RV11

  1. Welche Rolle spielen Intelligenz und Vorwissen für erfolgreiches Lernen? In welchem Verhältnis stehen diese beiden Heterogenitätsdimensionen zueinander? Wie hat man ihren jeweiligen Einfluss auf Lernerfolg empirisch untersucht?

Intelligenz „bezeichnet Begabung(en), die ein Lebewesen in höherem oder geringerem Maße besitzen kann, meint eine Fähigkeit zur Lösung konkreter und/oder abstrakter Probleme und damit die Bewältigung neuartiger Situationen, erübrigt das „Herumprobieren“ und Lernen aus zufällig auftretenden Erfolgen (trial-and-error) und äußert sich in der Erfassung, Anwendung, Deutung und Herstellung von Beziehungen und Sinnzusammenhängen (vgl. Ingenkamp: 2008, RV11: Folie 15).

Der erste Intelligenztest wurde 1905 von Binet und Simon im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums entwickelt mit dem Ziel, normal- und minderbegabte Kinder zu differenzieren und letztere gesondert fördern zu können (vgl. RV11: Folie 17).

Hierbei wurden Aufgabenreihen für jedes Lebensalter erprobt und entwickelt, wie „kann rechts und links unterscheiden“ (ab 6 Jahren), „kann rückwärts von 20 bis 0 zählen“ (ab 8 Jahren) oder „kann zufällig angeordnete Wörter in einen sinnvollen Satz bringen“ (ab 11 Jahren) (vgl. ebd.: Folie 17).

Intelligenz kann (allgemeinen) Schulerfolg vorhersagen (vgl. RV11: Folie 18).

Insgesamt ist Intelligenz ein weit gefasstes Konzept, das verschiedene Fähigkeiten umfasst. Eine gängige wissenschaftliche Definition stammt von der American Psychological Association (APA):

„Intelligence is the ability to learn from experience, solve problems, and use knowledge to adapt to new situations.“ (APA, 1996).

Diese Definition betont drei wesentliche Komponenten:

1. Lernen aus Erfahrungen: Die Fähigkeit, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und dieses Wissen auf zukünftige Situationen anzuwenden.

2. Problemlösung: Die Fähigkeit, neue und komplexe Probleme zu erkennen und effektive Lösungen zu entwickeln.

3. Anpassung an neue Situationen: Die Fähigkeit, sich an neue Umgebungen und Herausforderungen anzupassen.

Vorwissen hingegen bezieht sich auf die Gesamtheit des Wissens, das eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt. Es spielt eine entscheidende Rolle im Lernprozess und beeinflusst, wie neue Informationen aufgenommen und integriert werden. Eine präzise Definition findet sich in der pädagogischen Psychologie:

„Prior knowledge refers to all the relevant knowledge, skills, and experiences that learners bring to the learning process. It can greatly affect how they understand new information and their ability to learn new concepts.“ (Alexander, Schallert, & Hare, 1991).

Diese Definition hebt hervor:

1. Relevantes Wissen und Fähigkeiten: Das Wissen und die Fähigkeiten, die direkt mit dem neuen Lernstoff in Verbindung stehen.

2. Erfahrungen: Die persönlichen Erfahrungen, die den Kontext und die Bedeutung des neuen Wissens beeinflussen können.

3. Einfluss auf den Lernprozess: Die Art und Weise, wie Vorwissen die Aufnahme und Verarbeitung neuer Informationen erleichtert oder behindert.

Zusammengefasst ist Intelligenz die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, zu nutzen und sich anzupassen, während Vorwissen das bereits erworbene Wissen ist, das eine Person besitzt und das neue Lernprozesse beeinflusst. Beide Konzepte sind eng miteinander verbunden und spielen eine zentrale Rolle im Verständnis und der Förderung menschlicher Kognition und Lernen.

  1. Was konnten Sie in Ihren bisherigen Praxiserfahrungen über den Umgang mit heterogenem Vorwissen von SuS beobachten? Welche Erfahrungen haben Sie selbst vllt. schon mit (mangelnder) Kenntnis oder (falschen) Annahmen über den (Vor-)Wissensstand Ihrer SuS gemacht?

Heterogenes Vorwissen hat sich in meinen Erfahrungen  auf vielfältige Weise geäußert, da die Schüler*innen unterschiedliche Vorerfahrungen, Lernumgebungen und persönliche Hintergründe mitbringen. 

