eine Filmkritik von Moana Binz
2010, Argentinien, 96 Minuten
Regie: Diego Lerman
AutorInnen: Martín Kohan (Roman „Ciencias Morales“), Diego Lerman, María Meira
Buenos Aires, Frühjahr 1982, ein feierlicher Gesang über Macht und Sieg ist leise zu hören, während man in einen langen kalten Flur blickt, umzingelt von Betonwänden. Langsam, aber stetig kommen die Stimmen näher und werden von lautem Stampfen im Takt der Musik begleitet. Plötzlich tauchen uniformierte Menschen um die Ecke kommend auf. Sie marschieren alle im selben Takt, bis ihnen die Befehle „Halt!“ und „Distanz!“ erteilt werden. Sind wir hier beim Militär?
Ganz und gar nicht! Es handelt sich um den Film „La Mirada Invisible” (zu dt.: “Der unsichtbare Blick“, 2010) mit Diego Lerman als Regisseur und Drehbuchautor. Er basiert auf dem Roman „Ciencias Morales“ von Martín Kohan und spielt sich größtenteils in der Schule „Escuela Nacional de Buenos Aires“ ab. Jedoch trägt er sich zu Zeiten der Militärdiktatur unter Videla zu. Von dieser bekommt man im Schulgebäude aber auf dem ersten Blick nichts mit. Viel mehr herrscht innerhalb der vier grauen Wände eine andere Diktatur. Es gibt eine strikte Ordnung und Regeln, die alle SchülerInnen befolgen müssen. Von der Farbe der Socken bis hin zum Ablauf der freien Pausen ist alles vorgeschrieben und nichts und niemand darf dagegen verstoßen.
Wir verfolgen das Leben einer jungen Dame namens María Teresa Cornejo (Julieta Zylberberg), die von ihrer Großmutter Adela (Marta Lubos) und Mutter Elvira (Gaby Ferrero) liebevoll Marita genannt wird. Sie fängt gerade erst an, in der vorher genannten Schule als Aufpasserin zu arbeiten. Zu ihren Aufgaben gehört das Führen der Klassenlisten, die Betreuung der SchülerInnen beim Nachsitzen und allem nachzugehen, was ihr verdächtig erscheint. Sobald sie was findet, soll sie dem Direktor Bericht erstatten. So bemerkt sie bereits in den ersten Tagen durch Einsatz ihres scheinbar exzellenten Geruchssinnes, dass etwas faul ist. Ihr Verdacht: Einige Schüler rauchen auf der Jungs-Toilette, da dies der einzige Raum ist, wo sie unbemerkt bleiben können. Daraufhin wendet sie die Technik des „unsichtbaren Blickes“ an, welcher ihr von dem Direktor empfohlen wurde. Schlicht und einfach gesagt, bedeutet dies, sie soll alle still und heimlich im Auge behalten. Also beginnt sie, die Jungs-Toilette unbemerkt auszuspionieren.
Doch ist dies überhaupt der wahre Grund, oder nur eine kleine Ausrede für etwas Anderes? Letzteres scheint für das Publikum erst einmal der Fall zu sein, da zwar das Jungs-WC gezeigt wird, jedoch sieht man die Beschuldigten weder rauchen noch findet María Zigarettenstummel. Es wirkt so, als würde es ihr viel mehr um das Gefühl gehen, was damit einhergeht: Macht.
Zu dieser Zeit wurden unter anderem Frauen unterdrückt und somit war es für sie nicht einfach, ihr Leben mit Freiheiten zu führen. Normalerweise ist sie machtlos. Doch mit ihrer Spionagearbeit bekommt sie die Überhand. Plötzlich hat sie das Sagen. Dies äußert sich schon zu Beginn der Beobachtungen durch die Vorstellung sexueller Fantasien ihrerseits von Schülern. Es wirkt wie ein Machtmissbrauch als Ausgleich ihrer sonst fehlenden Freiheiten. Als sich jedoch der Hauptaufseher Carlos Biasutto (Osmar Núñez) einmischt, kommt die Realität schneller auf sie zurück, als sie gucken kann, denn er ist nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern besitzt im Gegensatz zu Marita auch außerhalb der Schule mehr Macht.
Sieht man genauer hin, erkennt man noch weitere Auswirkungen der Militärjunta, die sich im Hintergrund oder in Form von Metaphern abspielen. Allerdings würde dies schon zu viel der Handlung vorwegnehmen. Deshalb liegt es an euch, diese selbst auszumachen.
Aber was genau geschah eigentlich zu dieser Zeit?
