Filmrezension des Films Blonder Tango, DDR, 1986, Lothar Warneke, 120 Minuten
Omar Saavedra
Viele Menschen. Ein mit Stacheldraht umzäuntes Lager. Abgelegen an einem Berg gelegen. Direkt denken wir als Zuschauende an ein Gefangenenlager. Zwei Menschen unterhalten sich und wir verstehen das geschehen. Einer der beiden Männer wird entlassen. Die Tore öffnen sich und eine große Gruppe an Menschen verlässt das Lager. Einer dieser Menschen ist Rogelio (Alejandro Quintana Contreras). Als Zuschauende folgen wir jetzt 120 Minuten seinem Leben und wie sein Leben nach der Entlassung aus dem Gefängnis weitergeht.
Zunächst folgen wir Rogelio zu Amnesty International, wo er Asyl beantragt. Er geht in die DDR. Dort arbeitet er in einem Theater als Beleuchter und verliebt sich in die dort ebenfalls arbeitende Schauspielerin Cornelia (Karin Düwel), während seine Kollegin Luisa (Johanna Schall) in Rogelio verliebt ist. Während des Films wird deutlich, dass Rogelio sein neues Leben in der DDR oft nicht genießt, er leidet unter Albträumen, die er mit Humor überspielt, während er wiederum den Humor seiner Mitmenschen nicht versteht und sich nach seiner Heimatstadt sehnt.
Mit Briefen hält Rogelio Kontakt zu seiner Mutter in Chile, der Film orientiert sich an den Ereignissen, die in dem Briefwechsel zwischen den beiden beschrieben werden. Rogelio erzählt seiner Mutter in den Briefen, wie wundervoll sein neues Leben in der DDR sei, dabei schmückt er sein neues Leben mit Unwahrheiten aus. Zunächst nur was Freundschaften und Beruf angeht, dann beginnt er auch eine Hochzeit und ein Kind zu erfinden. Um seine Lügen glaubhaft wirken zu lassen, bittet er Cornelia mit ihm Hochzeitsfotos zu machen und beginnt Fotos des neugeborenen Kindes eines Freunds zu machen, die er mit den Briefen an seine Mutter schicken kann, dies geht so weit, dass er beginnt fremde Kinder zu fotografieren.
Zeitgleich sehen wir auch das Leben von Rogelios Mutter in Chile. Diese richtet für die Nachbarschaft Kaffeetreffen aus, auf denen sie stets stolz von Rogelios Leben in der DDR berichtet. Rogelios Mutter berichtet ihm, wie sehr sich Verwandte und Freunde über Rogelios Wohlbefinden und den Familienzuwachs freuen und dass sie bereits nach Namen für Rogelios Kind suchen. Die Briefe und später auch die Fotos der falschen Hochzeit und die von Rogelio fotografierten Kinder werden auf den veranstalteten Kaffeetreffen regelmäßig versteigert. Das Letzte, was wir als Zuschauende von Rogelios Mutter sehen, ist, wie sie auf einer Demonstration zu Boden fällt, doch die Briefe gehen weiter.
Zum Ende des Films erfährt Rogelio von seinem Onkel, dass seine Mutter bereits vor Jahren in einem Krankenhaus verstorben ist und die letzten Briefe von den Freundinnen seiner Mutter geschrieben worden sind, da man ihn mit dem Tod seiner Mutter nicht belasten wollte.
Blonder Tango thematisiert das Leben im Exil in der DDR, der Hintergrund hierfür ist historisch greifbar. Am 11. September 1973 putschte die chilenische Armee und General Augusto Pinochet gegen die sozialistische Regierung, mit der Unterstützung der USA. Es wird unter Pinochet eine gewalttätige Diktatur aufgebaut, die durch die Medien als solche international bekannt wird. Die DDR zeigt sich als ebenfalls sozialistisch regiertes Land, das vor dem Putsch diplomatisch Verbindungen zu Chile hatte, solidarisch mit der gestürzten Regierung und dem chilenischen Volk. Im Zuge dessen wurde, neben Solidaritätsbekundungen und Hilfsfonds, 2000 Chilenen Asyl in der DDR gewährt. Im kulturellen Bereich informiert die DDR wiederholt in den Medien über die Ereignisse in Chile und entwickelt mehrere Filme in verschieden Gerne zu dem Thema. Blonder Tango ist einer dieser Filme, der als DEFA-Produktion in der DDR entwickelt wurde.
