VOTE OR DIE!
von Max Melcher
Welchen Wert hat Demokratie, wenn alle Wahlmöglichkeiten mehr oder weniger gleich unattraktiv sind? Mitbestimmung ist unzweifelhaft ein theoretischer Grundstein unseres Staatsgebäudes, eine Säule unsere Gesellschaft, Element unseres Selbstverständnisses – doch wenn eine Person keine Unterschiede zwischen zwei Alternativen ausmachen kann, auf welcher Basis soll sie entscheiden? Inwiefern dieser Umstand bei (politischen) Wahlen vorzufinden ist, wird zweifelsfrei abhängig von Untersuchungsobjekt und Untersuchendem variieren; unstrittig scheint hingegen, dass manch gegenwärtiges System sich dieser Kritik mancher Mitglieder stellen muss. Insbesondere unmittelbar vor Wahlen wird man von verschiedenster Seite an ihre Relevanz erinnert; Politiker*innen und andere Prominente ermutigen, ohne speziell Werbung für eine Partei zu machen, das Volk zur Erfüllung ihrer „staatsbürgerlichen Pflichten“. Nicht selten impliziert der Apell dabei scheinbar das „Argument“: Wählt, damit das demokratische Wahlsystem erhalten bleibt; damit die Demokratie nicht Opfer von Antidemokrat*innen wird; damit eure Stimme Gehör findet! Wenn man jedoch auf der Basis einer (rational) begründeten Bewertung entscheiden will, aber sich keine rationalen Gründe finden lassen, wie soll man sich eine Meinung bilden, wie urteilen? Welche Stimme hat man ohne Meinung? Und warum sollte man diese Nicht-Meinung manifestieren?
Dieses Problem thematisiert Southpark (SP) in „Douche and Turd“ (deutscher Titel: Wähl oder stirb!), der achten Folge der achten Staffel: Die Southpark Elementary School muss, aufgrund politischen Drucks der Organisation PETA, die Kuh als ihr bisheriges Schulmaskottchen ersetzen. Genervt von diesem Umstand und der zur Auswahl stehenden Alternativen schlägt Kyle seinen Freunden Cartman, Stan und Kenny vor, alle Schüler*innen zu überreden, keine der Vorschläge zu wählen und stattdessen „Giant Douche“ auf den Wahlzettel zu schreiben. Vermutlich dem Habitus des grundsätzlichen Widerspruchs mit Kyle entspringend, schlägt Cartman „Turd Sandwich“ als Namen vor. Es kommt zum offiziellen Duell in der Wahl des neuen Schulmaskottchens zwischen einem „Giant Douch“ und einem „Turd Sandwich“, zu Lagerbildung und Wahlkampf.
Die eingangs beschriebene Problematik wird hier in aller Deutlichkeit ad absurdum geführt. Bei genauerer Überlegung weist das Szenario trotz (oder gerade aufgrund?) seiner Absurdität sogar erstaunlich viele Parallelen zur Kritik auf: der Vergleich von Politiker*innen und Maskottchen bzw. Repräsentanten; der Zufluss politischer Relevanz der „Kandidaten“ aufgrund einer generellen Protesthaltung; völlig inhaltsloser Wahlkampf voller Scheinargumente vertreten von teilweise sehr überzeugten Wahlhelfer*innen; die unproportionale Berücksichtigung einer lediglich durch kleine Protestgruppen betonten „Problematik“; („Bestechung“ bestimmter Wählergruppen (wortwörtlich) mit Bonbons).
Entgegen der aktuellen Situation ist in South Park nahezu jeder – Kinder, Lehrkörper, Eltern und selbst „Unbeteiligte“– von der Wichtigkeit dieser Wahl überzeugt; alle, bis auf Stan. Dieser kann keinem der Kandidaten etwas abgewinnen und sich folglich nicht entscheiden. Sein Beschluss, nicht zu wählen, wird jedoch nicht nur von seinem Freund Kyle, selbst oft Stimme der Moral in der Stadt, kritisiert: von Eltern über Lehrer bis hin zur Bürgermeisterin ist man über Stans Entscheidung förmlich entsetzt. Nach der Einschätzung der Verantwortlichen stellt sich keine andere Möglichkeit, als Stan aus der Stadt und somit der Gemeinschaft zu verbannen. In möglichst demütigender und zugleich lächerlicher Manier wird Stan aus der Stadt befördert und darf zu dieser nicht zurückkehren, ehe er die Wichtigkeit von Wahlen eingesehen hat.
