Rezension zu Jean-Paul Didierlaurent: Le reste de leur vie. Folio 2016

von Johanna Faber

Nach erstem Überfliegen des Klappentextes erwartete ich die Geschichte eines alten Herren, der seinen Lebensabend zum Anlass nimmt, um auf große Reise zu gehen. Im Gepäck gestrandete Bekannte, die dringend einen Tapetenwechsel benötigen. Ich bekam etwas anderes – die Geschichte des alten Monsieur Samuel Dinsky, der unheilbar krank ist und sein Leben beenden möchte. Im Gepäck seine Helfer, die ihn bei seinem Vorhaben unterstützen sollen und durch diese Gemeinsamkeit langsam zueinander finden. Zusammen bricht die Gruppe in die Schweiz auf. Eine Reise voller überraschender Ereignisse beginnt – sowohl für die ProtagonistInnen, als auch für die LeserInnen.
Diese Gruppe besteht neben Monsieur Samuel Dinsky zum einen aus Ambroise: Er ist Leichenpräparator. Bis auf ein paar weibliche Bekanntschaften, seine Freunde, seinen Beruf und seine Großmutter, gibt es nicht viel in seinem Leben. Seine Mutter ist tot. Mit seinem Vater befindet er sich im Streit. Zum anderen ist da Manelle: Sie kümmert sich als Pflegekraft um alte Senioren und unterstützt sie im Alltag. Nicht alle sind ihr so freundlich gesinnt wie Monsieur Dinsky und viele können ihr das Leben schonmal schwermachen. Für die LeserInnen bieten diese Begegnungen mit ihren Patienten immer wieder Anlass zum Schmunzeln. Es gibt zum Beispiel Monsieur Mauvinier, der versucht Manelle zum Klauen anzustiften, indem er in seiner ganzen Wohnung, zum Beispiel in der Mikrowelle Geld verteilt. Allerdings nimmt sie das Geld nie mit und bringt ihn so zur Verzweiflung. In ihrem immer wiederkommenden Trott hat Manelle mit der Zeit viel Energie verloren. Beth dagegen sprüht vor Lebenslust. Sie ist Ambrois‘ Großmutter und mischt sich nur allzu gern in sein Leben ein. Ihre zweite Leidenschaft ist die Zubereitung von Köstlichkeiten. Beth ist zwar eher zufällig Teil der Reisegruppe, wird aber zur heimlichen Verbündeten Samuels und ist die gute Seele der ungewöhnlichen Gruppe.

In der Schweiz warten unvorhergesehene Ereignisse und Wendepunkte auf die Vier, genauso wie ein unerwartetes Zusammentreffen mit Ambrois‘ Vater, der dort als Arzt tätig ist. Die LeserInnen werden in eine Flut von Emotionen und Empfindungen hineingeworfen: Freundschaft, Liebe, Wut, Einsamkeit, wiederentdeckte Lebensfreude, Tod und Versöhnung – all das inmitten von Menschen wie du und ich. Jean-Paul Didierlaurent kreiert einen Roman, der Nähe und Mitgefühl zulässt. Die LeserInnen können weinen, lachen, vor allem aber nachempfinden und sich selbst reflektieren.
Wie bereits sein erster Roman Le liseur du 6h 27 ist auch Le reste leur vie ein durch und durch charmanter Roman. Gefüllt mit Witz und einer ordentlichen Portion Sarkasmus verfällt man beim Lesen immer wieder ins Schmunzeln, wenn nicht gar ins herzhafte Lachen. Die Struktur ist klar, die Sätze kurz und aussagekräftig. Zwischendurch verliert sich Didierlaurent in langen, detailreichen Beschreibungen, die jedoch immer wieder zum Kern zurückfinden.

Le reste de leur vie ist kein Roman, der besonders viel Konzentration oder Kombinationsgabe erfordert, aber es ist ein Roman, der berühren kann. Sicherlich sind einige Passagen vorhersehbar, das Ende ist trotzdem überraschend – ob es gefällt, müssen die LeserInnen für sich entscheiden. Jean-Paul Didierlaurent stellt eines der meistdiskutierten Anliegen unserer Zeit in den Mittelpunkt: die Sterbehilfe in der Schweiz. Im Roman selbst findet dieses Thema den Zugang über die Hauptfigur Samuel Dinsky, der sich genau dieses Lebensende wünscht. So erfahren die LeserInnen auf leichte Art und Weise, nämlich versteckt zwischen den Zeilen eines vermeintlich leichten Romans, eine Menge über Beweggründe, Gedanken oder auch Ängste im Hinblick auf den selbstdatierten Tod. Auch die Reaktionen und Gefühle der Nahestehenden werden vermittelt. Die LeserInnen haben neben den witzigen und sarkastischen Abschnitten also auch einige triste und melancholische Romanstellen, die sie zum Nachdenken bringen.