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Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa.

„Ein Rinnsal im Vergleich“

Eine Rezension von Flora Noelle Wiegand

Philipp Ther (2017): „Die Außenseiter. Flucht Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“, Erste Auflage, Surkampverlag, Berlin, ISBN: 978-3-518-42776-7

Spätestens seit 2015 sind die Bilder von Menschen, die ihr Hab und Gut aufgeben mit der Hoffnung in einer ungewissen Zukunft ein neues Leben anfangen zu können allseits präsent. Der Wiener Osteuropa Historiker Phillipp Ther zeigt uns in „Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa“, erschienen 2017 im Surkamp Verlag, das Bild eines modernen Europas, in dem Millionen Menschen schon immer unterwegs und auf der Flucht gewesen sind. Stellvertretende für all diese fragt er: Wie schaffen sie es?

„Schaffen“ ist in allen Formen zu verstehen, es ist das blanke Überleben, ansässig werden, die Landessprache sprechen, Arbeit finden, Rechte erhalten, heiraten in die aufnehmende Gesellschaft, aufsteigen, Kinder einschulen. Nach dem Ankommen zu fragen bedeutet, die Fliehenden als Akteure der europäischen Geschichte ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass die Menschen, die über die  Jahrhunderte Flüchtlingsströme bildeten zuweilen „Rinnsale im Vergleich“ zu den Millionen Menschen waren die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts unterwegs waren.

Seit 1492 wurden eine halbe Million Juden und Muslime in und um Europa vertrieben  – ständig brechen zahllose Menschen, weil sie aus religiösen, nationalistischen oder politischen Gründen verfolgt werden, sich irgendwie durchschlagen, nie oder irgendwo ankommen, meistens auf Generationen hinaus nur irgendwie überleben, und dann schaffen sie es endlich doch.

Ther wählt einen weiten Europabegriff, der sich über die Grenzen eines EU-zentrischen Bildes hinaus geht. Er bezieht „Nachbarräume“ ein. Nationalstaatliche Grenzen verschwimmen im historischen Hin und Her von Herrscherwechseln, Kriegen und Völkerwanderungen. Exkurse in der Erzählung reichen bis nach Syrien und so wird deutlich, dass es kein „geographisches Europa“ gibt.

In einem Netz aus persönlichen Biografien von Geflüchteten, chronologischen Darstellungen und Epochenübersichten wird der Leser an die Hand genommen auf eine Reise auf einen scheinbar unbekannten Kontinent, Europa. Ein Flickenteppich, ein Ameisenhaufen, auf dem nationalstaatliche Grenzen und die Ortsbündigkeit von „Heimat“ in Frage gestellt werden, sodass man sich schon fragen kann, ob man tatsächlich den gleichen Kontinent bewohnt.  Ein Kontinent, bei dem man sich fortwährend fragt, wie man in Europa ein Mensch ohne Fluchterfahrung und Existenzängste sein kann.

Das Buch als Ganzes versteht sich als ein wissenschaftlicher Einspruch gegen ein eindimensionales Verständnis der „deutschen Identität“ und die nationalistischen Praxen in Europa seit 2015. Gerade in dieser Funktion wirft es die Frage auf, in wie weit wirklich die Zielgruppe, die in dieser politischen Leseart damit erreicht werden soll, angesprochen wird. So wird dieses Werk sicherlich niemanden in seinen Grundwerten zerrütten, wenn doch eine nationalistische Identität primär durch Abgrenzung nach außen und ihre innere Bestimmung definiert wird. Doch gelingt es Philip Ther hiermit eine Argumentationsgrundlage und ein Nachschlagewerk für alle anderen zusammenzustellen. Ein Historiker kann immer nur aufzeigen, was wann und wie passiert ist, doch zeigt dieses Buch wie politisch die schlichte Chronologie von Geschehnissen sein kann.

