eine Filmkritik von Moana Binz

2009, Mexiko / Spanien, 95 Minuten
Regie: Rigoberto Pérezcano
Autoren: Edgar San Juan, Rigoberto Pérezcano

Als der Mann die Augen öffnet, ist alles grell, dann erkennt er ein Meer aus Sand, Steinen und kleinen Pflanzen vor sich. Die Luft sirrt nur so vor Hitze. Sein Gesicht sieht gequält aus, wobei seine lange dunkle Kleidung und die schwere Reisetasche nicht hilfreich sind. Er scheint orientierungslos, guckt in alle Richtungen. Alles sieht gleich aus, sein Ziel ist noch nicht in Sicht. Doch er kämpft sich weiter, immer der Nase lang voran mit seinem letzten Schluck Wasser, bis das Ende plötzlich von allen Seiten auf ihn zugelaufen kommt.

Hierbei handelt es sich um einen Ausschnitt des Films „Norteado“, welcher im Jahr 2009 veröffentlicht und von Rigoberto Pérezcano als Regisseur und mit Edgar San Juan als Drehbuchautoren produziert wurde. Wer kein mexikanisches Spanisch beherrscht, kann mit dem Titel vermutlich nichts anfangen. Eventuell assoziiert man ihn mit dem Norden, weil das „Norte“ diesem Wort noch leicht zuzuschreiben ist. Seine Übersetzung lautet allerding „orientierungslos“ oder auch „verloren“. Dies lässt einen großen Freiraum für Interpretationen, doch der englische Titel kann mehr Aufschluss über die Handlung des Films geben: „Northless“, also zu Deutsch „ohne Norden“.

Der Film zeigt die Reise des Mexikaners Andrés Garcías (Harold Torres), der in den Norden zu fliehen versucht. Zuvor lebte er in Oaxaca, eine Stadt im Süden Mexikos, aber nun ist er auf der Reise zu seinem ersten Stopp: Tijuana. Er verließ seine Frau und Kinder in der Hoffnung auf ein besseres Leben und höherem Einkommen im Norden. Dabei bezieht er sich nicht auf den Nordpol, sondern lediglich auf die USA. Allerdings scheint es, als ob sein Norden in Tijuana endet. Andrés hat keine Erlaubnis, legal die Grenze zu überqueren. Trotzdem versucht er wie etliche weitere Lateinamerikaner*innen dies ohne Visum zu tun. Schon anfangs scheitert er einige Male und wird immer wieder von der US-amerikanischen Grenzwache gefangen und zurück nach Tijuana gebracht – zu seinem Glück gewaltlos. Mit jedem Tag wird sein Erspartes knapper und so entscheidet er sich, erst einmal eine Weile dort zu bleiben und zu arbeiten. Doch je länger er bleibt, desto schwieriger wird es für ihn, sich von dem Ort der Transition zu trennen. Die Gründe dafür sind drei Personen: Ela (Alicia Laguna), die ihm Arbeit und eine Unterkunft bietet, seine Arbeitskollegin Cata (Sonia Couoh) und Asensio (Luis Cárdenas), der ihm bei der Umsetzung seines Plans helfen möchte, wo er kann. Dadurch werden sie von Fremden zu Bekannten und schließlich sogar zu Freunden. Oder ist dies nur das Ergebnis der Einsamkeit, die in diesem Ort alle zu umgeben scheint?

„Norteado“ beeindruckt mit seiner eindrucksvollen Wirkung auf das Publikum. Seine langatmigen Szenen, dem wenigen Dialog sowie ruhigen Kamerafahrten und der wenigen Nutzung von Hintergrundmusik regt er zum Denken an. Pérezcano bringt mit seinem „slow cinema“ das Geschehen und die Gefühle seiner Protagonist*innen gekonnt rüber. Dabei schafft er ein Gleichgewicht zwischen der Einsamkeit und der Lust am Leben, die dieser Weg mit sich bringt. Auch mit ästhetischen Bildern, die zum Nachdenken anregen und einen Einblick in die Gefühlswelt Garcías bieten, kann der Film punkten. So sieht man zum Beispiel den Grenzzaun einige Hügel rauf und runter entlang verlaufen. Auf einem dieser Hügel filmt die Kamera gen unten, sodass man schräg über den Zaun sehen kann. Dadurch bekommt die Zuschauer*innen einen Eindruck, wie nah und doch fern Andrés in Tijuana seinem Ziel ist. Er kann es schon fast sehen, doch dieser hohe dünne Zaun zeigt, dass jetzt der schwerste Teil für ihn kommt.

Da Pérezcano selbst aus Oaxaca kommt, kann man davon ausgehen, dass das Thema während seiner Jugend eine große Rolle gespielt hat. Sei es durch Erzählungen oder eigene Verwandte und Freunde, die sich für diese Reise entscheiden mussten. Diese Verbundenheit zum Thema lässt die Geschichte noch glaubwürdiger erscheinen. Diverse internationale Filmfestivals bestätigen seinen Erfolg, da der Film mehrmals besonders in Europa mit Preisen ausgezeichnet wurde (IMDb).

