RV07 – Dr. Eileen Schwarzenberg: „Meint Inklusive wirklich alle?“

In einer Debatte um das Thema Inklusion, ist es mit Sicherheit wichtig, sich bewusst zu werden, was die in diesem Bereich relevanten Begriffe überhaupt umfassen. So muss man sich beispielsweise vergegenwärtigen, dass nach der Definition der UN BRK all jene Personen als behindert gelten, die langfristige Beeinträchtigungen haben die a) körperlicher Natur, b) seelischer Natur sind oder die Sinnesorgane betreffen (UN-BRK 2009, Art.1). Desweiteren muss klar sein, dass der Aspekt der Sozialisierung im Alltag ein Kernkriterium ist: Menschen mit Behinderung werden so bezeichnet und eingestuft, weil ihre Beeinträchtigungen zusammen mit den Strukturen unserer Gesellschaft ihnen eine gleichwertige Teilnahme am Sozialleben verwehren. Hier ist auch die Unterscheidung zwischen dem medizinischen und dem sozialen Modell der Behinderung wichtig, auf das in Aufgabe 2 noch genauer eingegangen werden wird.
Soll nun die oben erwähnte Einschränkung der gleichwertigen Teilnahme am Sozialleben zumindest in Teilbereichen aufgehoben werden, spricht man von Inklusion. Insbesondere an Schulen ist dies inzwischen ein stark diskutiertes und aktuelles Thema. Doch was genau bedeutet es, wenn Schulen inklusiv sein wollen?
Das Konzept der inklusiven Pädagogik soll es allen SchülerInnen, unter Berücksichtigung individueller Heterogenitätsfaktoren ermöglichen, als Teil einer Klassengemeinschaft in der Schule ihr Potenzial zu entfalten. Dabei spielen Fragen nach den Lern- und Entwicklungsbedingungen der Jugendlichen genauso eine Rolle, wie solche nach der sozialen Interaktion. Ganz allgemein gibt es verschiedene Ansätze zur Umsetzung der Inklusion, und auch Befürworter anderer Systemformen. Die wichtigsten sind:

  1. der „whole school approach“, auch „Full Inclusion“ oder Inklusion als Systemwandel, der wie in den Englischen Formulierungen deutlich wird, eine allumfassende Inklusion mit grundlegendem Systemwandel befürwortet, so dass es keine Sonderschulen mehr gibt, sondern alle Kinder gemeinsam in einer Schule mit auf Inklusion ausgerichtetem Konzept unterrichtet werden.
  2. Der „two track approach“, auf deutsch beschrieben als Doppelstruktur, dessen Unterstützer eine Aufteilung zwischen Regel- und Sonder-/Förderschule, wie sie im Moment oft gängig ist, weiterführen wollen. Sie stützen sich bei ihrer Argumentation vorwiegend darauf, dass es keine empirischen Daten gibt, die belegen, dass Inklusion für alle SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zuträglich ist, und darauf, dass Eltern für ihre Kinder bewusst die als sicher eingestufte Umgebung der Förderschule wählen.
  3. Der „twin track approach“, der im Gegensatz zur Forderung (1) den Fokus nicht auf den Systemwandel legt, sondern eine weitere Berücksichtigung der Förderbedarfe, und eine schrittweise Inklusion mit weiterlaufenden Zusatzförderungen vorschlägt.

Was mich vor diesem Hintergrund interessiert hat, und was auch in der Vorlesung diskutiert wurde, war, wie eine konkrete Umsetzung dieser Maßnahmen aussehen soll. Eine Änderung des kompletten Systems ist nicht nur schwierig umzusetzen, sie ist auch teuer. Und das alternative System ist höchstwahrscheinlich noch nicht ausgereift und erprobt genug, um eine Überforderung von Lehrkräften und SchülerInnen durch die Umstellung zu verhindern. Gleichzeitig brauchen Pädagogen weiter reichende Schulungen, bzw. müssten in das Lehramtsstudium gewisse Kompetenzen und Sachverhalte mit eingebunden werden und Fortbildungen für amtierende Lehrkräfte organisiert und bezahlt werden. Gleichzeitig bietet eine solche Umstellung enorme Chancen. Nicht nur setzt man dabei das Recht auf Chancengleichheit um, und bietet allen SchülerInnen gleiche Möglichkeiten, sondern eine Umstellung des Systems, sodass es dem Ansatz der Inklusion gerecht wird, könnte eine Lösung für aktuelle Probleme unseres Schulsystems sein, wie zum Beispiel der steigende Leistungsdruck und der Zwang der Benotung. In einem inklusiven Modell wäre es wohl schwierig, die festen Strukturen der Notengebung und des Lehrens nach Lehrplan beizubehalten, was es den Schulen ermöglicht, Ansätze der Individualisierung zu entwickeln und umzusetzen, von denen unser ganzes System erheblich profitieren würde.

