2015 / Chile, Frankreich, Spanien / 82 min

Regie: Patricio Guzmán

AutorIn Andrea Weinhold

Chile, das Wasser und die Geschichte

„El botón de nácar“ (Der Perlmuttknopf) ist der zweite Teil einer Trilogie über Chile, der „Trilogie der Heimat“, die mit „Nostalgia de la luz“ (Nostalgie des Lichts) beginnt und mit „La cordillera de los sueños“ (Die Kordillere der Träume) endet.
Der dokumentarische Essayfilm wurde mehrfach ausgezeichnet – unter anderen mit dem Silbernen Bären der Berlinale 2015 für das beste Drehbuch – wie auch seine Partnerfilme: „Nostalgia de la luz“ erhielt den Europäischen Filmpreis 2010 für den besten europäischen Dokumentarfilm, „La Cordillera de los sueños“ den L’oeil d’or, den Dokumentarfilmpreis des Cannes Film Festival 2019.
Patricio Guzmán, chilenischer Regisseur, der auch Geschichte und Philosophie studiert hat, weltweit anerkannter „Dokumentarist“, und Gründer des Internationalen Dokumentarfilm-Festivals in Santiago de Chile (FIDOCS) befasst sich in seinen Filmen immer wieder mit dem politischen und gesellschaftlichen Themen seiner Heimat Chile. Guzmán, Autor und Regisseur der „Trilogie der Heimat“, verbindet Politisches und Poetisches und führt auch als Erzähler durch den Film.

Guzmán dekonstruiert in seiner Trilogie Chile tektonisch in drei Teile: in Wüste, Küste, Kordillere.
Sie sind Träger und Symbol der jeweiligen Filme und er konnotiert sie mit Licht, Wasser und mit Träumen. Indem er diese Bezugspaare von Wüste und Licht, Küste und Wasser, Kordillere und Traum als Leitmotiv mit dem Universum und der Natur, mit Vergangenheit und Zukunft verbindet, konstruiert er einen neuen Zugang, und mit dieser neuen Perspektive verwebt er das jeweilige Leitmotiv vielschichtig mit einer Erzählung zur chilenischen Geschichte. Im zweiten Teil der Trilogie, in „El botón de nácar“ (der Perlmuttknopf) nimmt uns Guzmán mit in die Welt des Wassers, es trägt den Film und verbindet alle seine Bezugspunkte: „Wir sind alle Ströme desselben Wassers“. Mit diesem Zitat des Dichters Raúl Zurita beginnt Guzmán seinen Film.

Der Regisseur macht uns mit dem Wasser vertraut in all seinen Erscheinungsformen: Regen, Eis, Hagel, Schnee, Wolken, Dampf, Gletscher, Ozean, Flüsse, Küste. Ob ein geschlossener Wassertropfen in einem 3000 Jahre alten Quarzblock aus der Atacama-Wüste oder ob die Teleskope in der Atacama-Wüste Wasser auf Planeten fotografisch lokalisieren wie den aufgenommenen Quasar, Guzmán macht uns das Wasser förmlich fühlen und er lässt es uns hören. Und er versucht es uns noch einmal anders hörbar zu machen, als „Sprache“ in der Sequenz mit dem Anthropologen Claudio Mercado.
Wasser hat nicht nur Erscheinungsformen sondern ist auch Ort, Medium, Element und das zeigt uns der Regisseur auch:
Der Ozean als Chiles markante und längste Grenze mit seiner 4200 km langen Küste – die Gesamtlänge der Küstenlinie wird auf 74.000 km geschätzt – hin bis an deren Südspitze, Patagonien mit seinen Fjorde und Inseln; Das Wasser als Lebensraum der indigenen ehemaligen Wassernomaden in Westpatagonien; Wasser als Element im Universum, enthalten in Planeten, als verbreitetes Element im Sonnensystem; die Entstehung des Lebens, in Gang gesetzt durch Kometeneinschlag auf der Erde mit Wasser als Lebensspender allen Lebens wie wir es kennen, als Zukunftsgarant; Wasser als düster Ort mit Geheimnissen, als Kraft der Zersetzung, als Friedhof.