Das Ausbleiben der Preise in Nordamerika deutet auf die Aktualität des Themas hin. Illegale Einwanderungen von Mexiko in die USA gibt es schon seit Jahrzehnten und wird immer noch größtenteils totgeschwiegen. Diskutiert wird lediglich, wie die Grenze undurchdringbarer gemacht werden kann, jedoch nicht wie die Probleme der Latinos gelöst werden könnten. Die Gründe wechseln immer, doch der Auslöser für diese sind vor allem die instabilen Situationen in den Ländern, wie etwa Inflationen, Korruption oder Gewalt. Lateinamerikaner*innen sehen als einzigen Ausweg, in die „westlichen“ Länder zu ziehen, wobei der Westen eher ein Konzept darstellt als eine Richtungsangabe. Jedoch ist der USA die illegale Einwanderung ein Dorn im Auge, dabei sind sie für die Instabilität mitverantwortlich. So suchten sie sich mit der Sowjetunion als Schauplatz des Kalten Krieges die Länder Lateinamerikas aus. Aufgrund ihres Machtspiels sollte sich jedes Land entscheiden, auf wessen Seite es steht – der kapitalistischen Seite der USA oder der kommunistischen Seite der Sowjetunion. Damit zwangen sie ein System auf die Länder, welche darauf nicht vorbereitet waren. Währenddessen schwappten etliche nordamerikanischen Produkte in den Süden über, wie beispielsweise Coca-Cola, Musik und mehr. Sie zeigten, wie schön der „American Dream“ sein kann und verleiten somit bis heute noch viele Leute, nach diesem zu greifen – meist erfolglos.

Der Protagonist Andrés García stellt definitiv kein Einzelfall dar und genau diese Nähe zur Realität ist es, die „Northless“ eher wie eine Dokumentation als ein Spielfilm wirken lässt. Die Charaktere sind zwar ausgedacht, doch die Ereignisse, die Pérezcano und San Juan auf die Leinwand bringen, zeigen keine Fiktion. Sie verleihen lediglich Betroffene eine Stimme, welches sie nahbar macht und bedeutender wirken lässt als eine bloße Zahl der illegalen Einwanderungsnummer.

Wer jetzt jedoch denkt, man müsse sich auf brutale Szenen von Begegnungen an der Grenze einstellen, der hat sich gewaltig geschnitten. Doch genau da liegt mein Kritikpunkt. Andrés versucht anfangs mehrmals die Grenze zu überqueren, und läuft stets „nur“ der US-amerikanischen Polizei in die Arme. Tatsache ist jedoch, dass es viel mehr Gefahren in der Wüste gibt, und ich rede nicht nur von Tieren. Frauen müssen schon auf dem Weg zur Grenze, bei der Durchquerung der Länder aufpassen, nicht vergewaltigt zu werden. Auch sonst werden viele Männer und Frauen von gewaltbereiten Menschen überfallen, die sie zusammenschlagen, ausrauben oder sogar töten. Jedoch ist dies nur eine kleine Kritik, da es durchaus unterschwellig erwähnt wird.

Abschließend kann ich sagen, dass ich den Film interessant fand, weil der Regisseur es schafft ein wichtiges Thema für jeden zugänglich zu machen. Auch wenn der Film ein langsamer ist, verliert er trotzdem nicht die Spannung. Des Weiteren legt er den Fokus nicht auf die Überquerung an sich, sondern alles dazwischen: die Hintergrundgeschichten, Gefühle, das soziale Leben und einiges mehr. Genau dieser Grund rechtfertigt auch das Fehlen der Gewalt. Und im Nachhinein ergibt der spanische Titel „Norteado“ doch einen Sinn. Andrés ist orientierungslos, nicht nur in der Wüste, sondern auch wenn es um seine Gefühle geht. Verfolgt er weiter seine Mission in die USA zu migrieren oder bleibt er lieber in Tijuana bei seinen neu-gewonnenen Freunden – so kurz vor dem Ziel? Würde er es überhaupt schaffen, unerkannt einzuwandern oder hätte er beim nächsten Mal nicht ganz so viel Glück mit dem Fehlen der Gewalt?

Der Film ist es auf jeden Fall wert einmal gesehen zu werden, was die diversen Auszeichnungen nur unterstreichen. Also nichts wie los, zum nächsten Kino fahren und sich mit ein bisschen Popcorn auf den Film einlassen.

Ihr werdet es nicht bereuen!

Quellen:
IMDb: Rigoberto Pérezcano. Awards. o.D. https://www.imdb.com/name/nm1574929/awards/?ref_=nm_awd (31.01.2023)