Ther prüft in seinen Fallstudien, was moderne Demokratien leisten können, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, und was nicht. Woran vormoderne Staaten scheitern und worin deren spezifische Stärken bestehen. Die Stadt Frankfurt am Main, die 30.000 Einwohner hatte, nahm nach 1685 etwa 100.000 hugenottische Flüchtlinge auf und versorgte sie. Das Wort refugiés geht ebenfalls auf diese Flucht ab 1562 zurück. Das Osmanischen Reich nahm zwei Millionen muslimische Flüchtlinge auf, die von den europäischen Großmächten ab 1860 aus Serbien dorthin zwangsausgesiedelt wurden. Und schließlich wird man mit den acht Millionen Displaced Persons nach dem zweiten Weltkrieg konfrontiert. Zwangsarbeiter, Menschen aus den Lagern, Kriegsgefangene, Verschleppte, Heimatlose, die immer weiter wandern mussten und für die sich in den westlichen Demokratien niemand für sie interessierte. Fast mit traurigem Narrativ zerbröckelt das Bild der humanistischen Gründer der United Nations und des UNHCR.

So provoziert Ther auch, in den Worten von Hannah Arendt, Flüchtlinge als „Avantgarde ihrer Völker“ zu sehen, die ihre Interessen auch aktiv vertreten müssen. Politische Flüchtlinge, wie der italienische Intellektuelle und Vordenker für ein vereintes Europa Guiseppe Mazzini (1805-1872), arbeiteten aus dem Exil weiter an ihren Forderungen und organisierten sich im Ausland. Für religiöse Flüchtlinge bedeutete Aufbrechen oft der endgültige Abschied von ihrer Heimat.

Demokratien sind ungeduldig und bestimmen immer wieder durch Wahlen, wer zum demos dazugehört und wer nicht. Weil es Generationen dauert, bis Flüchtende wirklich ankommen, weil die Angst vor Einwanderung in den Sozialstaat verbreitet ist und die Arbeitsmärkte hohe Anforderungen stellen, fällt es in heutigen Sozial- und Rechtsstaaten oft schwerer als in vormodernen Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen. Vormoderne Landesherren verhängten schlichtweg Hilfs- und Arbeitspflichten, nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit – in Demokratien nicht denkbar. Mithin wird deutlich: Geschichte ist nicht immer vergleichbar. Der historische Kontext muss mit einbezogen werden, jedoch komplexe Sachverhalte nicht schlichtweg simplifiziert und verglichen werden. So ist etwa das Paradebeispiel der Hugenottischen Aufnahme in die preußische Gesellschaft nicht eins-zu-eins auf die Integrationsdebatte über türkischer Gastarbeiter*innen übertragbar. Zugleich provoziert die Frage nach dem Nutzen für die Aufnahmegesellschaft und wie sich um Ankommende gekümmert werden soll, auch ein Spirale aus Neid und Missgunst in der aufnehmenden Bevölkerung provoziert. Historische Einordnung erfordert somit auch Fingerspitzengefühl.

Die Gestaltung und Sektionierung des Buches erlaubt verschiedene Lesearten. Man kann von Epoche zu Epoche, von Biografie zu Biografie, von Karte zu Karte springen oder aber in sehr detaillierte Analysen einzelne historische Ereignisse vertiefen. Trotz dieser Modalitäten wirkt das Buch in seiner Natur als Chronik doch sehr langatmig. Zuweilen rauscht das historische Geschehen beim Lesen nur so an einem vorbei. Zahllose Pfeile, die in alle Richtungen zeigen, vermitteln eine Unbeständigkeit von Heimat und Zugehörigkeit. Gerade dieser – scheinbar nie enden wollende – Fluss an Menschen, Konflikten und Abkommen, der sich auch in einem rastlosem Erzählstil wiederfindet, hinterlässt den Leser mit einem sicheren Gefühl, Teil dieser Geschichte zu sein und stärkt ihn nicht jedes Detail wissen zu müssen, sich jedoch der Gesamtsituation bewusst zu sein.

So wird auch bis zum Schluss deutlich, dass der Einspruch notwendig ist. Gerade Phillipp Thers Darstellungsweise der illustriert, wie vergangenheitslos die aktuellen Flüchtlingsdebatten sind und wie sehr es doch in der Hand des demos, des wählenden Volkes, liegt, zu bestimmen, ob und wie Geflüchtete es „schaffen“. Gerade dieses „Verlorengehen“ des Lesers in den verschiedenen Fluchtgeschichten zeigt, dass Flucht zur europäischen Realität und Identität dazugehört – damals wie heute.

