Halb zog sie uns – halb sanken wir hinein (ein Einblick in das ethnografische Forschen)

Mit dem Hintergedanken, dass mein Forschungspartner, „G“ und ich uns auf die schwerer zu erreichende, institutionalisierte Form der Betreuung für psychische Erkrankungen geeinigt hatten, mache ich mich auf den Weg zum Klinikum. Es ist mit die größte Institution hier bei uns, welche eine geschlossene Psychiatrie umfasst und  damit G’s Wunschinstitution. Wir fragen uns wie die Leute einander begegnen und wie Mitarbeitende mit Patient*innen und umgekehrt umgehen.

Es ist 8:00 Uhr und ich habe mich soeben in die Buslinie 35 gesetzt. Im Anbetracht des Nebels, welcher die Sicht um einiges mindert, bin ich froh, dass mich das öffentliche Verkehrsmittel von A nach B bringt und ich mich nicht für das Auto entschieden habe. Nicht ohne Grund suchte ich mir bei meiner vorherigen Recherche im Internet diese Zeit aus. Auf der Website stieß ich auf das Tagesklinische Angebot. Von 9:00-17:00  Uhr gibt es „wohnortnahe Behandlungen in multiprofessionellen Einzel- und Gruppentherapien“. Ich erhoffe mir so einen legitimen, nicht offensichtlichen Einblick in die Institution durch die Ankunft der verschiedenen Teilnehmer*innen. Auch, um einen Überblick über die Lage und das Gelände zu bekommen.

Der Bus fährt über eine Straße aus Pflastersteinen und es fällt mir schwer etwas niederzuschreiben. Die Kopfhörer, die ich trage, dienen dazu Außengeräusche vorerst zu dämpfen damit ich in Ruhe aus dem Fenster starren kann. Ich steige aus dem Bus aus und werde vor dem Lageplan, welche mich zu meinem Ziel, Haus 76, leiten soll von einem Mann, welcher grade das Laub weg harkt, angesprochen. Er fragt, ob der Gegenstand, den ich in meinen Händen halte, ein Navigationsgerät sei. Lächelnd korrigiere ich, dass es ein Computer ist. Erschrocken stelle ich fest, dass das Haus 76 gefühlt am anderen Ende der Welt liegt. Ich stampfe über den Parkplatz und gehe, soweit mich der Nebel sehen lässt, auf ein Gebäude zu. Es ist umringt mit fünf Meter hohen Mauern und, etwas unauffällig aber bei genauerem Hinsehen bemerkbar, einem Stacheldraht. „Ist das etwa die Psychiatrie?“, frage ich mich. Irgendetwas hat mich daran gehindert nachzusehen, wofür dieses Haus gebaut wurde und wofür es nun dient. Ich gehe weiter und schiele in ein Fenster im Erdgeschoss, fast schon Keller. Ich sehe Töpfe, Vasen, Keramik. Vielleicht sitzt hier, angrenzend an die Psychiatrie die Kunsttherapie. Ich will meinen Fund dokumentieren und setzte mich bei den eisigen 3° Celsius auf eine Bordsteinkante mit Blick auf das große, mehrstöckige Gebäude. Aus dem Hinterausgang des Hauses kommen drei Damen raus spaziert, um den Müll neben mir in die Mülltonnen zu befördern. Ich gucke konzentriert auf meinen Laptop. Sie zünden sich jeweils eine Zigarette an und rauchen sie gemütlich neben mir auf. Ich muss dazu sagen, dass ich den Abfall des Rauchens ungern einatme, aber mein Schal reicht grade so über meine Nase und ich lasse es über mich ergehen. Ich trage immer noch meine Kopfhörer, ohne dass Musik läuft, um beschäftigt zu wirken und um meine Ohren zu wärmen. Die Damen verschwinden und ich gehe weiter. Ich gehe an dem anderen Ende des Gebäudes vorbei und sehe, dass eine Frau in das Gebäude eintreten möchte. Es ist von außen sichtbar, dass sie vor dem Eingang stehen bleiben muss und sich ausweist um eintreten zu können.

