Der alte Ed Tom Bell versteht die Welt nicht mehr. Seit Jahrzehnten arbeitet er in Texas als Sheriff an der Grenze zu Mexiko. Doch einen so brutalen Killer wie Anton Chigurh hat er in seiner Laufbahn noch nicht erlebt. Mit ruhiger Manier tritt dieser an seine Opfer heran, um sie dann schnell und kaltblütig zu töten. Der texanische Sensenmann mit einer Sauerstoffflasche als Sense und der komischen Frisur verkörpert die gnadenlose Präsenz des Todes. Wo er auftaucht gibt es Tote. In jeder Szene, mit ihm werden Menschen verletzt oder ermordet. Bis auf eine. Die wohl stärkste Szene des Films zeigt Chigurh im Gespräch mit einem Tankwart. Als dieser ihn auf sein Kennzeichen anspricht wird Chigurh misstrauisch und uns als Zuschauer schnürt sich die Kehle zu. Daraufhin wirft er eine Münze und lässt den Tankwart ansagen, welcher richtig rät. Chigurh überlässt dem Tankwart seine „Glücksmünze“ und verlässt die Szene. Nach dieser 4-minütigen Atempause folgt ein Schnitt auf Llewelyn Moss, den vermeintlichen Helden des Films, und wir können uns entspannen.
Die Cohen Brüder nutzen hier einen Trick des Meisterregisseurs Alfred Hitchcock persönlich: die Bombe unter dem Tisch. Warum ist diese einfache Szene so bedrohlich? Ist es nicht einfach nur ein überdramatisierter Dialog über das Schicksal und eine kleine Wette beim Münzwurf? Nicht ganz. Denn dies ist nicht Chigurhs erste Szene im Film. Sie erinnern sich; in jeder Szene bringt er Tod und Verderben. Wir wissen wozu er fähig ist. Der Trick von Hitchcock war es, Spannung zu erzeugen indem man den Zuschauer auf eine mögliche Gefahr hinzuweisen. Explodiert eine Bombe beim Abendessen, ist der Zuschauer kurz verwirrt und erschrocken. Weiß der Zuschauer, dass die Bombe unter dem Tisch tickt ist er von Beginn der Szene angespannt.
Chigurh ist diese Bombe. Wir haben seine bedachte und höfliche Art in den vorherigen Szenen gesehen und wissen auch wie kaltblütig er mordet. Noch besser wird die Szene weil wir erwarten, dass die Bombe explodiert. Wir haben den toten Tankwart bereits vor Augen. Aber wir wissen nicht, dass er stirbt. Dadurch bekommt der Dialog der Beiden eine Intensität, die uns an den Bildschirm fesselt. Jedes kleinste Detail wird untersucht, damit wir den Tankwart warnen können, der uns durch seine unschuldigen Nachfragen sofort ans Herz wächst. Das Ganze wird untermalt mit dem grandiosen Soundtrack des Films. Dem Wind.
Klingt zunächst komisch, ist aber ernst gemeintes Lob. No Country for old Men verzichtet (fast) gänzlich auf einen Soundtrack. Die Umgebung und der heulende Wind sind das Einzige, was die angespannte Stille unterbricht. Die Szenen bleiben ohne den Soundtrack so nüchtern, wie es der Tod selber ist. Dem Zuschauer wird kein Gemüt aufgedrängt, keine Spannung oder Freude. Die Cohenbrüder transportieren dies über ihr Drehbuch. Und das ist großartig. Damit soll dem Soundtrack und dem richtigen Einsatz von Musik nicht seine Wichtigkeit abgesprochen werden, aber wie der nicht vorhandene (!) Soundtrack in die Vision des Films passt ist fantastisch. Aber die Cohenbrüder gehen noch einen Schritt weiter. Die Machart des Films ist ein Spiegel zu seinem Protagonisten. Auch wenn der alte Sheriff und Llewelyn ebenfalls große Rollen spielen ist Chigurh hier die Hauptfigur. Wir folgen in diesem Film vermeintlich dem charismatischen Anti-Helden Llewellyn, doch dieser flieht nur vor dem eigentlichen Protagonisten: Dem Tod.
Die Kamera und der Sound charakterisieren Chigurh, während wir die gesamte Zeit glauben Llewelyn sei unser Held. Letzterer präsentiert sich uns als grummeliger Antiheld, der seine Familie beschützen will und sein Herz am rechten Fleck hat. Durch einen Zufall, findet er bei der Jagd ein Schlachtfeld, welches einen geplatzten Drogendeal zeigt. Er findet dabei einen Koffer voller Geld, welcher ihn zur Zielscheibe für ein mexikanisches Kartell, aber auch Anton Chigurh macht. Das Katz und Maus Spiel mit Chigurh treibt ihn bis nach Mexiko, wo er durch seine Vergangenheit als Veteran Hilfe bekommt. Schließlich glauben wir, dass er es mit Anton aufnehmen kann und der Film suggeriert einen großen Showdown. No Country for Old Men erzählt damit die Geschichte eines klassischen Westernfilms. Gut und Böse sind klar definiert und die finale Konsequenz ist das Duell zwischen unserem Helden und dem Schurken.
