In dieser Home Story geht es darum, dass es auch Storys ohne Home gibt. Wir, Lia & Marei, haben in Bremen Frank getroffen, einen Obdachlosen, der uns seine Geschichte anvertraut hat. Wir haben mit ihm zusammen vor der Sparkasse am Bremer Bahnhof gesessen und uns angehört, was er zu erzählen hat. In der folgenden (Home) Story möchten wir diese Erfahrung mit euch teilen.

Der Text besteht aus zwei Teilen: dem ersten Part von Marei und dem zweiten Teil aus Lias Perspektive.

Teil 1: Marei Elsebach

Der Blick aus dem Fenster zeigt Schneeregen. Es ist Januar und draußen windig, kalt und ungemütlich. Ich sitze am Schreibtisch in meiner Wohnung, ein Blick rüber zum Thermostat der Heizung verrät mir: es sind 21 Grad in diesem Zimmer. Vor mir auf dem Tisch steht eine Tasse Kaffee, der Kühlschrank ist gefüllt und zwei Türen weiter, den Flur entlang, habe ich die Möglichkeit auf eine warme Dusche oder sogar ein Bad.

In Deutschland befinden wir uns aktuell, bedingt durch die Corona-Pandemie, im Lockdown. Vor die Tür gehe ich nur, um Einkäufe zu erledigen. Den Weg zum Supermarkt laufe ich dann gerne, ein wenig frische Luft, auch bei diesem Wetter, tut mir gut. Auf dem Rückweg vom Supermarkt friere ich und freue mich schon, gleich wieder in der gemütlichen Wohnung zu sein.

Neben den sogenannten AHA-Regeln gilt aktuell vor allem der Leitsatz Bleibt zu Hause. Doch wie ergeht es den Menschen, die obdachlos sind und gar kein Zuhause haben?

Schätzungen zufolge leben in Deutschland 650.000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben, 48.000 davon sind obdachlos (Stand 2017)*. Wie fühlt es sich an, obdachlos zu sein, während die Bevölkerung dazu angehalten wird, in den eigenen vier Wänden zu bleiben? Und wie können wir denjenigen helfen, denen der Schutz des eigenen Zuhauses nicht zuteil wird?

Die Wettervorhersage für die nächsten Tage zeigt Minustemperaturen. Bevor ich mich auf den Weg mache überlege ich, was ich anziehen sollte, damit ich nicht frieren muss. Ich schaue in meinen prall gefüllten Kleiderschrank und von hinten schleicht sich bereits das schlechte Gewissen an: ich stehe vor einem Überfluss an Klamotten, die ich unmöglich alle benötige und bereite mich darauf vor, jemanden zu treffen, der kaum das nötigste besitzt. Während ich mir irgendetwas anziehe, was hoffentlich warm genug sein wird, um den Vormittag draußen zu verbringen, beschließe ich bereits, in den nächsten Tagen einige Kleidungsstücke zu spenden.

Wir treffen uns am Bahnhof. Während Lia mir entgegen kommt, nörgeln wir beide bereits über das Wetter, welches wir uns für diesen Tag ausgesucht hätten. Als ob Frank, den wir gleich treffen werden, es sich aussucht, bei Wind, Wetter und Minusgraden auf dem Boden vor der Sparkasse zu sitzen. Ausgestattet mit wärmenden Kaffees in Pappbechern machen wir uns auf den Weg zu Frank, der uns seine Geschichte erzählen wird.

Kaum haben wir den mitgebrachten Kaffee überreicht und uns auf den Boden gesetzt, beginnt Frank zu erzählen „Ich kenne das normale Leben. Drei Kinder, eine Frau, Mietwohnung. Ich hatte einen Führerschein und ein kleines Auto“. Doch dieses normale Leben, von dem uns berichtet wird, bekommt durch einen Schicksalsschlag tiefe Risse.
Frank gerät durch eine Trennung auf die schiefe Bahn, rutscht in die Drogenabhängigkeit und verliert seine Wohnung. Als wir ihn fragen, wie es ist, kein Zuhause zu haben erzählt er uns „Ich habe ein Zuhause. Mein Zuhause ist die Straße. Das ist natürlich kein Zuhause im herkömmlichen Sinne, aber hier lebe ich“. Lia und ich schauen uns an. Hier lebe ich wandert durch meinen Kopf und mein Herz fühlt sich ganz schwer an, wenn ich daran denke, wo ich lebe. Frank erklärt uns, dass es sich für ihn dennoch, wie Hohn anhört, wenn von „Bleibt zu Hause“ gesprochen wird. Für ihn sei es besonders schwer, keine Privatsphäre zu haben, den gesamten Tag in der Öffentlichkeit sitzen zu müssen, nicht mal eine Tür hinter sich schließen zu können und einen Raum für sich allein zu haben. Denn selbst wenn er in einer Notunterkunft für Männer übernachten kann, teilt er sich sein Zimmer mit einem anderen Menschen, der ebenfalls kein eigenes Zuhause hat.
Vor allem über die Feiertage hatte Frank es besonders schwer. Es sei sein erstes Weihnachtsfest auf der Straße gewesen und aus Frust darüber, habe er zum Alkohol gegriffen.

