- Welche Modelle von Behinderung sind Ihnen in Ihrer eigenen Bildungsbiografie und den schulischen Erfahrungen als angehende Lehrkraft begegnet? An welchem Zuweisungspraktiken (z.B. durch Äußerungen) machen Sie das fest? (zum Weiterlesen: Waldschmidt, 2005)
- Bitte reflektieren Sie die Erfahrungen mit Exklusion und Inklusion in der Bildungsbiografie der beiden Gäste (Frau Dittmann und Herr Palkowski) vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen:
Gab es Punkte in meiner Bildungsbiografie, an denen mein Bildungsweg befördert wurde? An denen er begrenzt wurde? Was spielte hierbei eine Rolle? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für mich als angehende Lehrkraft? - In der Vorlesung wurde auch die Perspektive von Eltern angesprochen. Bitte schauen Sie sich das Video zum Engagement von Eltern (Gespräch mit Elke Gerdes) an: https://uni-bremen.de/themen/engagement-von-eltern/:
Welche Meinung haben Sie zum Elternwahlrecht? Was sind Vor- und Nachteile? Welche Bedeutsamkeit messen Sie der Zusammenarbeit mit Eltern bei und was sind zentrale Gelingensbedingungen? (zum Weiterlesen: Wocken, 2017)
1.Meine Schulzeit habe ich an einem katholischen Mädchen-Klostergymnasium in Bayern verbracht. Die Struktur der Schule war dabei extrem auf eine sehr homogene Schülerinnenschaft ausgelegt und individuelle Förderung fand kaum statt. Insofern hatte ich während meiner Schulzeit äußerst wenige Berührungspunkt mit dem Thema Behinderung. An meiner Schule gab es definitiv das vorherrschende Modell von Behinderung als individualistische Thematik. Es wurde dabei auf die Methodik gesetzt, dass der „Einzelne so weit wie möglich an seine Umwelt angepasst wird“ (Waldschmidt A. 2005, S.4). Es gab dabei keinerlei Versuche, die schulischen Strukturen integrativer zu gestalten. Dies fing bereits beim Gebäude an: es handelte sich um einen historischen Schulbau mit vielen Treppenhäusern, in dem es nicht möglich war, auch nur einen einzigen Raum zu erreichen, ohne das Treppenhaus zu nutzen. Dies wurde für mich selbst, in der Situation, in der ich mein Bein gebrochen hatte, zur Belastung. Jedoch wurden in dieser Hinsicht nie bauliche Maßnahmen unternommen, was zur Folge hatte, dass vielen Menschen der Zugang zu dieser Schule schliechtweg nicht möglich war. Aufgrund meiner fehlenden eigenen Erfahrungen mit behinderten Menschen im schulischen Bereich würde ich gerne dieselbe Frage bezüglich Erfahrungen im privaten Bereich erläutern.
Meine Familie ist sehr eng mit einer anderen Familie befreundet, deren jüngster Sohn M. im selben Alter wie mein kleinster Bruder ist. M. kam beinahe gehörlos zur Welt, was zwar nicht diagnostiziert wurde, jedoch zu einer Entwicklungsverzögerung führte. Die Eltern versuchten danach das Kind mit psychischem Druck und Liebesentzug zu „normieren“. Dies ging über Jahre lang, ohne dass das Kind je eine Diagnose oder gar individuelle Förderung in jeglicher Hinsicht erhielt. Ich selbst habe dies als Kind vor allem daran gemerkt, wie groß der Kontrast zwischen meinem kleinsten Bruder und M. wurde, bezüglich Entwicklung, aber vor allem bezüglich Behandlung durch die Eltern. Das Kind wurde schlicht als „behindert“ abgestempelt und die Behinderung wurde von den Eltern in keiner Weise als soziale oder gar familiäre Problematik, sondern rein als ein statisches individuelles Schicksal und als große Belastung für die Familie gewertet. Es wäre von Anfang an Verantwortung der Familie gewesen die Behinderung von M. auch als sozial konstruiert zu betrachten und somit das Kind mit seinen Bedürfnissen zu akzeptieren und zu fördern. Die angeborene Hörschwäche hätte zum Beispiel Logopädie, ein anpassen der Räumlichkeiten und besondere sprachliche Förderung in der Familie notwendig gemacht. Da M. jedoch niemals Förderung und Wahrnehmung seiner Bedürfnisse erhalten hatte, die eigentlich jedem Kind zuteilwerden sollte, wurde so seine Entwicklungsverzögerung und auch seine Sprachproblematik um einiges verstärkt, wenn nicht sogar erst dadurch in dem Maße erzeugt.
2. Die beiden Erfahrungen bezüglich Inklusion und Exklusion empfand ich als extrem bereichernd, vor allem dadurch, dass sie ziemlich konträr waren.
