Die Frage, was erfolgreiches Lernen ausmacht, begleitet mich schon seit Beginn meines Studiums. Besonders spannend finde ich in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel von Intelligenz und Vorwissen – zwei Dimensionen, die laut aktueller Forschung maßgeblich zum Lernerfolg beitragen, aber unterschiedlich wirken. Die Vorlesung hat deutlich gemacht: Vorwissen ist mindestens genauso wichtig wie Intelligenz – wenn nicht sogar bedeutsamer (Gruber & Stamouli, 2020). Das überrascht auf den ersten Blick, weil Intelligenz oft als feste, unveränderbare Größe wahrgenommen wird, während Vorwissen als „Nebenprodukt“ schulischer Erfahrungen gilt.
Tatsächlich zeigt die Studie von Schneider, Körkel und Weinert (1989), dass domänenspezifisches Wissen sogar intelligentes Denken übertrumpfen kann – zumindest dann, wenn es darum geht, neue Informationen zu verarbeiten und einzuordnen. Kinder mit hohem spezifischen Wissen (in diesem Fall über Fußball) schnitten bei einer Textverstehensaufgabe besser ab als intelligenzstärkere Kinder ohne entsprechendes Vorwissen. Das bedeutet: Lernen ist nicht allein eine Frage der „kognitiven Ausstattung“, sondern stark davon abhängig, was Lernende schon mitbringen – an Begriffen, Erfahrungen und Verknüpfungen.
Auch im Praktikum habe ich diesen Zusammenhang mehrfach beobachtet. In einer Sachunterrichtseinheit zum Thema „Tiere im Winter“ zeigte sich, dass Kinder mit Vorwissen aus Hobbys (z. B. Tierpflege, Waldkindergarten) deutlich sicherer argumentierten als andere. Gleichzeitig fiel mir auf, dass manche Kinder auf den ersten Blick „still“ oder „unaufmerksam“ wirkten, in Wahrheit aber einfach keinen Zugang zum Thema fanden, weil ihnen sprachliche oder inhaltliche Anknüpfungspunkte fehlten. Das hat mir gezeigt, wie schnell man dazu neigt, Leistungsfähigkeit mit Lautstärke oder Beteiligung zu verwechseln – und wie wichtig es ist, Vorwissen aktiv zu erheben.
Ich erinnere mich auch an eine Situation, in der ich selbst falsch eingeschätzt habe, was meine Lerngruppe wusste. Ich startete eine Stunde zur Stromerzeugung mit der Frage: „Was braucht man, damit ein Stromkreis funktioniert?“ – und erhielt nur fragende Gesichter. Erst nach einem gemeinsamen Einstieg mit echten Materialien kamen Antworten. Rückblickend hätte ich anders anfangen sollen – zum Beispiel mit einer einfachen Diagnoseaufgabe oder einem Erklärvideo. Das zeigt: Auch wir Lehrkräfte lernen – am besten durch eigene Fehler.
Ein besonders interessanter Befund aus der Vorlesung war für mich der sogenannte „Expertise-Umkehr-Effekt“ (Gruber & Stamouli, 2009): Didaktische Hilfen sind bei wenig Vorwissen sehr hilfreich – bei viel Vorwissen aber eher störend. Das stellt hohe Anforderungen an Unterrichtsgestaltung, denn es bedeutet, dass Differenzierung nicht nur „mehr oder weniger Hilfe“ heißt, sondern dass wir auch bewusst loslassen müssen. Für mein nächstes Praktikum ergibt sich daraus die Frage: Wie gelingt ein Unterricht, der allen Schülerinnen gerecht wird – ohne zu überfordern oder zu unterfordern?* Eine mögliche Antwort liegt für mich in offenen Aufgaben mit optionalen Hilfestellungen, differenzierten Materialien und einer klaren Diagnose zu Beginn.
In der Vorlesung wurden zwei Modelle zur Anpassung an Lernvoraussetzungen vorgestellt. Aus meiner Schulpraxis kenne ich Beispiele zu allen Reaktionsformen nach Weinert (1997):
-
Passiv: Alle Kinder bekommen das gleiche Arbeitsblatt – egal, was sie schon können.
-
Substitutiv: Kinder mit Förderbedarf werden aus dem Unterricht herausgenommen, um „angepasst“ zu arbeiten.
-
Aktiv: Während der Gruppenarbeit werden schwächere Kinder durch gezielte Hinweise unterstützt.
-
Proaktiv: Eine Kollegin bereitete differenziertes Material für ein Stationenlernen vor – abgestimmt auf Lernstände, Interessen und Lesefähigkeit.
Auch das Modell von Leutner (1992) finde ich hilfreich. Besonders die Unterscheidung zwischen Förderung, Kompensation und Präferenz regt zum Nachdenken an: Möchte ich ein Defizit ausgleichen, ein Talent fördern oder Interessen bedienen? Je nach Ziel muss der Unterricht anders gestaltet sein – in Methode, Lernzeit und Zielsetzung.
Grundsätzlich lässt sich sagen, Intelligenz ist wichtig – aber Vorwissen ist der Schlüssel oder auch: „Der wichtigste Einzelfaktor, der das Lernen beeinflusst, ist das, was der Lernende bereits weiß“ (Ausubel, 1968). Unsere Aufgabe als Lehrkräfte ist es, dieses Wissen zu erkennen – und daraus adaptiven Unterricht zu machen.
Literatur:
-
Ausubel, D. P. (1968). Educational Psychology: A Cognitive View. New York: Holt, Rinehart and Winston.
-
Gruber, H. & Stamouli, E. (2020). Intelligenz und Vorwissen. In E. Wild & J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 25–44). Heidelberg: Springer.
-
Hasselhorn, M. & Gold, A. (2006). Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren. Stuttgart: Kohlhammer.
-
Schneider, W., Körkel, J. & Weinert, F. E. (1989). Domain-specific knowledge and memory performance. Journal of Educational Psychology, 81(3), 306–312.
-
Weinert, F. E. (1997). Notwendige Methodenvielfalt. In: Friedrich Jahresheft, 50–52. Seelze: Friedrich Verlag.
-
Leutner, D. (1992). Adaptive Lehrsysteme. Instruktionspsychologische Grundlagen und experimentelle Analysen. Weinheim: Beltz.
Schreibe einen Kommentar zu Vivien Antwort abbrechen