Auf dem XXXV. Romanistentag vom 8.–12. Oktober 2017 an der Universität Zürich leiten Karen Struve, Meike Hethey und Matthias Zach eine internationale, interdisziplinäre und multilinguale Sektion mit dem Titel „Literatur vermitteln? Literatur-, kulturwissenschaftliche und didaktische Perspektiven auf die Steuerung literarischer Rezeptions­prozesse“. Die Sektion bietet ein Forum für Zugänge zur Literaturvermittlung aus unterschiedlichen Perspektiven und strebt explizit einen interdisziplinären Dialog zwischen Literaturdidaktik, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an.

Sektionsbeschreibung:

Zur Bezeichnung verschiedener Formen des Lehrens und (Lesen-)Lernens literarischer Texte ist ‚Literaturvermittlung‘ ein vor allem in den Fachdidaktiken etablierter Begriff. Aber auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften spielt die Untersuchung von Prozessen literarischer Vermittlung eine zentrale Rolle. ‚Vermittlung‘ erscheint hier als paradigmatischer Begriff, mit dessen Hilfe literarische, kulturelle und soziale Aushandlungsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen werden können. Deshalb schlägt die explizit transversal angelegte Sektion vor, sich dem in Zürich zur Diskussion stehenden Rahmenthema „Dynamik, Begegnung, Migration“ mittels der Untersuchung inter- und intrakultureller, interdiskursiver, intermedialer und anderer Vermittlungs­prozesse und -phänomene zu nähern und dabei zugleich den Brückenschlag zwischen verschiedenen Diskursen und Disziplinen innerhalb der Romanistik zu erproben. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass literaturdidaktische, literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Zugänge je unterschiedliche Aspekte und Dimensionen von Vermittlungsprozessen erhellen (können), aber auch je spezifische blinde Flecken haben, und dass eine Verstärkung des interdisziplinären Austauschs gerade hier von gegenseitigem Nutzen sein kann.

Aus fachdidaktischer Perspektive bezeichnet ‚Literaturvermittlung‘ ein ganzes Set an rezeptionsästhetischen Ansätzen, die die Fremdsprachendidaktik seit gut einem Jahrzehnt dominieren (vgl. Bredella/Burwitz-Melzer 2004). Auffällig ist dabei insbesondere eine starke Subjektorientierung. Sie findet sich in Konzepten der Lerner- und Handlungsorientierung wieder und versteht literarisches Lesen primär als Prozess der Identitätsfindung und, vor allem in Verbindung mit inter- und transkulturellen Ansätzen, als Beitrag zur Ausbildung von gesellschaftlicher Partizipationsfähigkeit. Kritiker_innen merken dazu an, dass die starke Konzentration auf die Inhaltsebene literarischer Texte, die sich den Leser_innen erschließen soll, den Text mit seiner formal-ästhetische Faktur und damit mit seinem wirkungsästhetischen Potential aus den Augen zu verlieren droht (vgl. Nünning & Nünning 2007, 89). Insofern könnte eine kritische Fortschreibung der rezeptionsästhetischen Literaturdidaktik es sich zur Aufgabe machen, im Hinblick auf das Verhältnis von Text und Leser neuere theoretische Ansätze in Literaturwissenschaft und Didaktik zueinander in Beziehung zu setzen und damit zugleich nicht nur den Schulkontext, sondern auch andere darüber hinausgehende Bezugsrahmen in den Blick zu nehmen, die in der literaturdidaktischen Theoriebildung bisher nur eine marginale Rolle spielen. So lenkt die starke Subjektorientierung in den Literaturdidaktiken häufig von der Tatsache ab, dass etwa die Vermittlung literarischer Rezeptionsprozesse immer an institutionelle, kulturelle und bildungspolitische Prämissen gebunden ist, die in der didaktischen Modellierung von Rezeptionsprozessen mitunter wenig reflektiert werden.