Doch dann nimmt der Film unsere Erwartungen, hält sie uns ein letztes Mal vor Augen um sie dann neben den toten Llewelyn Moss niederzulegen. Unser Held wird vom mexikanischen Kartell getötet und wir sehen es nicht einmal. Wie der alte Sheriff Ed verstehen wir die Welt nicht mehr. Wir sind so festgefahren in unseren Sehgewohnheiten, dass wir uns hintergangen fühlen. Kein großes Duell, nichtmal Chigurh ist der Killer, sondern namenlose Kartellmitglieder, die wir kaum zu Gesicht bekommen haben. Aber die Cohenbrüder wollen genau dieses Gefühl beibehalten. Die letzte Szene mit Chigurh zeigt ihn in einem Autounfall, nachdem er Llewelyn Freundin besucht und sie (vermeintlich) umbringt. Es folgt aber keine Erklärung, wir sehen nicht einmal den anderen Fahrer. Anton zieht mit einem offenen Bruch davon, er bleibt bis zum Ende unaufhaltbar. Unzufriedenheit macht sich breit. Erst wird unser Held getötet und der Bösewicht, ja das Böse kommt davon. Doch genau darin liegt die Grandiosität dieses Films. Es ist eben kein Land für alte Männer. Die Romantik der alten Geschichten ist verflogen. Der Tod Llewelyns ist kein Plottwist, der nur zum schocken eingesetzt wird. Er ist der Höhepunkt, den wir nicht wollen, doch die Geschichte so einzigartig macht und uns die Idee des Autors deutlich macht. Das Leben ist kein Film. Das Gute gewinnt nicht immer. (Auto)Unfälle passieren.
Als Gegensatz zu diesen nüchternen Erkenntnissen rückt nach Llewelyns Tod der alte Sheriff Tom Ed Bell in den Mittelpunkt. Er beginnt den Film mit seinem Monolog über seinen Vater und dessen Vater, welche bereits vor ihm Sheriff in Texas waren. Er symbolisiert das Alte. Er reitet noch mit dem Pferd zum Ort des geplatzten Drogendeals, ist der Lehrmeister für einen jungen Polizisten und sitzt viel. Und letzteres ist wieder ein Beispiel für bewusstes und gutes Drehbuchschreiben. Lassten Sie mich erklären. In den meisten Szenen sitzt Tom, entweder im Diner, an seinem Arbeitsplatz oder mit seiner Frau am Esstisch. Er verlässt seinen Heimatort kaum, wir wissen, dass er Texaner ist, wie schon seine Vorfahren. Von Anton Chigurh wissen wir nichts. Nicht wo er herkommt, wo er als nächstes hinwill, durch seine Münzwürfe wissen wir nicht einmal ob er wirklich mordet. Diese Unberechenbarkeit wird verstärkt weil Anton immer weiterzieht. In jeder Szene taucht er einfach auf und verschwindet wieder. Er tötet zwei Mal nur für ein Auto um in Bewegung zu bleiben. Nicht einmal der Autounfall scheint ihn daran zu hindern.
Ed Bell verkörpert für uns die alte Zeit, die Romantik. Anton Chigurh ist die unaufhaltbare Metapher für den Tod dieser alten Romantik. Er gewinnt schließlich. Der ganze Film strotzt vor Nüchternheit. Keine aufbrausende Filmmusik, keine bunten Farben, keine bombastische Action und schnelle Tode. Sheriff Bell scheint immer einen Schritt zu spät um Chigurh zu fassen, er kommt nicht mehr mit. Den letzten Funken Hoffnung, nimmt ihm sein Onkel, den er am Ende des Films aufsucht und um Rat bittet. Dieser erklärt ihm, dass diese Gewalt gar nichts Neues sei und erzählt von einem schrecklichen Mord vor vielen Jahren. Die Welt sei schon immer so gewesen. Danach gibt Tom auf und legt seinen Dienst nieder. Der letzte Geniestreich im Drehbuch. Während Bell quasi als Nebencharakter auftritt, rückt er die letzten 30 Minuten in den Fokus und bringt uns das Gefühl seiner Verzweiflung in dieser Szene so nah, dass man seine Hilflosigkeit spürt. Wie Bell erkennen wir als Zuschauer, dass man nicht immer die Welt verändern kann, sondern auch umgekehrt. Irgendwann verändert sie uns.
Abschließend ist zu sagen, dass das Gesamtpaket des Films seine Größe ausmacht. Hier wurde die Vision der Cohenbrüder und ihrer Interpretation des Buches von Cormac McCarty so präzise auf die Leinwand gebracht, dass es wohl eine der besten Buchverfilmungen aller Zeiten darstellt. Die kinematischen Stilmittel sind sowohl auf den Ton, als auch auf die Charaktere zugeschnitten. Man könnte sie glatt als „foreshadowing“ für das brutal nüchterne Ende lesen. Ebenfalls brillieren die Schauspieler durch eine klare Bildsprache. Tommy Lee Jones als Sheriff Bell, bringt alleine durch seinen traurigen Blick seine Verzweiflung auf die Leinwand, während Javier Bardem eine tödliche Ausstrahlung transportiert, welche die Figur Anton Chigurh perfekt abrundet. Was jedoch am meisten beeindruckt ist das grandiose Drehbuch des Films. Es transportiert eine Message auf so subtile und grandiose Art und Weise, die einen zum Nachdenken anregt und den Film so viel besser macht, wenn man ihn ein zweites Mal ansieht. Dies sei hier auch noch mal empfohlen, denn es kann sein, dass man nach dem ersten Schauen dasitzt und die Welt nicht mehr versteht.
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