Jetzt sitze ich hier und soll für ca. 15 Minuten meine Umgebung beobachten. Ich bin extra 20 Minuten vorm Eintreffen meines Busses hier hingekommen, sodass ich hoffentlich genug sehe. Diese Haltestelle hier liegt nicht zentral in Bremen, sodass hier bestimmt nicht so viel passiert. So langsam trudeln die ersten Menschen ein, deren Bus in zehn Minuten kommen soll.
Ein älteres Ehepaar, beide mit Gehhilfen, laufen auf mich zu. Ich biete ihnen meinen Platz an. Sie danken mir und setzen sich hin. Jedes Mal, wenn ich ältere Ehepaare sehe, geht mein Herz auf und mich überkommt ein unbeschreibliches Glücksgefühl, denn es lässt mich hoffen, dass die Liebe ewig hält und es mir in 60 Jahren auch so geht. Die Beiden fangen an sich zu unterhalten, anscheinend über ihre Kinder. Da mir diese Unterhaltung ziemlich privat erscheint, entscheide ich mich dazu wegzuhören und lieber die anderen Menschen zu beobachten. Noch neun Minuten bis zum nächsten Bus.
Gerade fängt ein kleines Kind (etwa vier Jahre alt) an, seine Mutter anzuschreien, weil er ein Eis aus dem naheliegenden Supermarkt haben wollte, von wo die Beiden anscheinend gerade herkommen. Das sieht man daran, dass die Mutter zwei Tüten trägt, auf denen die Aufschrift „REWE“ gedruckt ist. Die Mutter nimmt das Geschrei ihres Kindes mit einer bewundernswerten Gelassenheit hin und schaut auf den Fahrplan, um zu schauen, wann der Bus kommt. Noch fünf Minuten bis zum nächsten Bus.
Als nächstes schaue ich mir die Natur um mich herum an. Die Bushaltestelle befindet sich neben einem Park, sodass die nur noch teilweise mit Blättern ausgestatteten Bäume, Schatten auf die Straße werfen, denn heute scheint ausnahmsweise noch einmal die Sonne. Ich höre den Wind und wie er das Laub aufwirbelt. Ich sehe Zugvögel am Himmel gen Süden davonziehen und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich ein Vogel wäre, der überall hinfliegen könnte. Noch eine Minute bis zum nächsten Bus.
Der Bus hat anscheinend Verzögerung. Es ist interessant zu beobachten, wie sehr sich Leute aufregen können, wenn sie unter Zeitdruck stehen. Ganz hinten am Ende der Allee sieht man nun den Bus, in die Straße einbiegen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fängt zeitgleich ein junger Mann, wie ein Verrückter an, zu rennen. Er trägt einen Instrumentenkoffer auf dem Rücken und muss wahrscheinlich zu einer Probe. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass es sich bei seinem Instrument, um eine Violine handeln muss, was mich glücklich macht, weil ich an mein letztes und nächstes Konzert denken muss. Der Bus hat zwei Minuten Verzögerung.
Der junge Mann hat es noch geschafft und jetzt sitze ich wieder alleine hier und kann meine Gedanken schweifen lassen. Manchmal ist es allerdings schade, wenn ich dies tun kann, da mir leider oft negative Gedanken kommen. Ich denke an meine Oma, die ich dieses Jahr verloren habe. Ich denke an all die anderen Menschen, die geliebte Menschen an Covid 19 verloren haben. Ich stelle mir vor, wie ich meine Oma wiedersehe und ihr erzähle, was ich alles in meinem Leben erlebt habe. Mein Bus kommt in acht Minuten.
Nun kommen zwei junge Menschen zur Haltestelle, ganz offensichtlich ein Pärchen. Obwohl die Beiden zwar größer sind als ich, glaube ich trotzdem, dass sie jünger sind, da sie sich über eine Matheklausur unterhalten, die sie verhauen haben. Beide tragen Jogginghose und ich muss instinktiv an die Worte Karl Lagerfelds denken: „Wer in der Öffentlichkeit eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Mein Bus kommt in vier Minuten.
Auf einmal muss ich an mein Studium denken und daran, dass ich noch viel zu tun habe und ich mir meine Zeit unbedingt besser einteilen muss. Ich muss am Samstag unbedingt das Fußballspiel meines kleinen Bruders sehen, weil es das Wichtigste der gesamten Saison ist und er immer so süß im Tor aussieht. Vor ihm darf ich das aber nicht sagen, denn er ist ja schon zwölf und „cool“. Plötzlich höre ich Sirenen. Ein Krankenwagen und ein Notarzt fahren an der Haltestelle vorbei. Hoffentlich ist nichts allzu schlimmes passiert… Da kommt mein Bus.