Die Überzeugung von Wahlen, als Symbol der demokratischen Ordnung, ist hier auf ein Höchstmaß überspitzt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dieser Wahl entgegen manch realem Vertreter, kaum Relevanz zuzuschreiben ist. In dem Szenario lassen sich keine wirklich triftigen Argumente zur Begründung einer Entscheidung finden. Nichtsdestoweniger soll und muss eine Entscheidung getroffen werden; Nicht-Entscheiden wird radikal sanktioniert. Stan befindet sich in einem handlungstheoretischen Dilemma: eine rational, d.h. auf der Basis bewerteter Gründe, gefällte Entscheidung ist aufgrund mangelnder positiver Argumente nicht möglich; die Kandidaten sind gleich schlecht. Selbst die bereits angesprochene Gruppe von „Argumenten“, die ein „gegen-etwas“ enthalten, greifen hier nicht, weil keine Anti-Demokraten zu finden sind. Beide Kandidaten sind zwar gleich schlecht, aber ihre Wahl stellt keine echte gesellschaftliche Gefahr dar. Die Wahl ist eben unbedeutend. Verbannung hingegen ist ein Übel – welches Stan jedoch der Teilhabe an dem absurden öffentlichen Schauspiel vorzieht.
Die Analogie weist zweifelsfrei erhebliche Schwachstellen auf. So besteht für reale, demokratische Wahlen ein gesetzlich geregeltes Verfahren, für dessen Wert sich starke Argumente finden lassen. Das ohnehin schmale Prozedere der Schulmaskottchenwahl wird von den Schüler*innen hingegen offenkundig umgangen. Genau hier liegt aber ein Teil der Kritik, denn obwohl in verschiedenen Ländern freilich ausgeprägte und erprobte Wahlprozesse existieren, sind Elemente der Karikatur auch in der Realität präsent. Mit dem Wahl- bzw. Auswahlprozess der Repräsentanten und Akteure einer politischen Ordnung trifft man einen empfindlichen Nerv derselben. In diesem manifestieren und explizieren sich Werte und Ideologie der Gesetzesschrift einer Gesellschaft. Auch staatstheoretische Überlegungen in der Philosophie machen ihn seit Anbeginn zum Gegenstand; Platons Politeia ist förmlich von der Bemühung um eine angemessene und adäquate Besetzung wichtiger Ämter durchdrungen. In philosophischen Debatten scheint der Fokus jedoch vorwiegend auf der Gefahr „feindlicher“ Aushöhlung und Errichtung despotischer Herrschaft gerichtet. Doch die Kandidaten im konstruierten Beispiel sind nicht wirklich gefährlich. Sie sind lediglich, gemessen an Funktion und Aufgabe eines Schulmaskottchens, vollkommen ungeeignet; fixe Protestvorschläge einer Wählerschaft, welche die anstehende Wahl nicht erstnehmen kann. Stans Entschluss zum Nicht-wählen kann, in Anbetracht dieses ihm sich bietenden Spektakels gepaart mit dem unverhältnismäßigen Druck zu einer irrationalen – weil notwendig unbegründeten – Entscheidung, durchaus als einzig nachvollziehbare Handlung ausgemacht werden.
Stan selbst bekundet jedoch zugleich, dass er keine grundsätzliche Abneigung gegen Wahlen verspürt: „I think, voting is great; but if I have to choose between a Douche and a Turd I just don’t see the point.“ Insofern kann die Folge als Appell, nicht hinsichtlich der Pflichterfüllung, als vielmehr zur überlegten und geeigneten Kandidierendenauswahl betrachtet werden. Nur wenn erstzunehmende und zugleich unterscheidbare Kandidat*innen für eine Wahl zur Verfügung stehen, ist das Prozedere sinnvoll. Der gegenwärtig forcierte allgemeine Aufruf zur Stimmabgabe scheint, wenn auch nicht ausschließlich, erst vor diesem Hintergrund berechtigt.