Heterogenität bei fachlichem Vorwissen hat sich beispielsweise im Fach Mathematik so geäußert, dass einige Schüler*innen bereits grundlegende Konzepte wie Addition und Subtraktion gut verstanden haben, während andere diese noch nicht sicher beherrschten. Manche Schüler*innen waren schon mit Multiplikation oder sogar Bruchrechnen vertraut, während andere noch Schwierigkeiten mit dem einfachen Zahlenverständnis hatten.

 

Ebenso im Fach Deutsch: Während einige Schüler flüssig lesen und einfache Texte schreiben konnten, hatten andere noch Schwierigkeiten mit der Buchstabenkenntnis oder dem phonologischen Bewusstsein.

Neben dem fachlichen Vorwissen konnte ich jedoch auch Unterschiede im kulturellen und sozialen Vorwissen erkennen.

Schüler*innen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen bringen unterschiedliche Erfahrungen und Wissen in den Unterricht ein. Dies hat sich in unterschiedlichen Sprachkenntnissen, Geschichten und Traditionen gezeigt.

Ebenso haben Kinder, die in verschiedenen sozialen Umgebungen aufgewachsen sind, unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die ihr soziales Verständnis und ihre Interaktionsfähigkeiten beeinflussen. Einige Schüler waren gewohnt, in Gruppen zu arbeiten, während andere mehr individuelle Arbeit gewohnt sind. Heterogene soziale Erfahrungen waren also auch sichtbar.

Ein ebenfalls wichtiger Aspekt sind außerdem Erfahrungen aus dem häuslichen Umfeld im Sinne von der Unterstützung zu Hause: Einige Schüler*innen haben zu Hause Zugang zu Büchern und Bildungsressourcen oder Eltern, die ihnen bei den Hausaufgaben helfen, während andere weniger Unterstützung oder Ressourcen zur Verfügung haben.

  1. Einige Befunde zur Rolle von Intelligenz und Vorwissen beim Lernen waren für Sie möglicherweise überraschend. Oder Sie sehen einige der Forschungsergebnisse kritisch in Bezug auf Schule und Unterricht. Welche Forschungsfragen ergeben sich daraus (z.B. für Ihr nächstes Praktikum)? Und wie können Sie diese Fragen beantworten?

Ich finde es insgesamt sehr spannend, sich mit der Rolle von Intelligenz und Vorwissen beim Lernen in der Grundschule zu befassen. Ich könnte mir gut vorstellen, in verschiedene Richtungen zu forschen. 

Hier sind einige Forschungsfragen, die die Rolle von Intelligenz und Vorwissen beim Lernen in der Grundschule untersuchen könnten:

1. Zusammenhang zwischen Intelligenz und Lernfortschritt:

   – Wie beeinflusst die allgemeine kognitive Intelligenz den Lernfortschritt von Grundschülern in verschiedenen Fächern wie Mathematik, Deutsch und Naturwissenschaften?

   – Gibt es Unterschiede im Einfluss der Intelligenz auf den Lernerfolg zwischen verschiedenen Altersgruppen innerhalb der Grundschule (z.B. 1. Klasse vs. 4. Klasse)?

2. Einfluss von Vorwissen auf den Lernerfolg:

   – Wie beeinflusst das Vorwissen in einem bestimmten Fach (z.B. mathematisches Vorwissen) den Lernerfolg und die Motivation von Grundschüler*innen während des Unterrichts?

   – In welchem Maße können Defizite im Vorwissen durch gezielte pädagogische Interventionen ausgeglichen werden, und welche Strategien sind dabei am effektivsten?

3. Förderstrategien und Unterrichtsmethoden:

   – Welche Unterrichtsmethoden sind besonders effektiv, um sowohl Schüler*innen mit hohem als auch mit geringem Vorwissen zu fördern?

   – Wie kann differenzierter Unterricht gestaltet werden, um die individuellen Intelligenzprofile und das Vorwissen der Schüler*innen optimal zu nutzen?

4. Langzeitwirkung von Intelligenz und Vorwissen:

   – Welche langfristigen Auswirkungen haben Intelligenz und Vorwissen auf die schulische Laufbahn und den Bildungserfolg von Grundschüler*innen?

   – Wie stabil sind die Einflüsse von Intelligenz und Vorwissen über die Grundschule hinaus in den weiterführenden Schulen?

