben sich die empirischen Verfahren zur Messung von Intelligenz verändert.

Ein Konzept der allgemeinen Intelligenz, die im Alter von 11 Jahren bereits den Schulerfolg mit 16 Jahren zu über 70 % voraussagen kann, bringt recht dramatische Konsequenzen für die Gestaltung des Schulsystems einerseits und für die Selbstwirksamkeitserwartung von Lehrkräften andererseits mit sich. Sieht man Intelligenz als Prädiktor für Schulerfolg an, ergeben sich daraus Schlussfolgerunden wie die Etikettierung von Menschen mit einem geringen Intelligenzquotienten als sog. „geistig behinderte Menschen“ und die Schaffung von (Sonder-)Schulen für diese Menschen, andererseits die Einrichtung von Gymnasien für Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten. Eine Intention, die zumindest von Binet&Simon 1905 auch so formuliert wurde. Wenn andererseits mit der Intelligenz bereits der Schulerfolg „programmiert“ ist, scheint andererseits der Einfluss der einzelnen Lehrkraft als gering. Dies legt problematische Haltungen nahe, ein Schulversagen oder einen Schulerfolg einseitig den Anlagen der Schüler:innen zuzuschreiben und die Verantwortung für den Erfolg aller Schüler:innen zu negieren.

Andere Forschungen widersprechen diesem herausragenden Einfluss der Intelligenz, dargestellt z.B. im Koeffizientenmodell von Langfeld (2014, zit. nach Schmidt-Borcherding 2023) auf Folie 27. Diese stehen in Übereinstimmung mit Studien, in denen Intelligenz und Wissen simultan als Prädiktoren für (schulische) Leistungen untersucht wurden (vgl. Gruber/Stamouli 2020, S. 36). Hier zeigte sich, dass das bereichs- (also auch Schulfach-)spezifische Vorwissen der größere Prädiktor für den weiteren Wissenserwerb bzw. weitere schulische Leistungen zu sein scheint: „Stern (1997) zeigte, dass die Mathematikleistung in der 11. Klasse eng mit der Mathematikleistung in der Grundschule zusammenhängt, enger als mit der Intelligenz der Schüler. Offenbar muss man sich über einen längeren Zeitraum mit mathematischen Problemen auseinandersetzen, wenn man gut in Mathematik werden möchte“ (ebd.). Intelligenz scheint eher in den frühen Lernphasen eine Voraussetzung für den Erwerb des bereichsspezifischen Wissens zu sein. Deutlich wird auch: Weder Intelligenz noch bereichsspezifisches Wissen sind verzichtbar. Wer nur über Wissen verfügt, dies aber nicht intelligent anwenden kann, kommt genauso wenig zum Erfolg wie eine Person, die zwar intelligent aber ohne das erforderliche Wissen ist.

Für die (Grund-)Schule ist zu beachten, dass bereits in der ersten Klasse Schüler:innen mit unterschiedlichen Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Intelligenz, aber insbesondere auch hinsichtlich ihres Vorwissens und ihrer Vorerfahrungen anzutreffen sind. Ein Unterricht, der darauf nicht eingeht und somit „ungleiche gleich behandelt“, wird nicht nur nicht allen Schüler:innen gerecht, sondern wirkt (indirekt) diskriminierend (vgl. Gomolla/Radtke, 2002, S. 264).

  • Was konnten Sie in Ihren bisherigen Praxiserfahrungen über den Umgang mit heterogenem Vorwissen von SuS beobachten? Welche Erfahrungen haben Sie selbst vllt. schon mit (mangelnder) Kenntnis oder (falschen) Annahmen über den (Vor-)Wissensstand Ihrer SuS gemacht?