 

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Diktatoren als Türsteher Europas

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Mit den Toten tanzen

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„Ein Neger darf nicht neben mir sitzen“

Januar 2020, 15:05 Uhr / Literatur

„In Bayern zu Hause und dennoch fremd“
Eine Buchrezension von Daniela Hatzelmann und Paula Lienesch

David Mayonga aka Roger Rekless & Nils Frenzel: „Ein Neger darf nicht neben mir sitzen” (2019), Erste Auflage, Komplett Media Verlag, München/Grünwald, ISBN: 978-3-8312-0485-4

Thema: Diskriminierung, Rassismus, kulturelle Integration, Xenophobie

Bremen – „Ein Neger darf nicht neben mir sitzen“ – mit dieser Aussage wurde der Autor David Mayonga im Alter von fünf Jahren in seinem bayrischen Kindergarten durch einen kleinen Jungen konfrontiert. Der gebürtige Münchner, mit einschlägigem Dialekt und in erster Linie Bayer, wuchs mit seiner Mutter, die getrennt vom Vater, einem gebürtigen Kongolesen, lebte, in einem Provinzdorf östlich von München auf. Hier begegneten dem Musiker, Moderator und Pädagogen zum ersten Mal rassistische Anfeindungen. Das Bewusstsein darüber wuchs, dass er trotz seines Geburtsortes anders zu sein schien als alle anderen Menschen in Markt Schwaben. Dies war Grund genug um in Zusammenarbeit mit dem Journalisten und Autor Nils Frenzel dieses Buchprojekt, das als ein Angebot zum Austausch zwischen Menschen mit und ohne Rassismus Erfahrungen angedacht ist, ins Leben zu rufen.

In seinem Erstlingswerk lässt der auch als Rapper bekannte Roger Rekless seine Leser*innen an einer schieren Anzahl persönlicher Rassismuserfahrungen und dem Versuch, einen Umgang damit zu finden, teilhaben. Der Autor berichtet über seine Kindheit in Markt Schwaben und stellt sich und seinen Leser*innen Fragen zum Thema Angst und Vorurteilen. Diese sollen dazu beitragen Verständnis und Sensibilität für „die anderen“ zu entwickeln, um einen antidiskriminierenden Umgang miteinander zu finden. Er erläutert diverse Begrifflichkeiten, die mit dem Thema Rassismus und Angst vor dem Fremden in Zusammenhang stehen und versucht so seine Geschichte mit wissenschaftlichen Fakten und Daten zu untermalen.

Die Leser*innen werden vom Autor in eine für Mayonga prägende Zeit, die Zeit des Kindergartens, zurückversetzt. Der erste Kontakt mit dem von ihm genannten “N-Wort” findet mit der Begegnung eines weißen Jungen an seinem ersten Tag im Kindergarten statt. Dieser äußert sich, nachdem sich Mayonga neben ihn setzen möchte, mit den Worten “Ein Neger darf nicht neben mir sitzen”. Weitere Ereignisse, die ihn als Kind spüren ließen, dass ihn die anderen Kinder und Erzieher*innen als anders wahrnahmen, werden in den ersten Kapiteln thematisiert.

Polizeikontrollen als Normalität? Mayonga macht bereits im Alter von 13 Jahren auf seinen Schulwegen Erfahrung mit regelmäßigen Polizeikontrollen. Auch in seiner späteren Jugend und als junger Erwachsener muss er sich den Kontrollen immer wieder unterziehen, welche sein Bild auf die Polizei und die bayrische Regierung prägen. Mayonga beschreibt seine Begegnungen als den “Stein des Anstoßes” für die Auseinandersetzung mit Rassismus. Rassismus bedeutet, Menschen in Kategorien einzuteilen, zu beurteilen und zu bewerten – unterschieden zu werden in äußerliche sowie kulturelle Merkmale. Mit dieser Definition beginnt Mayonga sich mit dem Hintergrund und der Geschichte von Rassismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen.

Den Ursprung des Rassismus, welcher bereits 1500 vor Christus beschrieben wird, verdeutlicht Mayonga in einem eigenen Kapitel und ordnet Rassismus und Diskriminierung in den gesamthistorischen Kontext ein. Er erläutert, wie hellhäutige Menschen höhergestellt wurden und es dunkelhäutigen Menschen nicht möglich war, der Sklaverei zu entkommen oder gesellschaftlich aufzusteigen. Verbunden mit dem Nationalismus geht Mayonga anschließend auf die “Hochzeit” des Rassismus ein: den Nationalsozialismus. Die Forderung, ein klares geschichtliches Verständnis zu entwickeln, sich mit der Vergangenheit zu befassen und aus dieser Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen, sieht Mayonga als entscheidende Faktoren an, um Rassismus und Antisemitismus auch in der heutigen Zeit zu erkennen und diesem entgegenzuwirken.