Blonder Tango basiert auf dem gleichnamigen Roman von Omar Saavedra Santis, der ebenfalls an dem Film mitgearbeitet hat. Santis bringt seine eigenen Erfahrungen in der Geschichte unter. Als geborener Chilene ist Santis nach dem Putsch 1973 politisch verfolgt worden und emigrierte schließlich 1974 in die DDR ein. Dort arbeitete er zunächst im Theater, bevor er Theaterwissenschaften studierte und als Autor arbeitete. Santis arbeitete ebenfalls bei mehreren DEFA-Produktionen zu Chile mit und konnte so, wie auch in Blonder Tango, seine persönlichen Erfahrungen nutzen, um den Produktionen Authentizität zu verleihen. Diese persönlichen Erfahrungen im Hinblick auf Leben im Exil teilen noch weitere Menschen, die an dem Film mitgearbeitet haben. Eine dieser Personen ist der Schauspieler Alejandro Quintana Contreras, der in Blonder Tango Rogelio spielt. Contreras ist ebenso wie Santis in die DDR emigriert. Eine weitere wichtige Schauspielerin ist Steffie Spira, die Rogelios Mutter spielt und zu Beginn des Nationalsozialismus zunächst in die Schweiz emigrierte und später nach Mexico flüchtete. Durch die persönlichen Erfahrungen, die die am Film beteiligten Menschen mit den Themen des Films haben, wirkt die Darstellung im Film sehr natürlich und authentisch.
Rogelio wollte in die DDR emigrieren, dafür nennt ihn eine Sachbearbeiterin von Amnesty International verrückt, in einer Sprache, die er nicht versteht. Als Zuschauende können wir nur mutmaßen, warum er in die DDR möchte, da er seine Gründe im Film nicht offenlegt. Wir können jedoch davon ausgehen, dass er die sozialistische DDR idealisiert und den Kommunismus unterstützt, auch wenn wir nie direkt seine politische Einstellung erfahren. Rogelios Leben in der DDR ist aber offensichtlich nicht das, was er erwartet hat, er kommt nicht mit der Frau zusammen, in die er sich verliebt hat und er bekommt nicht seinen Traumberuf, sondern ist nur für die Beleuchtung in einem Theater zuständig. Im Verlauf des Films offenbart er einem Freund, dass er seine Familie belogen hat, damit sie sich keine Sorgen macht und die Hoffnung auf ein gutes Leben nicht verlieren, er wollte ihnen Mut machen. Das ist auch genau das, was bei seiner Familie in Chile ankommt. Allerdings scheint Rogelio sich selbst diese Lüge ebenfalls zu erzählen, er erfindet so einen Grund seine Familie weiter anzulügen und so auch mehr zu unternehmen, um diese Lüge zu leben und sie quasi Wirklichkeit werden zu lassen. Er liefert je nach Situation eine andere Geschichte und performt so sein Leben, um damit umgehen zu können, wie sein Leben wirklich ist und dass er nicht glücklich ist.
Eine weitere wichtige Figur ist Stephan Hiller, der als Kriegsgefangener Mexiko kennengelernt hat und jetzt in der DDR als sozialer Außenseiter in einem Haus an der Ostsee wohnt, wo er Rogelio für einen Tag aufnimmt. In dieser Zeit freunden sich die beiden an und teilen ihre Lebensgeschichten miteinander, beide teilen Sehnsucht und Heimweh. Stephan bereut es nach vielen Jahren noch immer, nicht zurück nach Mexiko gegangen zu sein, wo er sich verliebt hat und dieser Liebe eigentlich versprochen hatte, zu ihr zurückzukehren. Rogelio und Stephan teilen, dass sie in Lateinamerika glücklicher waren, dorthin zurück möchten und doch beide unglücklich in der DDR leben, wobei Stephan offenbart, dass er trotz seiner Sehnsucht nicht nach Lateinamerika zurückkehren wird. Stephan gegenüber öffnet sich Rogelio, so dass wir als Zuschauende einen direkten Einblick in Rogelios Gefühls- und Gedankenwelt bekommen. Es scheint, dass Rogelio in Stephan seinen einzigen richtigen Freund in der DDR gefunden hat.
Die gedrückte Stimmung von Rogelio wird durch die Szenerie unterstrichen. In den meisten Szenen mit Rogelio wirkt die DDR wie ein Land, über das ein grauer Schleier gelegt wurde, während die Szenen bei seiner Mutter in Chile deutlich freundlicher, heller und sonniger sind. Dieser Kontrast wird dadurch erzeugt, dass die Szenen in der DDR im Winter gedreht wurden, während die Szenen in Rogelios Heimatstadt in Bulgarien gedreht wurden.
