2004/ Chile, Spanien, Frankreich, Großbritannien / 121 Minuten
Regie: Andrés Wood
Drehbuch: Roberto Brodsky, Mamoun Hassan, Eliseo Atunaga, Andrés Wood
Eine Filmkritik von Andrea Weinhold
Eine Geschichte über die Freiheit der Freundschaft und die Unfreiheit der Herkunft
Der chilenische Regisseur Andrés Wood, der hier ebenfalls als Drehbuch-Co-Autor und Co-Produzent fungiert, führt den Zuschauer in seinem Film „Machuca“ aus dem Jahr 2004 in das Chile des Jahres 1973, in eine Zeit schwerer Wirtschaftskrise und politischer Radikalisierung, in die Monate vor dem Militärputsch von General Pinochet, der die drei Jahre der demokratischen Regierung Salvador Allendes beendet.
Autobiografisch inspiriert widmet Andrés Wood, Jahrgang 1965 und als Kind noch Zeitzeuge, den Film seinem ehemaligen Schulleiter. Der für den „Goya“ und den „Oscar“ nominierte Film beginnt mit einer Nahaufnahme: Hände beim Anziehen, exakt, deutlich, bewegt. Dann blickt sich ein Junge in Schuluniform im Spiegel an. Zufrieden. Der Film endet mit einer Nahaufnahme: Das Gesicht des Jungen, exakt, deutlich, regungslos. Der Blick des Jungen liegt auf der Landschaft und geht scheinbar ins Leere, dann wendet er sich ab und gleitet ins Unscharfe. Zwischen diesen Bildern liegt ein Traum, ein Erleben, eine Welt, ein Abschied und diese Geschichte, der man sich nicht entziehen kann – über die Freiheit der Freundschaft und die Unfreiheit der Herkunft.
Bildungsansatz und Bildungsexperiment der Koedukation armer und reicher Kinder mit unterschiedlicher Vorbildung und unterschiedlicher Herkunft führt den aus wohlhabend bürgerlichen Verhältnissen stammenden Gonzalo Infante und den aus dem Armenviertel kommenden Pedro Machuca in der von sozial engagierten katholischen Patres geleiteten Eliteschule „Saint Patrick“ in Santiago de Chile in einer Klasse zusammen. Sie werden Freunde.
Chronologisch erzählt der Film, weitestgehend konsequent aus der Perspektive der Hauptfigur Gonzalo (Matías Quer), über seine Freundschaft mit Pedro (Ariel Mateluna): Vom ersten abwartenden und zugleich neugierigen Blickkontakt der etwa Zwölfjährigen im Klassenzimmer – Blicke sind wichtig in diesem Film – über den Prozess der Annäherung und des Füreinander-Einstehens, den Herausforderungen von Anfeindungen und Spott der Mitschüler und den Vorurteilen der jeweils anderen Gesellschaftsschicht. Er erzählt vom Vertrauen und vom Glück der Gemeinsamkeit und auch von Gonzalos und Pedros eigenen Verwerfungen und Vorurteilen, von Misstrauen und Distanzierung.
Die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Verhältnisse im Chile dieser Monate vor dem Putsch, in denen Aufbruch und Agonie dicht beieinander liegen, bleiben dabei zunächst beiläufig wie eine Kulisse im Hintergrund. Wir nehmen sie entlang der Handlung wahr: In den Ansprachen des Schulleiters zu Koedukation und Respekt, in seiner Verteidigung derselben am Elternabend, in den im Fernsehen laufenden Nachrichten, die die ProtagonistInnen sehen, den geschlossenen Läden und im Lebensmittelbeschaffen der Erwachsenen – auch die Oberschicht hamstert, in ihren Unterhaltungen, wir sehen die Plakate an den Wänden und die Demonstrationen in den Straßen.
