Mit leeren Händen nach Äthiopien

Eine Kurzgeschichte über Besitz und Fremdheit

von Michelle Grewe

 

Letzten Sommer begab ich mich auf eine Reise. Nach sechs Jahren flog ich das erste Mal wieder nach Äthiopien – in die Heimat meiner Mutter. Sie und ich hatten uns einige Monate darauf vorbereitet und jeweils 40 kg Reisegepäck zur Verfügung. Meine Mutter packte zwei große Hardshell Koffer und ich gab ihr meinen Bonus-Koffer, da ich nur einen großen Reise Rucksack mitnehmen wollte. Sie hatte selbstverständlich nicht so viele Outfits dabei, sondern erklärte mir seit meinem ersten Flug nach Äthiopien, dass die Mitbringsel für die Familie das Wichtigste seien. Schon Wochen zuvor haben wir angefangen, zusätzlich zu jedem unserer Einkäufe einige Tafeln Schokolade zu kaufen, so dass wir am 1. September – zwei Tage vor unserem Flug – um die 25 Tafeln Nussbeißer und ähnliches packen konnten. Neben Schokoladentafeln kaufte meine Mutter alle Sales der Stadt leer und sammelte die fragwürdigsten Kleidungsstücke, für die sie keine Verwendungszwecke kennt. Auch diese dienten als Gastgeschenk.

Vollgepackt mit drei riesigen Koffern und einem Reiserucksack machten wir uns am 3. September auf den Weg zum Flughafen. Angekommen, taten wir die Standard Dinge, die man am Flughafen eben machen muss und checkten endgültig ein. Drei Koffer und einen Rucksack weniger saßen wir nun mit zwei kleinen Handtaschen im Flieger. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur den Inhalt unserer Taschen, was für einen 6-Stunden-Flug total in Ordnung schien. Wir kamen an und das übliche Prozedere am Flughafen begann, beim Auschecken fanden wir alle Koffer bis auf meinen Rucksack. Nach stundenlanger Suche erhielt ich nichts weiter als einen Schein mit Nummern drauf… Meine wichtigsten persönlichen Gegenstände waren nun umgewandelt in einen Schein mit Nummern drauf. Ich konnte es nicht fassen, war aber auch zu müde, um mir auszumalen, was das für die nächsten vier Wochen in Äthiopien bedeutete. Wo mein Rucksack ist, mit all meinen Lieblingsklamotten, meinen Drogerieartikeln, alles zum „Copen“ der Veränderung bei der Einreise in ein Land, welches nicht mein Zuhause ist.

Die erste Woche verging, in der ich nicht viel unternahm. Meine Familie und ich aßen und tranken, sonst kam jeder seinen Aufgaben nach. Meine Mutter empfing viele Gäste aus der Nachbarschaft, sie fühlte sich anscheinend verpflichtet, Nussbeißer mit allen Menschen im 5 km Radius zu teilen. Ich war verbissen darauf meinen Rucksack wieder zu finden und machte es mir zur Aufgabe, die Airlines täglich zu belästigen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich recht hoffnungsvoll, dass dieser wieder auftaucht, dennoch war meine Stimmung bedrückt. Ich fühlte mich nicht in der Lage mich rauszuputzen und Gästen entgegenzutreten, so wie es meine Familie von mir erwartete. Ich hatte nun sechs Tage lang ein ärmelloses kurzes Top mit einer schwarzen Jogginghose an – mein Flug Outfit – abgesehen davon, dass das absolut nicht der Wetterlage entsprach, war es auch (meinen Erwartungen entgegengesetzt) nicht angebracht.