Der Film zeigt sich durchgehend gesellschaftskritisch. Dies passiert meist unausge- sprochen, durch die Darstellung von Rogelios leben, es gibt allerdings eine Szene, in der Diskriminierung, Rassismus und die Nazi-Vergangenheit Deutschlands aufgegriffen werden. Rogelio ist zu Besuch in der BRD und läuft durch einen Bahnhof oder Ähnliches, als er auf eine Gruppe Männer trifft, die ihn aufgrund seiner Herkunft anpöbeln. Es kommt zu einem Kampf zwischen Rogelio und den Männern. In der nächsten Szene sind sowohl Rogelio als auch die Männergruppe auf einem Polizeirevier und müssen ein Bußgeld zahlen, dürfen dann aber gehen. Rogelio beschwert sich daraufhin bei dem Polizisten, dass die Männer einfach gehen dürfen und behauptet, dass wenn die Situation in der DDR passiert wäre, die Männer nicht nur ein Bußgeld hätten zahlen müssen. Der Polizist entgegnet daraufhin, dass Rogelio sich nichts vormachen soll und die DDR und BRD sich im Umgang mit ihrer Nazi-Vergangenheit nicht wesentlich unterscheiden würden.
Besonders auffällig ist, dass es sich bei Blonder Tango keinesfalls um einen Film handelt, der sich mit dem Tango auseinandersetzt. Es wird nie Tango getanzt, es spielt keine Musik, zu der Tango getanzt werden kann. Der Titel ist etwas irreführend. Nach dem Film fällt einem auf, warte, wo war der Tango? Bei dem Titel handelt es sich um eine Metapher, die bereits in dem Film Tangos. El exilio de Gardel, Argentinien, 1985, Fernando Solanas genutzt wurde und beschreibt die Vermischung von lateinamerikanischer Kultur und europäischen Kulturen.
Ein sehr wichtiges musikalisches Element des Films ist das Lied Ein Lied geht um die Welt von Joseph Schmidt, einem österreichischen und jüdischen Opernsänger, der seit seiner Flucht vor den Nazis im schweizer Exil lebte und dort auch starb. Rogelio hört das Lied sehr laut, woraufhin ihn seine Nachbarin Frau Hube bittet, die Musik leiser zu stellen, woraufhin Rogelio rein bittet. In dem folgenden Gespräch erzählt Frau Hube ihm, dass ihr Mann und ihre Söhne im Zweiten Weltkrieg gestorben sind. Sowohl durch das Gespräch als auch durch das Lied werden Themen wie Vertreibung und Exil angesprochen, hier mit dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs.
Eine weitere sehr ausdrucksstarke Szene mit dem Lied kommt gegen Ende des Films. Rogelio geht während einer Feier im Theater auf die Theaterbühne, Joseph Schmidts Lied spielt und Rogelio singt es mit. In seiner Erinnerung singen verschiedene Personen, wenn nicht gar alle Personen, aus seinem Leben mit ihm das Lied, unter diesen Personen sind seine Mutter, sein Onkel, Cornelia und Luisa. Dann kommt ein Bruch, nur Rogelio singt das Lied, während all seine Kollegen dazukommen und ihm zusehen. Der betrunkene Rogelio wird daraufhin von Cornelia nach Hause gebracht.
Dadurch ist Schmidts Lied eine wichtiger Teil mehrerer Schlüsselszenen und schließt den Kreis zurück zu dem Grundthema des Films: dem Leben im Exil. Wobei dieser Effekt nur bei Menschen eintritt, die sich der Geschichte von Joseph Schmidt bewusst sind und das trifft vermutlich nicht auf das gesamte Publikum zu.
Nicht zuletzt durch die vielen verschiedenen persönlichen Erfahrungen, die in den Film mit eingebracht wurden, stellt der Film authentisch ein fiktives Szenario dar, das auf wirklichen Ereignissen beruht und in der Theorie genauso passiert sein könnte. Dadurch bietet er den Zuschauenden einen realistischen Einblick, besonders, wenn man wie ich in dieser Zeit nicht gelebt hat und nie im Exil leben musste und somit nur erahnen kann, wie es ist, in den 1980ern im Exil gelebt zu haben. Zeitgleich ist es ein gesellschaftskritischer Film, der die damalige DDR kritisiert hat, aber auch aus heutiger Sicht in vielen Punkten noch aktuell ist.
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