Mein eigener Bildungsweg wurde definitiv seit Beginn stark durch meine Eltern gefördert. Diese Erfahrung teile ich insofern mit Frau Dittmann und Herr Palkowski. Ich selbst wurde vor allem fachlich gefördert und zwar in den Fächern, in denen ich bereits gute Leistungen gezeigt habe. In Fächern, in denen ich dagegen leistungsschwach war – zum Beispiel im Sportunterricht – habe ich nie zusätzliche Förderung erhalten. Insbesondere im Sportunterricht wurde ich eher schnell kategorisiert und als „unsportlich“ abgestempelt. Dieser Stempel blieb mir auch durch meine gesamte Schulzeit durch haften und führte dazu, dass ich die Kategorie „unsportlich“ irgendwann auch für als Definition mich selbst übernommen habe. Daher waren meine Leistungen in diesem Fach auch immer sehr schlecht, und mein Verhältnis zur Bewegung hat sich erst Jahre nach meinem Schulabschluss normalisiert. Auch Frau Dittmann davon, dass nach einer Zeit mit guter Förderung in der Grundschule ihre Schulzeit in der weiterführenden Schule in erster Linie durch Kategorisierungen und Ausgrenzung geprägt waren. Hier sehe ich eine Parallele zu meinen eigenen schulischen Erfahrungen, denn auch ich hatte das Gefühl, dass mir durch die abwertende Kategorisierung durch die Lehrkraft eine schlechtere Rolle im Klassenverband zuteilwurde dass dies zu Ausgrenzung führte. Des weiteren habe auch ich auf ähnliche Art und Weise die Erfahrung gemacht, wie sich negative Kategorisierungen der Schüler*in durch Lehrpersonen zu einer Art „selbsterfüllenden Prophezeiung“ entwickeln können. Für mich als angehende Lehrkraft bedeutet das, dass ich versuchen möchte, an meinen eigenen Vorurteilen zu arbeiten, um voreilige und subjektive Kategorisierungen von Schüler*innen zu vermeiden. Des Weitern möchte ich Kinder insbesondere dort auch fördern, wo sie weniger leistungsstark sind, ohne ihnen das Gefühl zu geben, sie hätten in diesem Bereich eine absolute und statische Schwäche.
3.
Ich halte die Thematik des Elternwahlrechts für ziemlich kritisch, da damit die Bildungschancen des Kindes der alleinigen Entscheidungsgewalt der Eltern unterworfen sind. Dies wurde meiner Meinung nach bestehende Chancenungleichheiten, die oft durch Dinge wie das Einkommen oder die Bildung der Eltern geprägt sind, vergrößert. Vorteilhaft ist das Elternwahlrecht für Eltern mit gutem Verhältnis zu ihrem Kind, die (oft durch eigene gute Bildung) den Bedarf ihres Kindes wahrnehmen und reflektiert unterstützen wollen. Kindern aus einem solchen Elternhaus bietet das Elternwahlrecht die Chance auf bestmögliche individuelle Förderung in enger Zusammenarbeit zwischen Kind, Eltern und Schule. Nachteilig kann das Elternwahlrecht jedoch für Kinder wie M. aus meiner Ausführung zu 1. Sein. Da seine Eltern M. nie gefördert haben und ihn stets zu einem „normalen“, funktionierendem Kind machen wollten, war es sehr nachtteilig, dass die Eltern die Wahl hatten, M. auf eine Regelschule ohne jegliche individuelle Förderung zu schicken. Das Elternwahlrecht macht also die Bildungschancen des behinderten Kindes rein Abhängig von Entscheidungen der Eltern. Wichtig ist weiterhin, dass nicht nur behinderte Kinder individuelle Förderung benötigen und dass das Elternwahlrecht eine Forderung für alle Schüler*innen sein muss (Wocken, 2014). Ansonsten wird die durch das Elternwahlrecht die gesellschaftliche Kategorisierung in „behindert“ und „nicht behindert“ verstärkt. Ich halte insofern einen Austausch von Eltern und Lehrkräften für extrem wichtig, jedoch sollte die alleinige Entscheidungsgewalt über die schulische Laufbahn des Kindes nicht bei den Eltern liegen. Zentrale Gelingensbedingungen sind meiner Meinung nach ein reger Austausch und viel Kommunikation zwischen Lehrkraft und Eltern, aber auch eine kritische Distanz beiderseits. So sollten sowohl die Eltern Entscheidungen oder Kategorisierungen der Lehrkraft über das Kind nicht unreflektiert übernehmen, als auch die Lehrkraft mit kritischem Blick auf die Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb der Familie schauen. Schließlich halte ich es auch für wichtig, auf struktureller Ebene Reformen zu erwirken. Denn Bildung ist Ländersache, und verschiedene Bundesländer finden unterschiedlich effektive Herangehensweisen. So schwankt der Anteil an Kindern mit Förderbedarf in den verschiedenen Bundesländern von 25% (Hessen) bis 65% (Schleswig-Holstein) (Bundesmisisterium für Arbeit und Soziales https://www.einfach-teilhaben.de/DE/AS/Ratgeber/Inklusion/Inklusion_node.html, Stand: 27.06.2021). Ich halte es deshalb für eine wichtige Maßnahme, bundesweite Standarts anzustreben, um die Bildungschancen des Kindes nicht von Wohnort abhängig zu machen.