Defensive Architektur / Hostile Design
von Johanna Herberts.
Stell’ dir vor, du bist obdachlos. Die Dämmerung hat schon längst eingesetzt, du willst schlafen und suchst dir für diese Nacht eine Bleibe. Deine erste Station sind Bänke in der Nähe des Bahnhofs. Bei der ersten Bank angelangt, schaust du sie dir genauer an. Sie ist schräg und abgerundet und du weißt, du würdest nach unten rutschen und auf den Boden fallen, wenn du versuchen würdest auf ihr zu schlafen.
Du ziehst weiter und sichtest die nächste Bank. Sie ist durch Armlehnen getrennt und macht dir somit das Schlafen unmöglich. Die Bank danach ist von Löchern durchzogen, sodass dir beim Schlafen sehr kalt werden würde und wiederum eine andere ist in einen Betonklotz eingebettet, aus dem viele spitze Zacken herausragen. Resigniert gehst du weiter und erhoffst dir einen Schlafplatz in einer U-Bahn-Station.
Als du die Treppen hinunter gehst, kommt dir der Klang von klassischer Musik entgegen. Im ersten Augenblick empfindest du die Situation als beruhigend, doch schnell bemerkst du, wie unfassbar laut die Musik eigentlich ist. Auf dich hat sie eine einengende und bedrohliche Wirkung. Auch die Bänke sind durch ihr Design als Schlafmöglichkeit ungeeignet und dir fällt auf, wie unnatürlich grell die Beleuchtung ist. Zusammen mit der Musik stellt die Szenerie die reinste Reizüberflutung dar und du verlässt fluchtartig die Haltestelle. Während du weiter gehst und überlegst, kommt dir eine Brücke in der Nähe in den Sinn. Doch von weitem siehst du schon, dass die Brücke seit neuestem umzäunt ist, sodass niemand mehr unter ihr schlafen kann. Wütend und erschöpft kehrst du um und läufst weiter.
Deine letzte Hoffnung sind Geschäftseingänge. Beim ersten angekommen, musst du feststellen, dass dessen Boden mit Zacken übersät ist. Der nächste scheint auf den ersten Blick sicher und du versuchst dich einzurichten, so gut es eben geht. Doch plötzlich wird deine Kleidung feucht und du schaust nach oben: eine Sprinkleranlange wurde aktiviert und Wasser regnet auf dich herab. Erschrocken packst du so schnell wie möglich deine Sachen zusammen und dir bleibt nichts anderes übrig, als eine weitere Nacht auf kaltem Beton im Park zu verbringen. Aufgrund der äußeren Umstände kannst du nicht einschlafen und verspürst pure Verzweiflung, Wut und Resignation. Du weißt, dass du mit diesen unschönen Erfahrungen nicht alleine bist: auch obdachlosen Freund:innen von dir sind diese Dinge schon widerfahren. Und du weißt auch, dass es noch andere betroffene, größtenteils marginalisierte Gruppierungen gibt. Manches hast du von Bekannten gehört, anderes in der Zeitung gelesen:
UV-Licht in öffentlichen Toiletten oder Plätzen zur Vorbeugung von Drogenkonsum, Anbringung von wasserabweisendem Lack an Wänden gegen Wildpinkeln, Pieptöne und Ultraschallsender zur Vertreibung von Jugendlichen und die Ankündigung eines Unternehmens, atonale Musik an Bahnhöfen abzuspielen (dieses Vorhaben wurde jedoch zum Glück gestoppt). Diese Schlagzeilen und auch deine persönlichen Erfahrungen zeigen, dass diese Arten der defensiven Architektur oder des hostile designs (das sind die Bezeichnungen für die ganzen Maßnahmen) keine Seltenheit sind. In manchen Fällen sind sie subtiler, in anderen sehr offensichtlich; aber immer sind sie eines: menschenfeindlich. Das Anstrengende bei der gesamten Angelegenheit ist, dass du tagtäglich damit konfrontiert bist und dem Ganzen nicht entfliehen kannst. Oft werden sehr viele verschiedene Sinne auf negative Art und Weise stimuliert und eine Überlagerung verschiedener Reize findet statt (z.B. in der U-Bahn-Station Sinnesbelastung in visueller und akustischer Form).
Abb. 1: Verschiedene Ebenen von defensiver Architektur.