Quellenverzeichnis:

– American Psychological Association (APA). (1996). „Intelligence: Knowns and Unknowns.“ Report of a Task Force established by the Board of Scientific Affairs of the American Psychological Association. American Psychologist, 51(2), 77-101.

  • Alexander, P. A., Schallert, D. L., & Hare, V. C. (1991). „Coming to Terms: How Researchers in Learning and Literacy Talk About Knowledge.“ Review of Educational Research, 61(3), 315-343.
  • Ingenkamp, K. & Lissmann U. (2008). Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik (6., neu ausgestattete Aufl.) Weinheim: Beltz. (Kapitel 4.3).
  • RV11: Folien 15-18.

Kommentare

Eine Antwort zu „RV11“

  1. Liebe Hannah, Danke für deinen ausführlichen Beitrag.

    Ich stimme dir zu, dass Leistungsheterogenität in Schulklassen eine bedeutende Herausforderung darstellt, die Lehrkräfte berücksichtigen müssen. Es ist essenziell, dass Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler als individuelle Personen sehen, die mit unterschiedlichen Voraussetzungen in den Unterricht kommen. Diese individuellen Unterschiede resultieren oft aus persönlichen Entwicklungen sowie familiären und gesellschaftlichen Gegebenheiten.

    Intelligenz und Vorwissen spielen beide eine zentrale Rolle im Lernprozess. Intelligenz umfasst die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, Probleme zu lösen und Wissen anzuwenden, um sich an neue Situationen anzupassen. Der erste Intelligenztest von Binet und Simon zielte darauf ab, die schulische Förderung durch Differenzierung nach Begabung zu verbessern (vgl. RV11 Folie 17). Studien haben gezeigt, dass Intelligenz den allgemeinen Schulerfolg vorhersagen kann (vgl. RV11 Folie 18).

    Gruber und Stamouli (2020, S. 26) betonen, dass Intelligenz und Vorwissen zwar unterschiedliche Rollen spielen, aber dennoch miteinander verbunden sind und gemeinsam den Lernerfolg beeinflussen. Diese Erkenntnisse werden durch empirische Untersuchungen gestützt, die zeigen, dass beide Faktoren signifikante Prädiktoren für den schulischen Erfolg sind (vgl. Fischer, 2014).

    Lehrkräfte haben die Möglichkeit, die schulischen Leistungen ihrer Schülerinnen positiv zu beeinflussen, indem sie eine Lernumgebung schaffen, die auf die individuellen Fähigkeiten der Lernenden eingeht. Dies erfordert eine gezielte individuelle Unterstützung und die aktive Einbeziehung der Schülerinnen in den Unterricht. Insgesamt zeigt sich, dass eine individualisierte und unterstützende Lehrstrategie, die die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler anerkennt und fördert, entscheidend für den Umgang mit Leistungsheterogenität ist.

    Danke, dass du deine Erfahrungen mit uns geteilt hast.
    In meinen bisherigen Praxiserfahrungen habe ich festgestellt, dass der Umgang mit heterogenem Vorwissen eine große Herausforderung darstellt. Ein Beispiel: In einer Mathematikstunde nahm ich an, dass alle Schülerinnen und Schüler die Bruchrechnung bereits beherrschen. Doch schnell wurde klar, dass einige erhebliche Schwierigkeiten hatten, während andere gelangweilt waren.

    Aus dieser Erfahrung habe ich gelernt, dass es wichtig ist, den Wissensstand der SuS vorab zu diagnostizieren, beispielsweise durch kurze Tests oder Gespräche. In einem anderen Fall unterschätzte ich das Vorwissen der Klasse in einem Geschichtsprojekt, was dazu führte, dass sich viele SuS unterfordert fühlten.

    Dies zeigt, wie wichtig es ist, Unterricht flexibel zu gestalten und kontinuierlich den Lernfortschritt zu überprüfen, um sowohl Über- als auch Unterforderung zu vermeiden.

    Literatur:

    Fischer, Christian (2014): Individuelle
    Förderung als schulische Herausforderung
    ISBN: 978-3-86498-805-9

    Gruber, H., Stamouli, E. (2020). Intelligenz und Vorwissen. In: Wild, E., Möller, J. (eds) Pädagogische Psychologie. Heidelberg: Springer Verlag

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