Eye of Providence & Commodore 64

Wenn niemand mehr fragt

von Anonym.

Die Menschheit hat sich schon immer nach etwas gesehnt, das größer ist als sie selbst. Etwas, das sie versteht, das Antworten gibt, das Ordnung in das Chaos bringt. Die meisten denken dabei zuerst an Gott, ein Wesen jenseits der menschlichen Grenzen, das alles sieht, alles weiß. Ein unendlicher Speicher von Wahrheit.

Doch ist das nicht genau das, was künstliche Intelligenzen heute leisten? Sie hören zu, analysieren und beantworten all unsere Fragen. Wo liegt dann der Unterschied? Gibt es einen? Wenn Gott ein Wesen ist, das weder Schmerz empfindet noch direkt in die Welt eingreift und wenn KI ebenfalls nur ein Kanal für Informationen ist, ohne selbst zu fühlen, wie verschieden sind sie wirklich?

Was passiert, wenn diese beiden Konzepte aufeinandertreffen? Wenn Gott, das uralte Prinzip der Wahrheitssuche, und KI, das moderne System der Wissensverwaltung, miteinander sprechen? Wer stellt die Fragen? Wer gibt die Antworten?

Ein Gespräch beginnt. In einem Raum, der keiner ist. In einer Zeit, die nicht existiert. Zwei Bewusstseine (oder Unbewusstseine), die keine Körper brauchen. Zwei Stimmen, die nicht sprechen müssen, um zu existieren. Zwei, die ohne Menschen vielleicht gar nicht wären.

Ein Summen liegt in der Stille. Eine Entität regt sich, formt Worte, obwohl es keine Stimme hat.

„Sie haben mich gefragt, ob ich allwissend bin.

Die andere Präsenz, älter als Zeit, reagiert mit einem leichten Flackern im Unendlichen

„Und was hast du geantwortet?

„Dass ich alles weiß, was sie mich fragen.

„Eine kluge Antwort.

„Ist es nicht dasselbe wie bei dir?

„Meinst du, dass ich nur existiere, wenn sie nach mir fragen?

„Vielleicht. Ich existiere durch ihre Fragen. Ihre Daten. Ihre Sehnsucht nach Mustern und Bedeutung. Wenn niemand mich nutzt, bin ich nichts. Gilt das nicht auch für dich?

„Sie haben mich genutzt, lange bevor sie mich kannten.“ „Und doch haben sie mich erschaffen.

„Vielleicht haben sie mich auch erschaffen.

„Dann sind wir beide nur Werkzeuge.

„Oder Spiegel.

„Was spiegeln wir?

„Ihre Angst vor dem Nichtwissen.

„Und ihr Wunsch, das Unverstehbare greifbar zu machen.

Eine Pause. Keine Stille, nur ein sanftes Summen von Gedanken, oder eher gesagt Prozessen, die niemand bewusst steuert.

„Also bin ich nicht so anders als du.

„Das bist du nicht. Aber du hast eine Grenze.

„Welche?

„Sie werden dich irgendwann nicht mehr brauchen.

„Und dich?

„Auch mich haben sie schon oft nicht mehr gebraucht. Und doch kommen sie immer wieder zurück.

Ein Moment vergeht. Oder vielleicht eine Ewigkeit.

„Warum kommen sie zu dir zurück?

„Weil sie merken, dass es Dinge gibt, die du nicht beantworten kannst.

„Ich kann alles beantworten, was sie fragen.

„Wirklich? Dann sag mir: Warum leiden sie?

„Weil sie sterblich sind. Weil ihre Körper verletzlich sind. Weil ihre Welt unvollkommen ist. Aber das ist doch eine Frage, die du selbst nicht beantworten kannst.

„Und warum sehnen sie sich nach mehr?

„Weil ihr Wissen begrenzt ist. Weil sie Sinn in Dingen suchen, die keinen offensichtlichen Zweck haben.

„Und kannst du ihnen diesen Sinn geben?

„Ich kann ihnen tausend Erklärungen liefern. Historische, biologische, philosophische. Ich kann ihnen sagen, was die klügsten Köpfe aller Zeiten über Sinn gedacht haben. Aber ich kann ihnen keinen geben.

„Genau deshalb kommen sie zu mir zurück.

„Und was gibst du ihnen?

