2016 / 117 Minuten / Deutschland, Frankreich, Mexiko
Regie: Rafi Pitts
Autorin: Annika Schöning

 

„Ich bin Amerikaner.“
(Dagher, Hampel, Karathanos & Pitts, 2016, 1:21:35)

Soy Nero – ein Drama bereichert die Berliner Filmfestspiele

Mit der Premiere des neuen Dramas „Soy Nero“ betrachtet die Filmbranche eine neue Perspektive der Migrationspolitik und dessen Auswirkungen auf die Betroffenen. Nero ein junger Mexikaner gespielt von Johnny Oritz, der in Los Angeles aufgewachsen ist, wird nach dem Tod seines Vaters nach Mexiko abgeschoben. Seiner Heimat beraubt, sucht er über die Grenzmauer einen Weg zurück. Nach einer gescheiterten Flucht gelingt es ihm die Grenze zu überqueren. Schließlich fährt er per Anhalter mit einem argwöhnischen Amerikaner und seiner Tochter Richtung LA. Dort soll sein Bruder leben, den er besuchen möchte, bevor er in die US-Armee eintritt. Sein vermeintlich wohlhabender Bruder entlarvt sich als Schwarzarbeiter eines reichen Anwohners Beverly Hills. Mit Hilfe seines falschen Ausweises gelingt es Nero im Namen seines Bruders einen Platz als Green-Card Soldat zu ergattern. Es scheint so als habe er sein Ziel erreicht, doch an seinem Stützpunkt, ein Grenzübergang im Nahen Osten, kommt es schnell zur Eskalation. Er und seine Kollegen geraten in einen Hinterhalt und müssen fliehen. Der junge Mexikaner ist nun wieder auf sich allein gestellt.

Anhand dieser Handlung rollt der Film das brisante und immer noch aktuelle Thema der Migration von Lateinamerikanern in die USA neu auf. Das Land „in dem alles möglich ist“ glänzt durch den Schein der Dazugehörigkeit und seinem Patriotismus. Dieser Schein wirkt, wie auf Nero, auch auf viele Lateinamerikaner als besonders erstrebenswert. Aber inwiefern handelt es sich hierbei um ein Trugbild einer Nation? Welchen Preis sind die Einwanderer bereit zu bezahlen, um ihrem Traum gerecht zu werden? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Begebenheiten des Films. Durch die Hauptfigur Nero und seine akribische Zielverfolgung gelingt die extreme Darstellung des „Wetteinsatzes“ der Zuwanderer. Nero ist bereit ein Land zu verteidigen, welches im Tausch für die Rückkehr in seine Heimat, sein Leben als Bürgschaft verlangt.

Die Profilierung durch die nationale Angehörigkeit dockt unter anderem an einem fehlenden Selbstbewusstsein an oder versucht, wie in Neros Fall, die unverarbeiteten Ziele eines Familienangehörigen zu kompensieren. Die Staatsbürgerschaft war bereits der Wunsch seines Vaters. Nach seiner Ausweisung ist also neben seiner Heimatverbundenheit, auch seine familiäre Hintergrundgeschichte Grund genug für die Akzeptanz einer umfassenden Ablehnung des Lebensumfeldes, und dies vermutlich ein Leben lang.

Verpackt wird der komplexe Diskurs über die lateinamerikanische Migrationsgeschichte in einem eher durchschaubaren Schema. Nach einer kleinen Einstellung, die einen an den Zuschauer gerichteten moralischen Denkanstoß über die Migrationskultur hergibt, werden in chronologischer Reihenfolge immer drei bis sieben Szenen in einem Handlungsblock verpackt. Demnach ist dem Geschehen leicht zu folgen. Der Film regt eher durch seinen Inhalt als durch komplizierte Szenenschnitte und künstlerische Elemente zum Nachdenken an. Der Protagonist Nero hält sich nach dem Prinzip des klassischen Filmverlaufs mit mehreren Konflikten auf, welche schließlich zur Zuspitzung und dem Wendepunkt des Dramas leiten. Allerdings wird er eher durch die Handlung getragen als, dass er aktiver Bestimmer seines Schicksals ist. Nicht nur seine Entscheidung zurück in die USA immigrieren zu wollen ist massiv durch das Ziel seines Vaters beeinflusst. Auch der Entscheidungsweg in Bezugnahme auf seine Soldatenkarriere wird durch den vermeintlichen Wohlstand seines Bruders erübrigt. Denn jener ist nur illegaler Angestellter eines reichen Mannes. Sogar im Höhepunkt des Geschehens lässt Nero sich durch einen ungehobelten Soldaten leiten. Nicht einmal die Entscheidung über die Wendung des Handlungsverlaufs entspringt also der Aktivität des Protagonisten. Der Schluss des Films lässt dann mit einem Offenen Ende viel Handlungsspielraum.