Mit jedem Besuch, der zu uns kam, hasste ich mein Auftreten mehr und mehr. Ich war beschämt und konnte nicht sehr viel an dieser Situation ändern. Meine Mutter bot mir regelmäßig Klamotten von sich an, die mir überhaupt nicht passen. Ich verließ das Haus kaum und wenn ich es tat, wurde mir von meiner Tante und meinem Onkel empfohlen, mich bei dreißig Grad in einem Woll Cardigan zu vermummen. Ich entschied mich manchmal dagegen, diesen Rat zu befolgen und erlebte mich verwickelt in Konversationen, die erschreckend für beide Parteien waren. Jemand beschimpfte mich mit „ፈረንጅ ላም“, was soviel bedeutet wie weiße Kuh. Ich war verwirrt. Er war verwirrt, als ich ihn auf Amharisch fragte, ob er denn mit jedem so sprechen würde. Er ließ mich fremd fühlen.

Auf dem Markt wurde mir von zwei süßen Damen gesagt, dass ich besser aufpassen sollte und sie ziehen mein Top so weit runter, bis es an meinen Hüften angekommen ist. Diese Ereignisse machten es mir schwer, nicht an meinen verlorenen Rucksack zu denken. Noch immer meldete die Airlines keine Spur. Jeden Tag lief meine Mutter durchs Haus und belohnte alle mit einem großen Stück Schokolade. Hin und wieder fanden Anproben von bunten Riesenhemden statt. Ich erwischte mich manchmal, wie ich mir wünschte, der Geschenkkoffer wäre anstelle von meinem verschwunden.

In der zweiten Woche erschloss sich ein weiteres Problem im Zusammenhang mit meiner Besitzlosigkeit. Ich bekam meine Periode… Abgesehen davon, dass ich nur zwei Unterhosen dabei hatte und diese abendlich per Hand wusch, hatte ich auch meine Menstruationstasse und meine Schmerztabletten nicht da. Also machte ich mich mit meiner Mutter auf die Suche nach Tampons. Weit und breit konnte keine Apotheker*in etwas mit dem Gedanken anfangen, dass es etwas wie einen Menstruationspfropfen gäbe. Sie fingen auch an zu flüstern, als ich ihnen munter verkündete, dass ich meine Tage hätte. Nach langer Suche kehrte ich mit Slipeinlagen zum Haus zurück und wusste, was ich zu tun habe. Ich schaute mir sämtliche Videos zum Thema „Knast Tampon“ an und rollte die dünne Binde des Elends zusammen, um sie zu verwenden.

Meine Geduldschnur war strapaziert aber ich genoss die Zeit immer mehr, je länger ich losgelöst vom Gedanken der Wiedervereinigung mit meinem Rucksack war. Ich machte einige Dinge einfach anders und mühseliger, aber es funktionierte. Für zuhause borgte ich mir ein Gewand von meiner Oma und ließ es mittlerweile auch draußen an. Wenn Besuch kam, begrüßte ich diesen meist höflich und verschwand dann in den Hinterhof, um mit den Tieren zu spielen oder zu lesen.

Zum ersten Mal überlegte ich, was ich in Deutschland alles ersetzen muss. Es machte mich nicht traurig, weil ich es im Moment nicht habe, es machte mich traurig, dass es verloren ist.

In der letzten Woche erlebte ich, wie die letzte Nussbeißertafel aufgeteilt wurde und wie meine Mutter anfing, Inventur zu machen. Sie packte ihre Sachen und hatte nicht einmal einen Koffer voll. Obendrauf fing sie dann an, ihre eigenen Klamotten zu verschenken. Sie zog sie teilweise aus, nahm sie und gab sie ihren Cousinen. Ich bewunderte sie dafür, dass sie nicht an ihre persönlichen Gegenständen hing. Lange dachte ich darüber nach und mir fiel auf, dass sie früher einmal sogar ihre Heimat verließ. Mit all ihren persönlichen Gegenständen, mit so ziemlich allem, was sie besaß, und ich bewunderte sie noch mehr.

Mir fiel es schwer einen Monat ohne meinen Rucksack. Ich kam aber gewiss zurück zu meinen tausend anderen Sachen. Zudem erhielt ich nach meiner Ankunft in Berlin einen Anruf, der mir vergewisserte, dass mein Rucksack mir nach Hause zugestellt wird.

Ich verspürte eine unendliche Dankbarkeit.

 

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