Das Leben von Gonzalo und Pedro scheint davon vordergründig unberührt. Ihr eher vorsichtiges Hineinlassen und Einblick gewähren in die jeweils eigene Herkunftswelt erfordert den Mut zu vertrauen. Beide nehmen die Gegensätzlichkeit ihrer Lebenswelten von Arm und Reich durchaus wahr. Gonzalo hilft Pedro beim gemeinsamen Zigaretten- und Fahnenverkauf mit Pedros Onkel und seiner Tochter Silvana auf noch friedlichen Kundgebungen sowohl der konservativen NationalistInnen wie der Allende-AnhängerInnen. Es spielt keine Rolle, dass Gonzalo aus Freundschaft mithilft, die Anderen, weil sie Geld verdienen müssen. Selbst das auf den ersten Blick Verbindende, die schleichenden Auflösungserscheinungen der Familien und die Eheprobleme der jeweiligen Eltern, scheinen sich nach Gesellschaftschicht zu unterscheiden: Hier Streit um knappes Geld, dort das adäquate Arrangement im Umgang mit dem national-konservativen Liebhaber von Gonzalos Mutter. Gonzalo und Pedro erleben das Glück der Freundschaft in der letzten gelösten Phase ihrer Kindheit: Bei der Party von Gonzalos Schwester, beim Fahrradfahren, beim Lesen von „Lone Ranger“. Zusammen mit Silvana, Pedros Cousine, erfahren sie auch den Aufbruch ins Teenager leben: Kino, Küsse, Unbeschwertheit.
„NO A LA GUERRA CIVIL!“ steht auf der Mauer, an der man vorbeifährt.
Noch arrangiert sich die Gesellschaft, arrangieren sich die Erwachsenen. In der Szene des Elternabends werden Konflikte robust, aber zivil ausgetragen. Fast wie in einem Theaterstück werden die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Punkt gebracht: Die Spaltung der Gesellschaft in Allende-AnhängerInnen und konservative NationalistInnen und die eklatante Kluft zwischen Arm und Reich, deren Überwindung einerseits doch lieber nicht in der eigenen Schule stattfinden soll – oder andererseits wie es Pedros Mutter auf den Punkt bringt: „Es wird nur anders, wenn Sie es wagen, es anders zu machen“. Die darauf folgende lautstarke Entrüstung nimmt die gesellschaftliche Polarisierung vorweg: Während Gonzalos durchaus liberaler Vater anlässlich einer längeren bevorstehenden Dienstreise nach Italien vorschlägt, einfach dorthin zu ziehen angesichts der Lage im Land, da hätte sein Arbeitgeber, eine Ernährungsorganisation sicher Verständnis – „natürlich ist der Sozialismus gut – für die, für uns noch nicht“, sind die Demonstrationen schon nicht mehr friedlich. Pedros betrunkener Vater erklärt seinem Sohn mit Verachtung die Unmöglichkeit einer Freundschaft mit einem privilegierten Oberschichtangehörigen, der ihn später nicht mehr kennen würde, während für ihn, Pedro, in dieser Gesellschaft immer nur die Rolle des „Toilettenputzers“ der Oberschicht vorgesehen sei. „Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit“ sagt Silvana. „Aber nicht immer“ sagt Gonzalo. Gonzalo, Pedro und Silvana erleben, wie Gonzalos Mutter auf einer Demonstration der NationalistInnen in einer Auseinandersetzung die Maske fallen lässt und Silvana als „Rote“ beschimpft. Das Privileg, einen Blick in eine andere Gesellschaftsschicht getan zu haben, macht es Gonzalo und Pedro nicht leichter und die Freundschaft erlebt einmal mehr und auch aus ihrem eigenen Inneren heraus den spaltenden Moment der ihnen anhängenden Herkunft. Gesagtes kann nicht so einfach abgetan werden. Die Leichtigkeit der Kindheit und die Zeit der Dosenmilchküsse scheint vorüber.
„__ A LA GUERRA CIVIL!“ steht mittlerweile auf der Mauer, an der man vorbeifährt. Das „No“ ist durchgestrichen.
Konsequent beiläufig erfahren wir vom Militärputsch, wenn der noch unter dem Eindruck der Enttäuschung und des Freundschaftskonfliktes stehende Gonzalo den Düsenjägern auf dem Dach nachsieht und abends allein mit Schwester und Nanny die Berichte zum Putsch im Fernsehen ansieht. Dann aber bricht der politische Umsturz mit Macht in das Leben Aller ein und lässt Niemanden unbeschädigt. Nur das Leben der Anhänger der NationalistInnen scheint unbehelligt weiter zu gehen.