Umgekehrt werden Prozesse literarischer Vermittlung in den Literatur- und Kulturwissenschaften gerade im Rahmen literatursoziologischer Theorien behandelt. Literaturvermittlung findet dabei in sehr unterschiedlichen Institutionen und durch sehr unterschiedliche Akteure statt (Archive, Verlage, Übersetzer_innen etc.); die Untersuchung von Vermittlungsprozessen trägt damit zu einem besseren Verständnis des literarischen Feldes bei, also jenem Bereich der kulturellen Öffentlichkeit, in dem das Lesen und Vorlesen von Literaturen in der Konkurrenz mit anderen Medien inszeniert und nicht zuletzt verkauft wird (vgl. dazu z.B. Bourdieu 2001). An dieser Stelle bietet sich etwa die Verbindung mit akteurszentrierten Ansätzen (etwa in der Übersetzungsforschung die Skopos­theorie Hans Vermeers und Katharina Reiß’) an, die das zielgerichtete Handeln des Übersetzers/der Übersetzerin in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellt und die damit ein Beispiel für die Vermittlung von Literatur als Rezeptionslenkung untersucht (vgl. z.B. Vermeer 1996). Die Fokussierung auf Literaturvermittlung kann hier in doppelter Weise fruchtbar gemacht werden: Einerseits geraten bei der Untersuchung der Rezeption von Literatur nun deutlicher die Bedingungskontexte in den Blick, die als (kulturelle, wirtschaftliche, diskursive etc.) Steuerung von Rezeptionsprozessen mitreflektiert werden. Andererseits macht die Konzentration auf Literaturvermittlung das Zusammendenken von subjekt- und kulturorientier­ten Ansätzen der Rezeptionstheorien notwendig und bietet Raum für die Verbindung empirischer Untersuchungen und theoretischer Reflexion. Gerade im Rahmen einer angewandten und interdisziplinären Literaturwissenschaft greift die Sektion in der Untersuchung von Vermittlungsleistungen damit ein Desiderat in der Forschung auf (vgl. Neuhaus/Ruf 2011, 14).

 Die transversale Sektionsarbeit kann sich u. a. an folgenden Fragestellungen orientieren:

Literaturvermittlung aus Sicht der Literaturwissenschaft

  • Welche innovativen Aspekte ergeben sich aus der Fokussierung auf Vermittlungshandlungen und ‑kontexte für neuere rezeptionstheoretische Ansätze?
  • Inwiefern und in welcher Form kann die Fokussierung des lesenden Subjekts (ob in Form des impliziten oder des empirischen Lesers) mit literatur­soziologischen Ansätzen zusammengedacht werden? Welche Rolle spielen dabei die sprachlichen und stilistischen Eigenschaften der Texte?
  • Inwieweit steuern Übersetzungsprozesse literarische Rezeptionsprozesse? Inwiefern lassen sich Ansätze aus der Übersetzungsforschung für ein besseres Verständnis von Literaturvermittlung fruchtbar machen?

Literaturvermittlung aus Sicht der Literaturdidaktik

  • Inwiefern können neue rezeptionstheoretische Ansätze (etwa posthermeneu­ti­scher und poststrukturalistischer Provenienz) zu einer kritischen Fortschrei­bung der rezeptionsorientierten Literaturdidaktik beitragen?

Wie können sie das Verhältnis von Text und Leserschaft neu bestimmen?

  • Wie können außerschulische Literaturvermittlungskontexte in literaturdidakti­schen Konzeptionen Niederschlag finden? Welchen Formen und Verfahren der Literaturvermittlung haben sich in unterschiedlichen Bereichen des literarischen Feldes entwickelt, die in den schulischen Kontext übertragbar wären und wo sind Grenzen?
  • Inwiefern hat die formal-ästhetische Dimension von Literatur in neueren Modellierungsversuchen literarischer (Lese-)Kompetenz Berücksichtigung gefunden? Bleiben Kompetenzorientierung und v.a. -modellierung und literarische Ästhetik nicht vielmehr ein Widerspruch? Welche Rolle könnte der Leserschaft in der Überwindung dieses vermeintlich widersprüchlichen Verhältnisses zukommen?

Interdisziplinäre Aspekte

  • Welche Potenziale und Grenzen ergeben sich, wenn man literaturwissenschaft­liche und -didaktische Ansätze in der Perspektive der Literaturvermittlung miteinander verquickt?
  • Impliziert eine theorieaffine Literaturdidaktik Praxisferne oder ermöglicht sie eine für die Unterrichtspraxis gewinnbringende Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung aktueller literaturdidaktischer Ansätze? Droht eine stärker anwendungsorientierte Literaturwissenschaft sich von den Standards der eigenen Disziplin zu entfernen oder bietet sie neue Perspektiven auf Literatur­theorien?
  • Welche neuen Perspektiven auf die Gegenstandkonstitution von „Literatur“ ergeben sich aus der interdisziplinären Konzeption von Literaturvermittlung, die literarische Texte neben ihren sprachlich-logischen oder rhetorisch-argumentativen Dimensionen hinaus als ästhetisch zu fassen sucht?

Die Sektionssprachen sind Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch. Die Ergebnisse der Sektion sollen publiziert werden.