Mein Orientierungspraktikum habe ich in einer ersten Grundschulklasse geleistet. Durch meine Beobachtungen wurde schnell deutlich, wie weit sich die Vorkenntnisse bereits am Schulanfang unterscheiden. Während einige Schüler:innen bereits kurze Sätze lesen konnten, kannten andere noch nicht alle Buchstaben des Alphabets. Im Mathematikunterricht zeigten sich unterschiedliche Zahlenräume und Zahlvorstellungen, über welche die Kinder bereits verfügten. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen treffen beispielsweise dann in einem als „Leselehrgang“ angelegten Unterricht zusammen. Wenn dann ein „neuer“ Buchstabe eingeführt wurde und ihn am Ende der Stunde ein Großteil der Schüler:innen beherrschten, stellte sich mir die Frage, welcher Lernfortschritt hier eigentlich geleistet wurde. Für einige Schüler:innen anscheinend ein beträchtlicher, denn sie konnten nun einen Buchstaben verwenden, der ihnen vorher unbekannt war. Für andere war der Buchstabe schon längst fest in ihrem (deklarativen und prozeduralem) Wissen verankert – etwas Neues hatten sie eigentlich nicht gelernt. Und vereinzelt gab es auch Schüler:innen, die ihn am Ende der Stunde noch nicht sicher erkennen und benennen konnten – welche Lernvoraussetzungen fehlten bei ihnen wohl? Und was hätten sie gebraucht, um einen Lernfortschritt zu machen?

  • Einige Befunde zur Rolle von Intelligenz und Vorwissen beim Lernen waren für Sie möglicherweise überraschend. Oder Sie sehen einige der Forschungsergebnisse kritisch in Bezug auf Schule und Unterricht. Welche Forschungsfragen ergeben sich daraus (z.B. für Ihr nächstes Praktikum)? Und wie können Sie diese Fragen beantworten?

Überraschend waren für mich – wie in Aufgabe 1 dargestellt – die unterschiedlichen Ergebnisse dazu, ob eher die Intelligenz oder eher das Vorwissen die ausschlaggebende Voraussetzung für Lernerfolg ist. Schlüssig erscheint mir am ehesten eine Wechselwirkung zwischen beiden Konzepten, die nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Neben den empirischen Ergebnissen dürfte aber auch das Bild sein, das Lehrer:innen sich machen: Haben sie eher die subjektive Theorie (vgl. Groeben et al. 1988, S. 17ff und S. 286ff), dass sie ihre Schüler:innen unterschiedlich intelligent sind und der Intelligenzquotient dabei ein relativ feststehendes Persönlichkeitsmerkmal ist? Oder haben sie eher die subjektive Theorie, dass sie sich in ihren Vorerfahrungen und ihrem Vorwissen unterscheiden und daher unterschiedliche Zugänge zu einem Lerngegenstand haben? Dann würden sie von einem eher veränderlichen Konzept ausgehen! Im ersten Fall würden sie vermutlich der Aussage zustimmen, dass es so etwas wie „Förderschüler“ oder „Gymnasialschüler“ gibt und bestimmte Schüler:innen in bestimmten Schulformen richtig aufgehoben sind. Oder manche eben einfach „kein Mathe können“. Dies führt zu einer Entlastung von Verantwortung bei der Lehrkraft und zu eher passiven oder substitutiven Strategien (vgl. Weinert 1997, zit. nach Helmke S. 246f). Folgen sie hingegen der zweiten Annahme, dann führt dies eher dazu, dass sie ihren Unterricht an das unterschiedliche Vorwissen anpassen müssten und vielfältige Zugänge schaffen müssen, oder aber auch zu kompensatorischen Strategien.

Für das nächste Praktikum könnte ich mir vorstellen, Lehrkräften genau diese Fragen zu stellen: Kannst du die Intelligenz deiner Schüler:innen einschätzen? Wie wichtig ist sie für deinen Unterricht? Wie ermittelst du das Vorwissen, und wie reagierst du darauf? Gerade im Sachunterricht bietet sich diese Frage an, da die Didaktik hier ja auch explizit auf Präkonzepte der Schüler:innen eingeht.

 

Quellen:

Gomolla, M.; Radtke, F. (2002). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske+Budrich.

Groeben, N. et al. (1988). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Francke Verlag, Tübingen.

Gruber, H., & Stamouli, E. (2020). Intelligenz und Vorwissen. In E. Wild & J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 25–44). Heidelberg: Springer.

Helmke, A. (2009). Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze-Velber: Klett-Kallmeyer. (Kapitel 4.9)

Klafki, W. (2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6. Aufl., Weinheim und Basel: Beltz.

Schmidt-Borcherding, F. (2023). Die kognitiven Dimensionen von Lernerfolg: Intelligenz vs. Vorwissen. Unveröffentlichte Vorlesungsfolien, Universität Bremen.


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