Ich gehe an einem anderen Haus mit einer gläsernen Fassade vorbei. An einigen bunten Gläsern stehen Wörter wie Musik und Café, etwas mit Zusammenkunft, das genaue Wort habe ich schon wieder vergessen. Die Kulturanlage sehe ich zu meiner rechten, ebenfalls im Vorbeigehen. G hatte mir am Wochenende erzählt, dass diese am Sonntag Tag der offenen Tür hatte. Eine Person in der typischen weißen Krankenhaus- oder Pflegebekleidung tritt heraus und putzt das Glas der Eingangstür mit einem Mikrofaserlappen. Ich setzte mich wieder hin, um das Gesehene zu notieren. Ich sehe mir nochmals den Wegweiser, welcher an einer kleinen Kreuzung positioniert ist an, damit ich sicherstellen kann, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Diesmal setze ich mich auf eine nasse Bank vor einem großen Vogelkäfig in Form eines Pavillons. Es sitzen und zwitschern die buntesten Vögel darin. Ich ziehe meine Handschuhe an, weil meine Finger entsetzlich frieren. Ein Mann, sportlich bekleidet und einen Ohrring am rechten Ohr tragend, spaziert um den Pavillon herum und als ich aufstehe und gehe, zündet er sich eine Zigarette an. Ich finde ein schmuckloses Denkmal auf einer großen Wiese. Ich verliere den ein oder anderen Gedanken daran und gehe weiter. In regelmäßigen Abständen findet sich immer wieder die Beschreibung „Gesundheit“ in Kombination mit dem Wort „Bildung“ an unübersehbaren Säulen wieder. Ich komme meinem Ziel immer näher und mustere die verschieden Häuser, an welchen ich vorbeikomme flüchtig. Je näher ich meinem Ziel komme, desto älter und barocker sehen die Häuser aus. Neben dem Haus 76 sehe ich ein Tor zu einer Gärtnerei, welche heute allerdings, wie man auf einem weiteren Schild sieht, nichts verkauft. Dahinter erblicke ich einen, mit Kürbissen bestückten Pferdewagen.

Es ist 8:55 und ich erreiche mein Ziel. Ich quetsche mich durch einen sehr engen, voll gestellten Windfang und setzte mich, ohne weiter in die Räumlichkeiten einzutreten, in dem Treppenhaus auf eine der zwei Treppenstufen kurz hinter dem Windfang. Ich nehme meine Kopfhörer ab. Es tummeln sich bereits viele Menschen im Treppenhaus und in den Räumlichkeiten. Einige begrüßen mich mit einem schnellen „Hallo“. Während ich beschäftigt tue, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass eine Frau kurz stehenbleibt, dann weitergeht, sich dann umdreht und sich zu mir herunterbückt. Sie hat verquollene Augen und sieht müde aus. Sie fragt mich, ob ich etwas suche und siezt mich höflich fragend, wer ich denn sei. Ich entgegne, dass ich mich nur schnell aufwärmen wollte, da ich mich schon lange auf dem Gelände befinde. Das tue ich ohne meinen Namen oder die eigentliche Intention zu nennen. Hinzu füge ich, dass sie sich keine Sorgen machen braucht und ich gleich wieder weg bin. Ich sehe einen Servierwagen von einem Mann und einer Frau, bei denen man nicht äußerlich zuordnen kann, ob sie zu den Leitenden oder den Teilnehmenden gehören, von links nach rechts schieben. Leute führen kurze Gespräche, Kommen und Gehen. Manche von ihnen kommen wieder, manche nicht. Ein älterer Herr schaut auf die mit Bildern und Plakaten bestückten Wände im Eingangsbereich und sieht mich kurz an. Unsere Blicke treffen sich, wir lächeln uns an und begrüßen uns. Ich höre Personen draußen reden während sie rauchen und während sie telefonieren. Im Treppenhaus geht es in den Konversationen schon zwei Mal um verlorene oder vergessene Unterlagen. Es ist 9:23 und ich möchte meinen Bus, den ich grade herausgesucht habe erwischen um rechtzeitig zu einem Seminar zu kommen. Ich verlasse das Haus unbemerkt.

Der Busplaner hat dabei meinen Standort nicht richtig fokussiert, weshalb ich panisch nach einer neuen Verbindung suche. Ruhigen Gewissens sehe ich, dass es eine andere zeitnahe Verbindung gibt und setzte mich an die Haltestelle. Ich möchte  in den nächsten zwei Minuten noch schnell etwas aufschreiben. Kurz darauf sehe ich den Bus in der Gegenrichtung an mir vorbeifahren. Ich habe mich an die Haltestelle für die andere, falsche Richtung gesetzt, da ich mich hier nicht wirklich auskenne. Ich sprinte los. Also denke ich, selbst wenn ich noch so optimistisch wäre, nicht, dass ich ihn erwische. Es sieht so aus, als wären schon alle eingestiegen, doch kurz bevor ich den Bus erreiche, steht ein Mann in der Tür, blickt mich an und hält mir die Tür auf. Diesen Mann habe ich schonmal gesehen. Er ging zuvor aus dem Haus 76 zum Telefonieren zusammen mit einem anderen Mann vor die Tür. Ich bedanke mich mehrfach und bin überglücklich den Bus mithilfe des mir bekannten und doch so unbekannten Mannes noch erwischt zu haben. Nun fahre ich hungrig und mit der nun erledigten täglichen Sportdosis mit dem Bus von Endhaltestelle zu Endhaltestelle und vervollständige dabei noch meine Notizen.