Im Wesentlichen setzt sich der Autor David Mayonga in seinem Buch mit dem Thema Rassismus und der Diskriminierung von Menschen, nicht zuletzt durch seine eigens erlebten Erfahrungen, auseinander. Der ambitionierte Autor versucht das große Thema Rassismus in der Gänze seines Umfangs sowohl wissenschaftlich, als auch emotional behandeln zu wollen. Dies wird zu einem schwierigen Unterfangen, wenn es in Form einer autobiografischen Erzählung von knapp 300 Seiten behandelt werden möchte. Inhaltliches Themenhopping spiegelt sich somit im gesamten Buch wider. Der Autor setzt an unterschiedlichen Stellen an, einige Aussagen doppeln sich und die Leser*innen erkennen daher keine klare Linie.

Durch das Zitieren englischsprachiger Songtexte und den Gebrauch von Anglizismen wie Community, Rap Crew und Scratches wird deutlich, dass Mayonga eine junge Leserschaft anspricht, die mit diesen Begriffen vertraut ist. Der sprachliche Stil stimmt mit dem biografischen Hintergrund des Autors als Rapper und Songtexter überein und unterstützt durch teilweise extreme Ausdrucksweisen seine Energie und Leidenschaft, welche er in dieses Thema investiert.

Auch wenn dies teilweise zu Verwirrungen im Lesefluss führt, ist es wichtig und vor allem positiv anzumerken, dass der Autor wichtige und aktuelle Fragen aufwirft und in seinen autobiografischen Erzählungen mit behandelt. Er stellt Fragen zu den Punkten “Was ist Rassismus?”, “Was ist Racial Profiling?”, “Was ist Xenophobie?” und “Wie können wir dem begegnen?”. Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Thema Rassismus in den Medien, zudem der Autor die aktuelle Medienlandschaft unter die Lupe nimmt, nach mehr Diversität in dieser fordert und das Prinzip Whitewashing anspricht und erklärt.

Als wichtig anzusehen ist, dass Mayonga zu mehr Aufklärung auffordert und die Leser*innen in seinem Punkt “Gefahren des Alltagsrassismus und wie man ihnen begegnen kann” an die Hand nimmt, die eigene Perspektive zu wechseln. Er schildert, wie sich Rassismus und Diskriminierung auf den einzelnen ausprägt und, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. Mehrere Gastbeiträge ergänzen die Erfahrungen des Autors, was es heißt als People of Color oder mit einem “offensichtlichen Migrationshintergrund” sowohl aktuell in Deutschland als auch weltweit zu leben. Es wird berichtet mit welchen Vorurteilen, Anfeindungen und Alltagsrassismen, ob in positiver oder negativer Form, Konfrontationen stattfinden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieses Buch den Versuch wagt, auf emphatische, wie auch ernüchternde Art und Weise zu erläutern versucht, wie es sich anfühlt in einer wörtlich gesprochenen „anderen Haut“ zu stecken und mit welchen Problemen People of Color im Alltag konfrontiert werden, die der weißen Mehrheitsgesellschaft in keiner Weise zuteilwerden würden. Das Buch lässt die Leser*innen erahnen, wie präsent die Themen Rassismus und Diskriminierung im Alltag für den Autor sind und wie bedeutend es ist, diesem mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

„Ein Neger darf nicht neben mir sitzen“ ist als ein zwischenmenschlicher Appell zu verstehen. Als ein informierender und handreichender Aufruf gegen die oftmals geschürten Ängste vor dem Fremden und die Vorverurteilungen von Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft, die nach den Worten des Autors “nicht mehr nach ihrem Aussehen beurteilt werden sollten, sondern danach wer sie sind” und was sie ausmacht. Hier wird die Chance geboten, Einblick in einen sehr persönlichen und individuellen Lebenslauf zu erhalten, welcher nahe bringt, wie es sich anfühlt als People of Color in Deutschland zu leben. Es ermutigt die Leser*innen die Perspektive zu wechseln und  regt zum Nachdenken über gewöhnliche Einzelheiten im Alltag an, die auch im Sinne der People of Color selbstverständlich sein sollten.

(1102 Wörter)

 

 

 

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Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

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