Patricio Guzmán widmet seinen Film „Die Kordillere der Träume“ dem chilenischen Hochgebirge und verbindet darin seine Autobiographie mit dramatischen Erinnerungen an die Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973 bis 1990). Der Dokumentarfilm ist der letzte Teil einer Trilogie, zu der auch „Heimweh nach den Sternen“ (2010) und „Der Perlmuttknopf“ (2015) gehören. Alle drei Dokumentarfilme sind durch die poetische Sichtweise des Filmemachers auf sein Heimatland miteinander verbunden. „Die Kordillere der Träume“ enthält Landschaftsbilder, Aufnahmen von gesellschaftspolitischen Ereignissen, persönliche Gedanken und kollektive Erfahrungsberichte über die Militärdiktatur und die Zeit danach.
Die Bergkette der Kordilleren (spanisch für „kleines Seil“), die sich über die gesamte Länge Chiles erstreckt, erhält in Patricio Guzmáns poetischem und umfangreichem Porträt seiner Heimat, die er vor mehr als 40 Jahren verließ, eine symbolische und zentrale Bedeutung. Laut Guzmán schützen die Kordilleren das Land vom Rest der Welt – und sie trennen zugleich. Die Kordilleren sind geo-politisch geteilt, denn zu Argentinien gehört ein großer Teil ihrer Ostseite, während nur ihr südlicher Teil, der sich bis zu den Rocky Mountains erstreckt, auf chilenischem Gebiet liegt. Ihr unauslöschlicher Einfluss auf die nationale Identität Chiles darf jedoch nicht unterschätzt werden. Denn hier steht die Gebirgskette des Landes als Metapher für seine felsige politische Realität. Guzmán beschreibt die Kordilleren als das „gewaltige Rückgrat“ des Landes, das Santiago einrahmt und ein schweigender Zeuge der Gräueltaten des Pinochet-Regimes ist.
Die Kordilleren eröffnen den Film. In einer von Kameramann Samuel Lahu aufgenommenen Luftaufnahme werden die Kordilleren mit weißen Felsgipfeln, zwischen Wolken eingebettet, in ihrer Großartigkeit in Szene gesetzt. Diese Bilder werden begleitet von Guzmáns Erzählung, in der er über seine Heimat und Kindheit reflektiert. Guzmán beklagt dabei, dass er das Land nicht wiedererkennt. Er spricht von einem Gefühl des Fremdseins, wenn er das moderne Chile betrachtet. Guzmáns Kummer wird in seinem Monolog deutlich, in dem er über die Berge als Beschützer der Menschen und als Aufzeichner der Geschichte nachdenkt. Guzmán betont, dass diese Bergkette ein Weg sein könnte, das heutige Chile zu verstehen. Denn „je tiefer man in die Bergkette eindringt, und sie durchwandert, desto mehr geht man in die Zeit zurück“.
Guzmán reist zurück in die Zeit und kehrt ein in das nach dem Putsch zerstörte Haus seiner Kindheit. Die Kamera schwenkt über das Haus, das fast zerstört und mit Graffiti beschmiert ist, nur um dann die Reihe von Wolkenkratzern zu zeigen, die es jetzt umgeben. Hier berichtet Guzmán über seine frühen Jahre und seine Karriere als angehender Filmemacher, dessen erste Filmaufnahmen einen Teil der Zeit vor dem Putsch umfassen.
Eine Filmsequenz zeigt ein Fußballstadion in der Hauptstadt, den Ort des berühmten Sieges über Italien bei der Weltmeisterschaft 1962, wo Guzmán einst seine Mannschaft anfeuerte, umfunktioniert und entfremdet in ein behelfsmäßiges Konzentrationslager für die politischen Staatsfeinde. Für Guzmán kennzeichnet dies seinen Abschied von Chile. Denn sein Filmmaterial machte ihn zu einem Staatsfeind. Er erklärt, dass er das Land nach seiner 15-tägigen Verhaftung verlassen hat, um sein Filmmaterial zu retten, das den Terror des Militärputsches und der neuen Diktatur festhielt. Er untermauert seine Erzählung mit Aufnahmen des Stadions und der Verhaftungen, die dort stattfanden. Guzmán führt weiter aus: „Ich habe seit dem Putsch nicht mehr in Chile gelebt, obwohl ich meine ganze Karriere meinem Land gewidmet habe“. Er betont an dieser Stelle: „Dieser Film ist wie ein Spiegelbild der Vergangenheit, die mich verfolgt“.
In mehreren Filmsequenzen des Dokumentarfilms kommen auch andere zu Wort. Künstler und Wissenschaftler, die sich über die Bedeutung der Kordilleren in der chilenischen Wahrnehmung äußern, bringen das Verständnis zum Ausdruck, dass die unüberwindbaren Gipfel der Bergkette als Schutz und Isolierung dienen. Der Bildhauer Vicente Gajardo beschreibt das „Kulturdenkmal“, das Santiago umgibt, als Verbindung zwischen dem, was sich im Inneren und dem Äußeren befindet. Der Vulkanologe Álvaro Amigo sieht eine Reise in die Kordilleren als eine Reise in die Vergangenheit. Die Sängerin Javiera Parra und der Schriftsteller Jorge Baradit sehen die Kordilleren als eine Mauer, die Chile sowohl schützt als auch vom Rest der Welt trennt. Für den Skulpteur Francisco Gazitúa bewahren die Kordilleren „die Spuren der Vorfahren(…) 20.000 Jahre alte Spuren (…) ein unerklärliches Mysterium, das einfach existiert“.
