Ich bin in der 10 Richtung Hauptbahnhof und höre einer Person zu, die ein Selbstgespräch zu führen scheint. Die Person sagt
Ich hab gerade gegessen
Das kommt gleich alles wieder raus
Same, denke ich, denn irgendwie ist die Luft in der Tram gerade echt nicht so gut und mir ist auch leicht schlecht.
Besorgte Blicke vom Umfeld auf die sprechende Person, eine andere Person in der Nähe zieht die Beine etwas weg. Die sprechende Person scheint dies zu bemerken und spricht weiter:
Keine Sorge
Nicht jetzt
Nicht hier
Ich mach das am Bahnhof
Die Person schaut hoch, keiner reagiert, keiner sagt was dagegen oder stimmt zu. Was soll auch schon gesagt werden, die Sache wirkt entschieden. Ich überlege kurz, wo ich am Bahnhof hinkotzen würde, wenn ich jetzt spucken müsste. Mülleimer?
Die Person redet weiter:
Am Bahnhof ist egal
Da merkt das sowieso keiner
Da kannst du verbluten und es merkt keiner
Ich kriege ein kaltes Gefühl in meinem Bauch. Wie oft bin ich schon an am Boden liegenden Menschen vorbeigelaufen? Wie oft habe ich vielleicht nicht bemerkt, dass ein Mensch in Lebensgefahr war?
Ja stimmt doch
Ich seh das doch
Stille.
Ah (kussgeräusch) das Gute Bier
Ahhh ja
Die 10 ist mittlerweile eine Station vor dem Hauptbahnhof. Und steht etwas länger rum, es ist viel Verkehr.
Wozu hat man denn n Kombi
Ne Kutsche ne
Ich habe das Gefühl, alle Menschen in Umfeld hören der Person zu, aber keiner geht auf das Gesagte ein, und ich lasse mir auch nicht anmerken, dass meine ganze Aufmerksamkeit auf die Person gerichtet ist und ich alles Gesagte gerade mitschreibe. Ich find Autos auch fragwürdig, wozu hat man denn n Kombi?
Ich will nicht schon wieder alles verlieren
Meine Klamotten, ich hab nichts zum anziehen
Boah. Ich will auch nicht schon wieder alles verlieren, aber denke dabei an meine Dating-Person, mit der es gerade nicht so leicht ist. Klamotten hab ich, kann ich auch der Person hier in der Tram geben, brauche wahrscheinlich nicht mal die Hälfte von dem, was ich besitze.
Das ist eh nur was für verrückte ey
Das eigene Leben ne
Stimmt.
Hallo peggy
Naa, gehts gut
Die sprechende Person tippt mit dem eigenen Fuß den Fuß von der Person, die zwei Plätze weiter sitzt an. Es sieht süß aus, irgendwie. Die angetippte Person wippt mit ihrem Fuß schnell auf und ab, aber reagiert nicht.
Warum ich davon so genervt bin?
Psychosomatrisch
Also ich kann kein Schild sein
Rumkippeln und neben mir tanzen, das geht nicht
Die sprechende Person wirkt frustriert.
Die hört sowieso nicht auf
Das kannste vergessen
Pause
Vielleicht wenn ich gleich weg bin
Ich frage mich, ob der sprechenden Person bewusst ist, dass sie vielleicht der Auslöser für das nervös wirkende Fußwippen der anderen Person sein kann.
Dann bin ich auch nicht mehr hier
Joahh
Das geht mir voll auf den Senkel
Aber du kriegst deine Ruhe nicht
Solange die da sind
Die kleinen und die Zwerge und die (unverständlich)
Die sind cool
Weist du warum
Weil die sagen so hallo
Ne ganze Schulklasse kam auf mich zu
Alle so hallo hallo
Ich bin traurig. Kinder sind unvoreingenommen und sagen Hallo. Oder waren die Schüler*Innen älter, und haben sich lustig gemacht? Ich sag so oft nicht Hallo, ich sage nicht immer „Nein, tut mir leid“, wenn ich nach Kleingeld gefragt werde, weil so oft habe ich keine Kraft mehr sozial zu interagieren auf dem Weg nach Hause. Ich sage mir selbst oft, dass ich Wohnungslos gelesene Menschen nicht ignoriere weil sie mir wohnungslos vorkommen, sondern weil ich keine Kapazitäten mehr haben. Aber ist das nicht genauso ignorant? Und wenn ich nicht ignoriere, sondern „Nein, tut mir leid“ sage, oder irgendwie auf Personen reagiere, dann wird das oft als Einladung genommen. Dann wird weiter nachgefragt, körperliche Distanz nicht ausreichend eingehalten, und oft fühle ich mich dann unsicher und bedrängt. Es ist jedes Mal eine Auseinandersetzung mit dem System, mit meiner eigenen Betroffenheit, mit meiner eigenen Ohnmacht gegenüber Missständen, mit unangenehmen, überwältigenden Gefühlen. Aber ich bin in einer privilegierten Position, ich kann mich entscheiden, zu ignorieren. Ich kenne aber Situationen, in denen ich nicht privilegiert bin, in denen ich nicht ignorieren kann, weil ich selbst betroffen bin. Und dieses Kennen des Betroffen-seins, und dieses Nicht-Wissen, wie ich helfen kann, ist so lähmend.
Wir steigen Hauptbahnhof aus.
Der letzte Satz, den ich von der sprechenden Person höre, trifft mich mitten in meinen Überlegungen. Ganz trocken, ganz nüchtern.
Das kommt alles auf mich zurück
Auf mich auch, du, auf mich auch.
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