Zusammen mit der Malerin Emma Malig, dem Historiker Gabriel Salazar und dem Dichter Raúl Zurita beleuchtet Guzmán Chiles emotionales Verhältnis zum Wasser, zum Meer. Guzmán nimmt ein entfremdetes Verhältnis wahr, entkoppelt vom Wasser. Das ist die These: Die Chilenen verstehen das Meer nicht, wissen es nicht zu nutzen, leugnen, obwohl doch Chile eine Insel sei zwischen Ozean und Kordillere, ihre Seefahrts- und Schifffahrtsgeschichte. Die indigenen Wassernomaden hingegen – seinerzeit im „Einklang mit dem Wasser“ – seien somit das einzige Seefahrervolk Chiles. Für Indigene und Astronomen „sei der Ozean ein Konzept, das untrennbar vom Leben ist“. Solche Verwebung von Universum, Erde und Bedeutung unternimmt er auch an anderer Stelle. Anhand der alten Aufnahmen der Selk’nam mit punktförmiger Körperbemalung assoziiert Guzmán frei diese Bemalung als Abbild der Sterne: und diese Sterne, „Seelen der Vorfahren“, ließen Ihnen diese Vorfahren nahe sein, wie uns die Teleskope, die die Sterne beobachten, die Sehnsucht des modernen Menschen symbolisieren, „Etwas zurückzuholen, dass wir im poetischen Sinn schon kennen“, so denkt es Raúl Zurita an. Guzmán lässt so den Kosmos und die Fragen, wer wir sind und wohin wir gehen, was uns umtreibt ganz nebenbei einfließen. Für den Regisseur, der sich hier auch selbst mit einer Geschichte einbringt, ist das Wasser dann ein eher unheimlicher Ort, ein Ort des Verlustes. Darauf wird er noch zurückkommen.

Ruhige, meditative Bilder gedämpft farbiger Landschaften, in denen die Sonne niemals hell leuchtet, teilweise kunstvolle Überblendungen und museal in Szene gesetzte Objekte verbinden uns mit der Geschichte der indigenen Bevölkerung West-Patagoniens, den ehemaligen fünf indigenen Wassernomaden-Völkern, von denen es heute nur noch wenige Angehörige gibt. Ihre Nachfahren kommen hier zu Wort. Die Erzählungen von Martin Calderón und Gabriela Paterito und die eindrücklichen historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen nicht nur Ihre Perspektive zum Wasser als Lebensraum und Nahrungsquelle – sondern geben der Geschichte ausreichend Raum: Die Geschichte ihrer Verfolgung während der gewaltsamen Kolonisierung Patagoniens und ihres Genozids beginnt mit der Geschichte der unfreiwilligen Reise des Indigenen „Jemmy Button“, beginnt mit einen Perlmuttknopf. Auch Perlmutt steht für das Meer.
Der Militärputsch Pinochets 1973, macht nicht nur Allendes Bemühungen um Wiedergutmachung an der indigenen Bevölkerung nach 150 Jahren Entrechtung zunichte, sondern rückt Patagonien und seinen umgebenden Ozean noch einmal mit den Schrecken der Pinochet-Diktatur in den Mittelpunkt. Die Dawson-Insel, vormals schon eine Art Konzentrationslager bei der Verfolgung der indigenen Bevölkerung dient einmal mehr als solches in der Pinochet-Diktatur. An diesem Ende der chilenischen Welt wird das Meer zum Ort der versuchten Auslöschung für Regime-Gegner, den namenlos Verschwundenen. Vier Jahrzehnte danach bebildert dies ein anderer Knopf, festgewachsen an einem Eisenbahnschienenstück aus dem Meer.