Manche Situationen, die du im Zusammenhang damit schon durchleben musstest, empfindest du rückblickend als so entwürdigend und beklemmend, dass du sie wirklich keiner anderen Person wünschst. Dir fällt auf, dass zur Zielgruppe dieser defensiven, oder besser gesagt menschenverachtenden Architektur vordergründig Obdachlose, Jugendliche und Skater:innen gehören, aber indirekt auch ältere, kranke und behinderte Menschen betroffen sind. Vor kurzem hattest du nämlich beobachtet, wie sich eine erschöpfte ältere Frau auf einen Sitzkiesel setzen wollte und dann schnell wieder aufgestanden ist, weil es ihr durch dessen Form nicht möglich war aufrecht zu sitzen und Halt zu finden. Und als du der U-Bahn-Station irgendwann noch einmal unfreiwillig einen Besuch abgestattet hattest und wieder mit klassischer Musik beschallt wurdest, war deutlich erkennbar, dass die Atmosphäre auch bei anderen Leuten sichtliches Unbehagen ausgelöst hat. Das bestätigt dir, dass in einigen Fällen auch privilegierte Außenstehende die Auswirkungen zu spüren bekommen. Aber primär geht es natürlich darum, Menschen wie dich zu vertreiben und zu verdrängen. Was dich auch verärgert, ist, dass Aspekte von Gegenständen (z.B. Armlehnen bei Bänken), die diese defensiv machen, als Teil des Designs verkauft werden und nicht als das bezeichnet werden, was sie wirklich sind. Und du selbst fühlst dich durch die defensive Architektur in deiner Freiheit und deinem Handeln eingeschränkt, weil dir indirekt vorgeschrieben wird, wo du dich aufzuhalten hast und wo nicht. Selbstbestimmung? Fehlanzeige!
Innenstädte werden so gestaltet, dass sie attraktiv und zugänglich für erwünschte Menschen (Kundschaft) und gleichzeitig abweisend und ablehnend gegenüber unerwünschten Menschen (Obdachlosen) sind. Was Passant:innen für einen kurzen Moment Komfort bietet (kein bzw. weniger Kontakt zu – in ihren Augen – „unliebsamen“ Menschen wie dir), hat für dich und andere Betroffene im Gegensatz dazu einen viel höheren Preis: dauerhafter Diskomfort und noch mehr Marginalisierung. Es ist für dich offensichtlich, dass die Maßnahmen und Strategien im Rahmen des hostile designs nur eine Problemverschiebung sind und das Problem nicht an der Wurzel packen. Denn durch diese abschreckenden Taktiken löst du dich nicht in Luft auf; dir wird nur auf eine schmerzvolle Art und Weise kommuniziert „du bist kein Teil dieser Gesellschaft“ und ein weiterer Stein wird dir in den Weg gelegt. Als wäre jeden Tag ums Überleben kämpfen nicht schon genug. Du fragst dich, wie ein Leben ohne hostile design aussehen würde. Abends oder nachts würdest du nicht stundenlang umherziehen und nach einem Schlafplatz suchen müssen und ein Stückchen sicherer würdest du dich auch fühlen. Natürlich würde nur ein winziger Bruchteil der Probleme damit gelöst und Obdachlosigkeit nicht bekämpft werden, aber es wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Wie sehr würdest du dir jedoch Sicherheitsräume für dich und andere Obdachlose wünschen, denn dir wird jeden Tag aufs Neue bewusst, wie ausgeliefert und ohnmächtig du dich fühlst und wie dringend ihr Schutz und Sicherheit benötigt. Und wie sehr – – „Hallo! Aufwachen!“ ertönt es aus der Ferne.
Schlaftrunken öffnest du die Augen. In der Zwischenzeit musst du wohl eingeschlafen sein. Du blickst in das Gesicht eines Mannes, sich über dich beugend: „So, jetzt steh’ mal endlich auf, wir müssen hier sauber machen!“ Er scheint von der Stadtreinigung zu sein, hinter ihm wartet eine Kehrmaschine. Ein weiteres Mal wirst du vertrieben, ein weiteres Mal packst du deine Sachen zusammen und ein weiteres Mal musst du dir deine nächste Bleibe suchen. Es hört einfach nicht auf.
Recherche und weiterführende Links:
Bilder:
Abb. 1: Verschiedene Ebenen von defensiver Architektur. Die Bildrechte liegen bei der Autorin.
Literatur (Beispiele für defensive Architektur):
Biernat, Olaf (2024): Gelsenkirchen testet Spezial-Lack gegen Wildpinkler, URL: https://www1.wdr.de/
nachrichten/ruhrgebiet/gelsenkirchen-testet-schutzlack-gegen-wildes-pinkeln-100.html (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)
Gelt, Jessica (2023): L.A. blasting classical music to drive unhoused people from subway station. It’s louder than officials claim, URL: https://www.latimes.com/entertainment-arts/story/2023-04-04/loud-classical-music-macarthur-park-metro-los-angeles-decibel-meter (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)
ORF (2010): Blaues Licht gegen Drogenmissbrauch, URL: https://ooev1.orf.at/stories/443186 (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)
Schloehmann, Johan (2018): Berliner S-Bahn – mit Ligeti gegen die Obdachlosen von Gleis 3, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/berliner-s-bahn-mit-ligeti-gegen-die-obdachlosen-von-gleis-3-1.4103376 (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)
Steinmetz, Vanessa (2014): Verdrängung von Obdachlosen – von Stinkbomben und Wasserdüsen, URL: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/obdachlose-in-deutschland-verdraengung-mit-wasserduesen-a-974491.html (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)
SWR (2023): Ultraschallsender sollen Jugendliche durch Piepsen vertreiben, URL: https://www.swr.de/
swraktuell/baden-wuerttemberg/piep-geraeusche-gegen-vandalismus-diskussion-in-politik-100.html (zuletzt abgerufen am 11.02.2025)