Teil 2: Lia Heilmann

Ein Weihnachten auf der Straße ist für mich unvorstellbar. Ich muss direkt an seine Kinder denken und frage ihn, was seine Kinder dazu sagen, dass er auf der Straße lebt. „Es weiß keiner. Weder meine Kinder noch meine Mutter“. Dieser Satz bringt mich völlig aus der Fassung. Frank erwähnt immer wieder, wie schnell es gehen kann, auf der Straße zu landen. „Die Leute, die hier täglich vorbei laufen haben einen eingeschränkten Blick. Den habt ihr beide auch und ich hatte den damals auch.“. Er sagt die Menschen würden einfach nicht nach unten schauen, weil sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich weiß, dass Frank es nicht böse meint, wenn er uns sagt, dass wir einen eingeschränkten Blick haben. Dennoch bringt es mich sehr zum Nachdenken. So viele Menschen denken nur an ihre eigenen Probleme und nehmen die Menschen, denen es viel schlechter geht, gar nicht wahr.

Ich friere am ganzen Körper, ich habe mich natürlich auch viel zu dünn angezogen. Niemals hätte ich gedacht, dass wir so lange bei Frank sitzen werden. Es fühlt sich schon lange nicht mehr wie ein Interview an. Frank hat so viel zu erzählen und ich genieße das Gespräch. Dennoch ist mir sehr kalt und ich habe Angst mir eine Blasenentzündung zu holen. Frank merkt es und bietet mir an, mir etwas zu geben, damit es nicht zu kalt für mich ist. Marei und ich wissen beide, dass es langsam an der Zeit ist nach Hause zu gehen. Immer wieder tauschen wir Blicke aus, aber keiner von uns möchte den ersten Schritt machen. Als wir uns erheben, packt mich sofort das schlechte Gewissen. Frank bietet uns noch einmal an, dass wir gerne immer wieder vorbeikommen können falls wir noch weitere Fragen an ihn haben. Wir bedanken und verabschieden uns von ihm und machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Marei und ich unterhalten uns auf dem Weg über Frank, vor allem darüber das seine Familie nicht weiß, dass er auf der Straße lebt. Immer wieder erwähnen wir wie kalt uns ist. Am Bahnhof trennen wir uns dann. Marei läuft in den Bahnhof, um ihren Zug zu bekommen und ich mache mich auf den Weg zu meinem Auto. Nachdem ich in mein Auto steige, ist das allererste was ich mache, die Heizung voll aufzudrehen. Ich kann mein Lenkrad gar nicht richtig anfassen, weil es so kalt ist. Die Fahrt nach Hause kam mir selten so lang vor. Ich sehne mich nach einer Badewanne und einem Tee. Ich überlege die ganze Zeit, was ich machen könnte damit mir wärmer wird. Nachdem ich die Haustür schließe, laufe ich sofort in mein Zimmer und ziehe mir einen Pullover und dicke Socken an. Dann setze ich mich aufs Sofa mit einer Wärmflasche und zwei Decken. Ich friere immer noch. Immer wieder schweifen meine Gedanken zu Frank. Ich sitze jetzt in meinem warmen Zuhause und er sitzt immer noch in der Kälte. Ich schaue auf mein Handy und sehe eine Nachricht von Marei. Sie erzählt mir wie sie sich auf ihre Badewanne freut. Abends als ich nach einer warmen Dusche in meinem Bett liege höre ich, dass es draußen in Strömen regnet. Ich denke an Frank. Schläft er heute draußen? Hat er vielleicht einen warmen Schlafplatz gefunden? Ich frage mich, wieso ich mir über sowas vorher nie Gedanken gemacht hat. Mir ist durch Frank erst bewusst geworden mit was für einem eingeschränkten Blick ich durch die Welt gelaufen bin.

Das Interview mit Frank hat mich über viele Dinge nachdenken lassen. Es hat mir gezeigt, dass meine Probleme eigentlich keine richtigen Probleme sind und dass man das Leben, das man führt, viel mehr schätzen sollte. Dies kann sich nämlich irgendwann schlagartig ändern. So wie bei Frank. Wir sollten versuchen unsere Augen nicht vor solchen Menschen zu verschließen und uns eventuell die Geschichten von ihnen anzuhören bevor wir über sie urteilen. Ich werde auf jeden Fall nicht mehr mit so vielen Vorurteilen durch das Leben gehen und mit unserem Interview haben wir hoffentlich auch anderen Leuten die Augen geöffnet.

*https://www.sueddeutsche.de/panorama/wohnungslose-obdachlose-1.4545815