Langsam und gelegentlich mäandernd führt Guzmán durch seine Wasser-Metapher „ Wasser ist die Verbindungskraft zwischen uns und den Planeten“ mit philosophischen und historischen Überlegungen hin zu seinem Kern-Thema. Man muss sich einlassen. Das Thema, das Guzmáns Anliegen ist und in allen Filmen mit eingebettet wird – wie auch in „Nostalgia de la luz“ und „La cordillera de los sueños“ – ist die Barbarei der Pinochet-Diktatur und die Verschwundenen dieser Zeit und deren Sichtbarmachung. Und der Versuch ihrer Erfassbarkeit.
„Un país que no tiene cine documental es como una familia sin álbum familiar.“ Ein Land, das kein dokumentarisches Kino hat, ist wie eine Familie ohne Fotoalbum. Guzmáns „Fotoalbum“ Chiles erzählt von der großen Schönheit der Bilder und der Themen und was sie uns bedeuten können – aber es bebildert auch den Schrecken. Die nüchterne Lakonie mit der er die Aufklärung von Folter und Ermordung im Film untersucht und inszeniert, bereitet ein dem Grauen nahes Unbehagen, das kaum ein familiäres Fotoalbum vermag.

Es gibt auch Irritierendes: Die Aussage des Autors und Regisseurs, die indigenen Wassernomaden „hätten im Einklang mit dem Kosmos und mit dem Wasser gelebt“, wird nicht ethnologisch hinterlegt oder gar von Indigenen selbst erörtert und steht so als Zuschreibung romantischer, letztlich eurozentristischer Vorstellung vom „edlen Wilden mit natürlichen Verhältnis zu ebendieser Natur“ im Raum. Zumal dies als Gegensatz zum chilenischen, „nicht vorhandenen Verhältnis“ zum Wasser angelegt ist. Auch die erwähnte Trennung von „mehreren Jahrhunderten“, die er zwischen sich und der Kawesqar Gabriela Paterito erwähnt, obwohl beide Alters- und Zeitgenossen sind, legt ein zivilisatorisches Narrativ „Steinzeit-Jetztzeit“ nahe, das schwierig ist. Der suggestive Satz „dass das menschliche Gehirn nach dem gleichen Prinzip wie das Meer funktioniere. Beide können sich an alles anpassen“ bleibt angesichts der erzählten Verbrechen zwiespältig. „Beide Knöpfe erzählen die gleiche Geschichte, die Geschichte der Vernichtung“, sagt Guzmán. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Sicher ist, die beiden Knöpfe stehen in Verbindung mit Unrecht, aber die Geschichte eines Genozids und die der ermordeten Regime-Gegner Pinochets muss differenziert betrachtet werden.

Die Kamera wählt fast immer die Frontalperspektive sowie Nahaufnahmen für die Interviews, die Objekte, die Fotos, das Universum. Die Landschaftsaufnahmen sind gleichermaßen fast immer in Zentralperspektive angelegt, ob aus dem fahrenden Boot heraus oder vom Land aus aufgenommen. So entsteht ein Film fast wie ein Bildband, in dem man Seiten umblättert. Auf diese Weise lassen sich auch die historischen Porträts und Aufnahmen formal gleich behandeln und es entsteht eine sehr homogene Bilderzählung, die zur inhaltlichen, essayistischen Erzählung und zum Vortragstempo passt. Der sehr zurückhaltende Einsatz von Musik, im Vergleich zu den sorgsam hinterlegten Geräuschen des Wassers in all seinen Tonvarianten und die ruhige Erzählstimme Guzmáns unterstützen die Bildsprache perfekt.
Wenn wir uns den Film als Gemälde vorstellen, dann sehen wir ein Bild, das mit zwei farblich dominierten Hälften konstruiert ist: den einen ersten Teil als blaues Feld, das für Meer, Wasser und Universum steht und das weitestgehend flächig nur von wenigen roten Linien durchzogen ist, die mehr werden, je mehr man sich der anderen Hälfte nähert; die andere Hälfte als rotes Feld, das für die Erzählung der Entrechtung und der Morde steht und das nur von wenigen blauen Linien durchzogen ist. Die Verschränkung der Felder ineinander, die Kommentare der Protagonisten und die jeweiligen Bezüge aller Themen untereinander sorgen für Plastizität und Lebendigkeit und es entsteht ein fast dreidimensionales Gebilde. So lädt der Film ein, ihm fasziniert, angeregt und bereichert zu folgen.

Chile hat die Konvention 169 der ILO (International Labour Organisation), die die Rechte indigener Völker schützt, mittlerweile unterzeichnet. Noch lange sind nicht alle Verschwundenen aufgefunden und geborgen. Patricio Guzmáns Themen bleiben hochaktuell.