Halb zog sie mich – die Faszination des Fremden und dennoch Alltäglichen, halb versank ich in ihr und meiner Neugier, sodass ich gespannt bin auf Mehr. Wie gehen die Menschen nun konkret miteinander um im Klinikum, wie sprechen sie selbst darüber?

One Comment on “Halb zog sie uns – halb sanken wir hinein (ein Einblick in das ethnografische Forschen)

  1. Im Seminar wurden kritisch zusammengetragen:

    – was habe ich dort gemacht? Anderes Beobachtungen
    – Erschließt sich nicht ganz
    – Schwierigkeit der komplexen Institution nähern -> Gefühle mit drin?
    – vollkommene Wahrnehmung, während ich drin war zu kurz?
    – als mich Person angesprochen hat -> Gefühle!!!!, wie Reaktion von anderer?
    – kleinere Überschriften um Klarheit zu schaffen
    – Einleitend und unverständlich muss aufgelöst werden
    – Auf dem Weg zum Forschungsort und warum (dann anfangen mit 8:00)
    – teilnehmendes Wetter und so zu Detail? Oder ganz klar „was willst du damit sagen“ nicht erklären / beschrieben aber
    – Lageplan auf der Hand und dem Computer -> überheblicher + Verständlichkeit der Irritation zum aufklären
    – Abschotten? Warum mache ich das und warum beschriebe ich das? „ Was möchte ich damit erreichen? nix also uninteressant
    – welche Unwegsamkeiten passieren dort?
    – Feldforschungstagebuch -> detaillierter + Emotionen und ethnografischer Text Unterschied! Emotionen = Erkenntnisinstrument
    – was passiert mit mir mit dem Unvertrauten?
    – Ethno – psychoanalyse
    – Warum das eine und warum nicht das andere?
    – teilnehmende Beobachtung: wohin zu gehen und zu forschen
    – und das was dort erlebt ist das aufzuschreiben
    – ethnografischer text der sich daraus ergibt aus den zwei verschiednen Genres
    – denke es geht um soziale Ausgrenzung? aber stimmt gar nicht
    – Bewegungen / Änderungen im Forschungstagebuch
    – genauer beschrieben damit sichtbar was wirklich möglich
    – dass sich was draus entwickeln könnte / Feldforschung hat ZIEL!
    – Ambivalent mich jemand an und dann wieder zurück , vermisst die Reflexion
    – was passiert beim ersten Kontakt? Problematisiert : Frage nach der ersten Offenbarung
    – Wann sagt man wer man ist und was ich bin? / geheime Forschung
    – einfach erstmal auftauchen und sich vorstellen
    – solche Reflexion: eigene Intention, wie ist es dazu gekommen und eigene Idee?
    – warum nicht geklappt?
    – Was hat es gebracht dorthin zu fahren?
    – Beschreibung von einzelnen Dingen muss ich das wirklich sagen? Irgendwas damit verbunden
    – G noch weiter mit einbeziehen?
    – viel zu kurz gewesen
    – dichte Beschreibung Linie 35
    – in einzelne Stückchen und Happen für verschiedene Beiträge
    – die Leute die ich nicht
    – ich versuche mich nicht zu Stereotypiesieren , und trotzdem hat das Klinikum diesen Ruf
    – Flucht? reflektieren? Innenleben
    – statt ärgerliche Stimmt „wirkt auf mich ärgerlich“
    – Warum nenne ich nicht Namen und Intuition und jetzt flüchte ich
    – Moment des Scheitern „Scheitern als Chance“ Neigel Barley oder cifford Gertz, Moment wo es doch klappt
    – Was hat sie Situation für mich bedeutet?
    – soziale Separieren (was ist das Fremde? Häuser, Nummern, etc.) und Kontaktaufnahme dazu und Methodenfrage und Zugang, wie geht zum Feld?

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