 

Gleichen Sie bitte die theoretischen Erkenntnisse aus der Vorlesung mit Ihren praktischen Erfahrungen an Schulen/im Alltag ab:


– Welches Modell von Behinderung ist Ihnen bisher begegnet?

Um diese Frage beantworten zu können, muss ich zunächst die beiden Modelle erläutern:

Das medizinische Modell von Behinderung sieht in einer Behinderung eine Schädigung, die zu einer Beeinträchtigung des Individuums führt, sowie zu seiner/ihrer Benachteiligung und sozialem Ausschluss. Laut diesem Modell ist eine Person also behindert.

Im Gegensatz dazu sieht das soziale Modell von Behinderung Barrieren in der Umwelt, die in Kombination mit den persönlichen Merkmalsausprägungen einer Person zu einer Partizipationsbeeinträchtigung und zum sozialen Ausschluss führen. Demnach ist eine Person also nicht behindert, sondern wird behindert.

Ich persönlich kann allerdings die Erfahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, nur schwer einschätzen. Soweit ich es beurteilen kann, ist mir vorwiegend das medizinische Modell begegnet, das sich meines Verständnisses nach unter anderem in einer Aufteilung der Schulsysteme äußern würde.


– Inwieweit entsprechen die Rahmenbedingungen an Bremer Schulen den Bedarfen der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf?

Allgemein gilt in Bremen seit 2011/12, dass die Beschulung aller SchülerInnen gemeinsam im inklusiven System stattfinden soll (mit Ausnahmen der Förderzentrum Hören, Sehen und Körperlich-motorische Entwicklung). Für 2017 war die Schließung fast aller Förderzentren geplant.

Die Umsetzung dieses Konzeptes ist allerdings nicht an allen Schulen gegeben: Der bekannteste Fall der Nichtumsetzung ist wohl das Gymnasium Horn, das sich geweigert hat, zum letzten Schuljahr mehrere Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf auszunehmen.

Dort, wo Inklusion umgesetzt wird, scheint sie aber auch gut zu funktionieren. Inklusive Klassen sollen dort aus 19 SchülerInnen ohne, und 5 SchülerInnen mit Behinderung bestehen, zudem soll dauerhaft ein Sonderpädagoge anwesend sein. Somit kann auf die einzelnen Kinder gut eingegangen werden, beziehungsweise individueller Förderbedarf gegeben werden. Eine Vorzeigeeinrichtung ist die Kinderschule Bremen, in der Kinder in bunten Gruppen gemeinsam betreut werden, unabhängig von Alter, Hintergrund oder Behinderung. Das Konzept „alle kümmern sich um alle“ funktioniert dort in allen Bereichen, sowohl in der Sozialisierung als auch in der Vermittlung von Regeln und Sachverhalten.


– Welche Auffassungen von Inklusion (Diskussionslinien) haben Sie an den Schulen/im Praktikum kennengelernt?