General Jorge Rafael Videla putschte sich im Jahre 1976 mithilfe anderer Junta-Mitgliedern an die Macht und mit ihm kamen etwa Unterdrückung, Verfolgung und Folter in das Leben der ArgentinierInnen. Viele verschwanden spurlos und tauchten nie wieder auf. Ein großer Teil der desaparecidos wurden höchstwahrscheinlich getötet und ihre Leichen ins Meer geworfen. Die Handlung des Films spielt sich im Jahre 1982 ab. Dieses Jahr war ein äußerst bedeutendes für den weiteren Verlauf der Regierung, da die Machenschaften auf den Falklandinseln zum Sturz der Diktatur und Einführung der Demokratie im folgenden Jahr führten (Eglau).
Es handelt sich bei den Falklandinseln um eine kleine Inselgruppe südöstlich von Argentinien. Bis dahin waren sie ungeklärtes Territorium von Argentinien und des Vereinigten Königreiches. Videla jedoch entschied die Inseln für Argentinien einzunehmen, obwohl sie keinen großen Nutzen für beide Seiten hatten. Doch genau deswegen erwartete er auch keinen Rückschlag. Falsch gedacht! Margaret Thatcher, britische Premierministerin von 1979 – 1990, ließ dies nicht auf sich sitzen, schickte kurzerhand Truppen gen Falklandinseln und gewann! Für Argentinien war es ein Schlag ins Gesicht, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Dazu kam, dass europäische Länder und die USA wegen des Angriffes auf das Großbritannien ihnen ebenfalls den Rücken kehrten. Es schwächte sie so sehr, dass die unterdrückten ArgentinierInnen der Meinung waren, die Regierung wäre angreifbar – und dies sollte sich bewahrheiten! Durch Proteste gaben die ArgentinierInnen ihren Unmut preis und schafften es letztendlich raus aus der Unterdrückung und rein in die Demokratie (Cassier).
Der Film spiegelt also in gewisser Weise den Höhepunkt der Militärdiktatur wider.
Interessant ist außerdem, dass der Regisseur und Drehbuchautor Diego Lerman (46 Jahre) 1976 in Buenos Aires geboren wurde, also im Anfangsjahr der Militärjunta. Kein Wunder also, dass er bei einem Film Regie geführt hat, der in einer Zeit spielt, die seine Kindheit geprägt hat. Er ist außerdem bekannt für seine anderen Filme „Refugiado“ (2015) und „Una especie de familia“ (2018). Auch der Romanautor Martín Kohan (55 Jahre), der das Buch schrieb, auf dem der Film basiert, wurde von dieser schweren Zeit geprägt. Ich würde behaupten sogar stärker als Lerman, da es seine Teenagerjahre waren. Der Film wurde mit einem Cameo-Auftritt seinerseits bereichert, was darauf schließen lässt, dass das Filmische die wichtigsten Aspekte seines Romans wiedergeben. Das Buch „Ciencias Morales“ stammt aus dem Jahr 2007, der Film ist von 2010. Also waren etwas mehr als 20 Jahre seit Ende der Militärdiktatur vergangen. Von dieser Zeit bis heute ist es immer noch wichtig für Argentinien und die Welt, diese grauenhafte Zeit aufzuarbeiten, was auf jeden Fall eine der Intentionen der beiden Medien war.
Meiner Meinung nach ist der Film etwas für alle DetailliebhaberInnen, die das Analysieren von Filmen sehr mögen. Er wirkt nicht lang, hat jedoch nur mittelmäßiges Fesselungspotenzial. Viel mehr wird man unter stetiger Spannung zappeln gelassen, bis die Auflösung am Ende des Films eintritt. Außerdem ist Vorwissen über Argentiniens Geschichte zu dieser Zeit sehr zu empfehlen. Einerseits spiegelt der Film einen Teil des alltäglichen, fast normalwirkenden Lebens in der Militärdiktatur wider. Andererseits bleiben einige Aspekte für mich offen. Die Interpretation zu der Militärdiktatur ist eindeutig interessant, wie zum Beispiel die Observierungen als Metapher für die Geschehnisse außerhalb zu benutzen. Jedoch kann die Handlung selbst eine unangenehme Wirkung auf einen haben, verwirrend wirken, ohne klare Aussage. Daher reicht es mir persönlich, den Film nur einmal gesehen zu haben. Trotz all dem ist zu sagen, dass ab und zu sehr schöne filmische Bilder dabei sind, der Film sehr emotional ist und Julieta Zylberberg ihre Rolle als María schauspielerisch ausgezeichnet verkörpert, denn es handelt sich um eine Rolle, die nicht sehr leicht zu spielen ist.
Doch überzeugt euch selbst!
Quellen:
Cassier, Philip (2022/13.06.): Der Krieg, der die Briten wieder zu Nationalisten machte. URL: https://www.welt.de/geschichte/article239329929/Falklandkrieg-Als-die-Briten-die-argentinische-Militaerjunta-schlugen.html (15.12.2022).
Eglau, Victoria (2016/30.05.): Die Gräuel der Militärdiktatur. URL: https://www.deutschlandfunk.de/argentinien-die-graeuel-der-militaerdiktatur-100.html (15.12.2022).
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