Zudem berichten die interviewten Personen von ihren individuellen Erinnerungen an die Diktatur. In den Berichten kommen immer wieder die Erlebnisse von Gewalt, Terror, Angst und verschiedene Arten von Übergriffen zur Sprache.
Die zweite Hälfte des Dokumentarfilms widmet sich der mutigen Arbeit des Filmemachers Pablo Salas, der sich im Gegensatz zu Guzmán dafür entschied, in Chile zu bleiben, um Momente der staatlichen Unterdrückung und des Widerstands der Bevölkerung zu filmen. Guzmán zeigt nicht nur Filmmaterial aus dem Salas Archiv, sondern interviewt auch den Filmemacher Salas, der über seine Erfahrungen beim Filmen von Protesten vor, während und nach der Militärdiktatur berichtet. Guzmán betont, dass Salas Archiv an Filmaufnahmen eine wichtige Grundlage für das Gedenken und Erfassen der chilenischen Geschichte darstellt. Denn bei den meisten seiner Aufnahmen von Protestmärschen auf der Straße hielt Salas fest, wie die Polizei Demonstranten schlug, mit Tränengas und Wasserwerfern auf sie schoss und sie in Polizeiautos drängte, damit sie festgesetzt werden konnten. Salas‘ Archiv ist ein Gegensatz zu einer Sichtweise, die die Praktiken der Diktatur als Fehler abtut und nicht als einen systematischen Prozess der Vernichtung von Menschen, die ihre Ideologie in Frage stellten. Laut Salas „geben schon diese Bilder einen Eindruck davon, wie schlimm die Diktatur war“. Er betont, dass diese Aufnahmen „lediglich die Spitze des Eisbergs des Schreckens“ sind. Für Guzmán machen es diese Bilder „für zukünftige Generationen unmöglich, die Geschichte auszulöschen“. Hier stellt Guzmán, die Bedeutung der aktiven Aufarbeitung der Vergangenheit in den Fokus, indem er visuelle Beweise für die Gewalt der Diktatur liefert, die sie zu verbergen versuchte: militärische Gewalt, Gefangenenlager, gewaltsames Verschwindenlassen und Straßenproteste.
Gleichzeitig macht der Film auf die Zeit nach Pinochet aufmerksam und reflektiert, wie die Militärdiktatur die Gesellschaft bis heute prägt. Dabei thematisiert Guzmán die aktuellen Probleme, die das Land betreffen, besonders den Einfluss des Neoliberalismus auf Land, Ressourcen und Menschen – das Wohlstandsgefälle beunruhigt ihn zutiefst. Denn obwohl die Politik der Militärregierung die Entwicklung des freien Unternehmertums und einer neuen Unternehmerklasse förderte, führte sie zu Arbeitslosigkeit, einem Rückgang der Reallöhne und folglich zu einer Verschlechterung des Lebensstandards der unteren und mittleren Klassen. Diese Probleme sind nach der Militärdiktatur keineswegs beseitigt worden. Guzmán zeigt, wie Salas Demonstranten filmt, die mit Wasserwerfern angegriffen werden, und demonstriert damit, wie Pinochets neoliberale Ideologie, die Wertschöpfung mit Profit gleichsetzt, im heutigen Chile fortbesteht. Salas kritisiert die derzeitige Lage in Chile, da lediglich die staatliche Gewalt abgenommen hat jedoch alle anderen Probleme weiterhin präsent sind. Laut Salas ist „der Triumph der Diktatur, dass sie das Land verkauft haben“. Infolgedessen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Mit Originalaufnahmen der Proteste gegen die Militärdiktatur und aktueller Proteste in Chile zeigt der Film den Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Guzmán beleuchtet hierbei die Überreste des Regimes, das sein eigenes Volk gebrochen hat.
Guzmáns Film spiegelt die Schrecken des Pinochet-Regimes wider, die auch nach mehr als dreißig Jahren noch nicht verheilt sind. Dennoch beendet er seinen Dokumentarfilm mit einem hoffnungsvollen Ausblick: er wünscht sich, dass Chile „seine Kindheit zurückgewinnt und seine Freude“.
Insgesamt verbindet „Die Kordillere der Träume“ auf spannende Weise Spuren in der Natur mit persönlichen Erinnerungen. Dabei präsentiert Guzmán Kunst als Antwort auf das Leben nach dem Militärputsch und Film als ein Archiv der Vergangenheit. Es ist ein nachdenklicher Beitrag hinsichtlich des Ungesagten in dem südamerikanischen Staat und wie der Geist der Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst. „Was man nicht sehen kann, existiert in Chile nicht“, sagt Guzmán. Somit bringt „Die Kordillere der Träume“ das Verborgene zum Vorschein. Die Bergkette steht hierbei für eine Dialektik von Macht und Ohnmacht, Gewalt und Frieden, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod zugleich. Obwohl Guzmán das Land schließlich verließ, zeigt der Dokumentarfilm, dass Chile weiterhin ein wichtiger Teil seiner Identität ist. Er verdeutlicht die vielschichtige Beziehung zwischen Erinnerung, Geschichte, Natur und Geografie sowohl mit der kontextuellen Empfindlichkeit eines Einheimischen als auch mit dem kritischen Blick eines Außenseiters. Der Dokumentarfilm ermutigt ebenfalls den Betrachter, sich mit Dingen zu befassen, die ausgelöscht, übersehen oder als selbstverständlich angesehen wurden, wie zum Beispiel die Kordilleren. Denn diese Bergkette ruft verborgene Geschichten hervor, die dazu anregen, Vergangenheit besser zu kontextualisieren und die Beziehung zwischen Landschaft und Erinnerung zu verstehen, die die Gegenwart weiterhin prägt.