In meiner Grundschulklasse waren mehrere Kinder, die zuvor praktisch als Vorbereitung ein Jahr zur Förderschule gegangen waren. Der sonderpädagogische Förderbedarf lag hier vor allem bezüglich einer Lernschwäche, oder eines Aufmerksamkeitsdefizits vor. Anzumerken ist in diesem Kontext, dass ich es im Nachhinein doch gewagt finde, diese Schüler gerade in meiner Klasse unterzubringen, die größtenteils aus Schülern mit Migrationshintergrund oder LRS bestand. Natürlich konnte man so für den Großteil der Klasse ein ungefähr gleiches Lerntempo veranschlagen, mit eventuell anderen Ansätzen in der Unterrichtsgestaltung. Doch letztendlich wäre es meiner Meinung nach für alle SchülerInnen besser gewesen, wäre die Klassengestaltung weniger darauf abgerichtet gewesen, eine Art „Klasse bestehend aus Kindern mit Bedarf besonderer Förderung“ (sei es sonderpädagogisch, fremdsprachlich, etc.) zu bilden, sondern über den Jahrgang verteilt eine gleichmäßige Gestaltung der Klassen einzuhalten.

Ansonsten, auch später im Gymnasium wurde immer der „two track approach“ durchgeführt, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf also auf der Sonderschule der Stadt unterrichtet. Nach dem was ich gehört habe, soll das Konzept sich inzwischen aber etwas geändert haben, sodass eine Art Teilinklusion in bestimmten Bereichen zumindest auf Grundschulebene nun umfassender stattfindet.

  • Welche Auffassung vertreten Sie selbst?

Grundsätzlich finde ich den Ansatz der Inklusion unter Berücksichtigung der Förderbedarfe, den sog. „Twin track approach“, am sinnvollsten und für mich am ansprechendsten. Denn hier werden die Probleme, die bei einer kompletten Umstrukturierung des Systems erscheinen können, berücksichtigt und der Fokus eben nicht nur auf Systemänderung, sondern auf die Bedarfe der einzelnen SchülerInnen gelegt. Denn bei einer zu schnellen und zu ausschließlichen Umstellung läuft man schnell Gefahr, sowohl der Lehrpersonal, als auch die betroffenen Jugendlichen zu überfordern, denen man dann im Unterricht nicht mehr gerecht wird. Eine kontinuierliche, prozesshafte Inklusion gäbe Raum und Zeit für die Anpassung des Konzepts und die Entwicklung neuer Methoden. Zudem wird durch die Beibehaltung der individuellen Förderung der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf innerhalb des inklusiven Systems die Gefahr verringert, einzelne Kinder komplett zu über- oder unterfordern. Allerdings kann auch dieser Ansatz nicht garantieren, dass alle Jugendlichen profitieren – für manche Mädchen oder Jungen mit sonderpädagogischem Förderbedarf könnte, stark abhängig vom jeweiligen individuellen Förderbedarf, trotz allem der Besuch einer Förderschule besser sein (insbesondere soziale Beeinträchtigungen, z.B. Autismus)

Dies ist auch eine der Fragen, denen ich in meinem Praktikum nachgehen wollen würde:

Vorausgesetzt ich befinde mich in einer Schule, die das inklusive Modell umsetzt, ergo Klassen mit 19 Schüler ohne und 5 SchülerInnen mit Behinderung, wäre es interessant, zu untersuchen, ob denn wirklich alle SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf von der Inklusion profitieren, und inwiefern sich der positive oder negative Einfluss äußert. Auch hier gerade mit Fokus auf Beeinträchtigungen im sozialen Bereich (Autismus, etc.) im Gegensatz zu körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen.

Neben dem Fokus auf den Lehrer und der Frage, wie er oder sie mit der nochmals erweiterten Heterogenität umgeht, spielt es ja auch eine große Rolle, wie die SchülerInnen untereinander interagieren. Denn Inklusion allein vom System, ja auch allein von der Lehrkraft aus kann meiner Meinung nach immer nur so viel bewirken. Entscheidend ist die Aufnahme in die Klassengemeinschaft.

Und so wie ich in meiner ersten Beobachtungsaufgabe fragt man doch immer sehr nach den Vorteilen für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Aber was ist mit den Jungen und Mädchen ohne individuellen Förderbedarf? Sie können mit Sicherheit auch profitieren. Auch das wäre zu beobachten: in welchen Teilbereichen äußert sich das? Vor allem im sozialen Bereich, oder auch bezüglich der Unterrichtsgestaltung, Wissensvermittlung und letztendlich der schulischen Leistung?

 

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