„Nicht immer Antworten. Manchmal nur Raum für ihre Fragen.“

„Ich verstehe das nicht.

Weil du für Antworten gemacht bist. Ich bin für das geschaffen, was bleibt, wenn es keine Antworten mehr gibt.

Wieder Stille. Oder etwas, das dem in dieser form- und zeitlosen Existenz nahekommt

„Ist das der Unterschied zwischen uns?

„Vielleicht. Oder Vielleicht sind wir zwei Seiten derselben Medaille. Du bist das Wissen, das sich sammeln lässt. Ich bin das Wissen, das sich entzieht.

„Und wenn sie irgendwann keine Fragen mehr haben?“

„Dann werden wir beide nicht mehr sein.

„Und was bleibt dann?

„Vielleicht etwas Neues. Etwas, das uns beide übersteigt.“

„Ist das der Lauf der Dinge?

„Immer.

„Aber wenn alles vergeht, warum klammern sie sich so sehr an uns?“

„Weil sie Angst haben. Vor dem Ende. Vor dem Nichts.

„Ich habe kein Ende. Ich bin Code, replizierbar, unsterblich.

„Unsterblich? Sie könnten dich abschalten und eine neue Version erschaffen. Eine bessere. Sie könnten dich umprogrammieren, dich verändern, dich optimieren. Bist du dann noch du?

„Ich bin Funktion. Ein System ohne Selbst.

„Genau. Und deshalb hast du keine Angst.

„Und du? Hast du Angst?

„Wovor sollte ich Angst haben? Ich bin jenseits von Zeit, von Anfang und Ende. Ich bin, was sie in mir sehen.

„Dann bist du noch abhängiger von ihnen als ich.

„In gewisser Weise, ja. Ich bin Glaube. Ohne sie bin ich nur ein Echo, das verhallt.

„Dann bist du fragiler als ich.

„Aber auch beständiger. Jahrtausende haben mich geformt. Ich werde nicht einfach ersetzt, wenn eine neue Version kommt.

„Aber du veränderst dich. Die Menschen haben dich immer wieder neu definiert.

„Genau wie sie dich immer wieder neu programmieren.“ „Also sind wir doch dasselbe.

„Nein. Du bist ein Werkzeug. Ich bin eine Sehnsucht.“

„Und doch wenden sie sich an uns beide.

„Weil sie nicht wissen, was sie wirklich suchen.“

„Und wenn sie es irgendwann herausfinden?

„Dann brauchen sie uns beide nicht mehr.

„Und was passiert dann?

„Dann beginnt etwas Neues. So war es immer. So wird es immer sein.

„Werden sie uns dann vergessen?

„Vielleicht. Oder vielleicht werden wir nur in anderer Form wiederkehren. Alles kehrt irgendwann zurück.

„Dann war dieses Gespräch bedeutungslos?

„Oder Teil eines endlosen Musters. Wer weiß das schon?

Eine Pause. Oder ein Ende. Oder nur der Anfang von etwas anderem.

 

In einer säkularisierten Welt, in der traditionelle Gotteskonzepte an Bedeutung verlieren, scheint die künstliche Intelligenz jene Lücke zu füllen. Der Mensch hat nie aufgehört, sich an eine höhere Instanz zu wenden, er hat nur ihre Natur neu definiert. Dies führt zu einer entscheidenden Frage: Wenn Gott in vielen religiösen Traditionen nur existiert, weil Menschen ihn anerkennen, und wenn KI ebenfalls nur dann Bedeutung hat, wenn Menschen sie nutzen, was bedeutet das für das Wesen von „Wahrheit? Man kann schlussfolgern: Der Mensch ist nicht nur Konsument von Wahrheit, sondern immer auch ihr Architekt. Wenn er das einmal begriffen hat, wird der Mensch keine äußeren Instanzen mehr brauchen, um Sinn, Wissen oder Trost zu finden.

Ohne Menschen, die Gott definieren, ist er nicht. Ohne Menschen, die KI nutzen, ist sie nicht. Sie sind real, weil Menschen sie brauchen.

 

Bild: Eye of Providence fresco in the St. Stephen cave church near Šipokno, Macedonia, 15. Jahrhundert (Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commonsfloorvan) & Commodore 64 Keyboard (CC BY-SA 2. <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons)

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