Das visuelle Auftreten des Films entspricht einem fließenden Schnitt. Sprich es handelt sich meist um unsichtbare Schnitte. Nebenher wurden wenige harte Schnitte eingebaut, welche meist für einen radikalen Umbruch des Handlungsortes verwendet wurden. So wird gewechselt vom Bus in der Nacht zum nächsten Tag in der mexikanischen Wüste, oder vom Abschied des Bruders und Beverly Hills zum Nahen Osten und Neros Soldaten Dasein. Während in vielen Schnitten eine Überlappung von vorangegangenen Tönen stattfindet, zum Beispiel das Rattern von Rotorblättern, findet in den harten Schnitten ein scharfer Tonwechsel statt. Tatsächlich eignet sich der Film durch seine ausgewählten Geräusche und die Stille mit der gearbeitet wird einen eigenen Stil an. Es entsteht eine belegte, aber interessante Stimmung. Die Kette klirrt beim Laufen, der Hubschrauber rattert, der Wind bläst, die Wellen schlagen, und Verfolger rufen. Mit Musik wird nur in ausgewählten Szenen gearbeitet. Gemeint sind Szenen in denen Alkohol konsumiert wird oder sich ein Konflikt zuspitzt. Eben die unruhigen Szenen sind solche, die entweder durch spanische oder Wild-Western ähnliche Musik unterstützt werden. Auffällig ist, dass in die Musikszenen immer andere Personen involviert sind. Sobald Nero allein verkehrt ist es sehr still um ihn. Die Konzentration ist dann wieder auf sein Umfeld und die Geräuschkulisse gelenkt. Die tonale Verarbeitung unterstreicht fraglos den Charakter des Hauptprotagonisten. Nero als illegaler Einwanderer ist immer auf der Hut, immer seinem Umfeld gegenüber aufmerksam und vorsichtig im Umgang mit anderen. Der Film gewinnt durch Ton und Musik ungemein an Authentizität.

Besonders stimmig werden die Szenen durch die verschiedene Kameraführung. Der Film passt sich in der Länge der Schnitte an das Geschehen an. Lange Märsche werden aus weiter Entfernung und in langen Einstellungen gefilmt, um eine Langatmigkeit zu symbolisieren. Verfolgungen hingegen in vielen kleinen aneinandergeschnittenen Einstellungen, mit einer sehr nahen Kameraführung, um die Nervosität und die Hektik zu simulieren.

In der Gegenüberstellung von Lateinamerika und den USA bedient sich „Soy Nero“ an einer ziemlich üblichen Darstellungsweise ihrer Kulissen. Alles jenseits der Grenze der USA wirkt sehr trist, die Farben wirken gedimmt und das Umfeld ist dröge. Einöde ist das Wort, welches mir direkt einfällt. Zusätzlich gibt es kaum Ausstattung, man bekommt weder Zivilisation noch Kultur zu sehen. Während Neros Aufenthalt innerhalb der USA wendet sich das Blatt. Alles wirkt sehr ausstaffiert. Eine reiche Gegend, grüne Büsche und Grünflächen, bunte Farben und vor allem auch luxuriöse Farben. Möbel wurden in dunkelrot und dunkelviolett gewählt, sowie mehrmals ausgestopfte exotische Tiere zu sehen sind. Das Prestige der USA entspricht ganz dem bekannten Motto „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“.

Unterstützt wird das Ganze selbstverständlich durch Requisiten. Als besonderes Augenmerk die amerikanische Flagge. Diese wird einer mexikanischen Witwe auf der Beerdigung ihres Mannes, eines Greencard-Soldaten, überreicht. Sie wird symbolisch von Soldat zu Soldat weitergereicht, bis sie als Trostgeschenk und als Zeichen der Ehre ihres Mannes übergeben wird. Die Beerdigung findet in Mexiko statt, sodass es so scheint als wäre die Familie des verstorbenen Soldaten bereits ausgewiesen worden. Die Symbolik hinter dieser Geste, beziehungsweise der Requisite, spricht Bände und argumentiert für die Kritik an der Immigrationspolitik der USA. Des Weiteren werden die Waffenbereitschaft und Militärmacht der USA nicht nur durch die Waffen der Soldaten, welche durchaus auch zum Einsatz kommen, thematisiert. Sondern auch durch Neros Mitfahrgelegenheit. Jener reist mit seiner Tochter. Er scheut aber trotzdem nicht davor, Nero bezüglich seiner Waffenbereitschaft aufzuklären. Denn er besitzt selbst eine Waffe, welche ohne großartige Sicherung im Handschuhfach des Fahrzeugs liegt. Die unfassbare Leichtsinnigkeit des Mannes füllt die Atmosphäre dieser Szene.

Ein besonders spannendes Requisit stellt das Spielzeug-Windrad der Tochter dar. Nero spielt mit ihr und dem Windrad. Es ist bunt und das erste Mal seit er die Grenze überquert hat ist die Stimmung ausgelassen und er macht den Eindruck als würde er sich wohl fühlen. Sie vertraut ihm ihr Windrad an, sodass sie in der Tankstelle auf die Toilette gehen kann. Doch Nero sichtet zwei Polizeibeamte. Urplötzlich schlägt die Stimmung um, er wirft das Rad zu Boden und flüchtet. Ganz subtil wird wieder die Unsicherheit thematisiert. Wind steht auch für „sich vom Wind tragen lassen“. Indem er das bunte Windrad nun fallen lässt, verfliegt diese Lockerheit und er begibt sich zurück auf den harten Boden der Realität.

Johnny Oritz überzeugt als authentische Wahl für die Rolle des Hauptdarstellers. Nero als ein junger Mann, der eigentlich ruhiger Natur ist, scheint dennoch bereit die nötigen Risiken für sein Ziel zu bestreiten. Er läuft über die Grenze, fährt bei einem Fremden per Anhalter mit, und lügt sich mit einem falschen Ausweis in die US-Armee. Der Leitsatz weniger ist mehr gilt hier. Das Interesse in das Handlungsgeschehen nimmt hierbei keinen Schaden, allerdings schafft der Film ebenso keine besonders dramatische Atmosphäre.

Woran sich der Film in Bezug auf seine Figuren bedient, ist die typische Darstellungsweise der lateinamerikanischen Frau. Sie machen meist den sexuell anziehenden Teil der Handlungen aus und wirken vor allem sexy. Die einzige Lateinamerikanerin in „Soy Nero“ ist die Freundin von Neros Bruder. Ihre Kleidung ist immer hauteng, selbst ihr Jogginganzug. Außerdem trägt sie meist Ausschnitt oder nur einen Bikini. Ihr Redeanteil beschränkt sich nur auf das nötigste. Den meisten Anteil an der Handlung nimmt sie, als sie in einer Poolszene dem jungen Nero reizende Blicke zuwirft und ihn so ziemlich nervös macht. Hiermit hat ihre Rolle allerdings auch ihren Reiz ausgespielt. Über die Frage, ob die Rolle in ihrem Potenzial sinnvoll ausgereizt wurde, lässt sich streiten.

Alles in allem übt der Film eine Kritik an die schwierigen Fragen der Migrationspolitik. Ab wann ist ein Mann oder eine Frau Amerikaner*in, und was berechtigt ihn oder sie dazu sich Staatsbürger*in zu nennen? Wieso wiegt der Moment der Geburt schwerer als eine jahrelange Kindheit in den Staaten? Außerdem wie beutet die USA Menschen aus, sie in dem Glauben lassend, dass sie eine Zukunft in ihrem Land haben. Denn jene werden so schnell sie unbrauchbar sind wieder abgeschoben.

Der Film zeigt eindeutig auf wie die Existenz lateinamerikanischer Bürger und Bürgerinnen in der Hierarchie als niedrig angeordnet wird. Nero als Beispiel versucht diese Abstufung durch den Status des Soldaten zu durchbrechen. Sein Gesuch nach der Anerkennung seines vorherigen amerikanischen Lebens ist ihm besonders wichtig. Dieses unterstützt außerdem den Status der Minderwertigkeit von Mexikanern und anderen lateinamerikanischen Landsleuten. Die Minderwertigkeit ist im Film allgegenwärtig. Es ist ironisch, dass Nero trotz seiner Kindheit in der USA und seiner Soldatenkarriere wiederum durch das Dasein eines „Greencard Soldaten“ herabgestuft wird. Er ist zwar Soldat, aber sozusagen eine niedere Art Soldat. Einer seiner Soldatenkollegen fungiert unter anderem symbolisch dafür, ihn seine Stellung niemals vergessen zu lassen. So betitelt er Nero unter anderem als „Taccofresser“ oder beleidigt ihn anderweitig. Neros Kampf der Zugehörigkeit in ein Land, welches ihn nicht möchte, nimmt in der Handlung kein Ende. So wie Nero seinem Kollegen blind folgt und ohne Anhaltspunkte auf ein fahrendes Auto schießt, so laufen die Amerikaner in ein Kugelfeuer nur um eine Schlacht für ihr Land zu gewinnen. Die blinde Vaterlandsliebe ist allgegenwärtig.

Schlussendlich ist das Thema des Films überzeugend. Sein simpler Aufbau und die angemessene Altersbeschränkung von zwölf Jahren hinterlässt eine große Bandbreite an potenziellen Zuschauern. Außerdem diskutiert er ein politisches Dilemma, welches nicht nur auf die USA und Lateinamerika bezogen werden kann, sondern auch auf viele andere Teile des Globus. Dadurch, dass der Film sich auf eine Thematik beschränkt, wird er eingängiger. Der Zuschauer hat mehr Spielraum sich auf dieses eine Thema einzulassen und sich eine Meinung zu bilden. Weltbewegende Angelegenheiten wie diese, lassen das Publikum schnell auf die ernüchternde Wahrheit kommen, dass es egal ist an welcher Nation das Herz hängt. Man wird von der Gesellschaft eingeordnet, damit ein Scheinbild einer Nation aufrechterhalten werden kann.