Die Mauer, an der man einige Zeit später vorbeifährt, ist mittlerweile übermalt, nur schwach schimmern die früheren Parolen noch durch.
Wood inszeniert den Film in ruhigen, gedämpften Farben – das Licht des beginnenden Frühlings ist noch blass – die auch der Farbigkeit der Filme der 70er-Jahre nahe kommen. Die recht authentische 70er-Jahre Ausstattung bei Kleidung, Interieur und Autos bebildert passend und Word versäumt es nicht, am Rande auch ein Wenig den liberalen „Zeitgeist“ im gesellschaftlichen Umgang dieser Jahre einzubauen – getragen bis in die Nebenrollen hinein von großartigen Schauspielleistungen. Musik begleitet in erster Linie Szenen ohne Dialog, ist der Dialog, und sie wird passend zurückhaltend eingesetzt. Der Film hat keine musikalischen „Pushs“ nötig. Die Kamera bewegt sich viel auf Augenhöhe, konzentriert sich einerseits häufig mit Nahaufnahmen auf die Gesichter der Figuren, lässt uns teilhaben, ohne die Figuren zu entblößen und zeigt uns andererseits dynamische Bilder voller Bewegung bei den Demonstrationen und Fahrten, zeigt uns das Glück der Bewegung, auch im übertragenen Sinn. Die Kameraführung bleibt wie die Musik puristisch, es gibt keine Überblendungen, Rückblenden, Tempowechsel, Handkamera oder Schnitte mit Erzählfunktion. Der Film nimmt sich Zeit zu erzählen, darauf muss man sich einlassen, er bleibt dabei spannend und nimmt die Zuschauer jederzeit mit. Bildsprache, Inszenierung und Erzählweise korrelieren und so gelingt nicht nur ein sanftes Eintauchen in sondern fast ein Anfühlen von Zeit und Handlung.
Andrés Wood erzählt stimmig eine in sich ruhende Geschichte über die Freiheit und die Kraft der Freundschaft und bietet uns gleichzeitig die Option, diese Geschichte der Freundschaft auch als eine Parabel lesen, ohne uns dazu zu nötigen. Allendes Ansatz zum Versuch der sozialen Gleichheit kann als Beginn eines Aktes der Fairness auf der politischen Ebene gelesen werden, der dann in politischen Prozessen durchgehalten werden muss über Rückschläge hinweg, um Erfolg zu haben.
Auch die Freundschaft dieser beiden zwölfjährigen Jungen beginnt initial mit einen Akt der Fairness: Gonzalo verweigert sich dem Drangsalieren Pedros durch die Mitschüler auf dem Schulhof – und befreit sich dabei auch ein Wenig selbst. Auch er ist ein Bißchen Außenseiter, zwar „inter pares“, aber als eher guter Schüler, der hilft, aber kein „Mitmacher“ ist, widerfährt auch ihm ‚bullying‘.
Ebenso wie das Chile unter der Regierung Allendes den begonnenen gesellschaftlichen Prozess durch den gewaltsamen Putsch nicht zu Ende führen kann, ist der Freundschaft von Gonzalo und Pedro keine Konfliktbewältigung und Vertiefung mehr vergönnt – die einsetzende militärische Gewalt zerstört und beendet das Aufgebaute für die chilenische Gesellschaft und hier auch für die Freundschaft. Gewalt wirft die beiden Freunde in die Schrecken der Angst, der Hilflosigkeit, der Enttäuschung, des verpassten Moments – und die Frage nach der Herkunft steht übermächtig im Raum. Sie macht hier den Unterschied. Gonzalos und Pedros fassungslose und dann erkennende Blicke lassen daran keinen Zweifel.
Auch wenn alle Filmpersonen eine gesellschaftliche Konnotation haben und Wood diese Parabel-Parallelen kunstvoll, leise und unaufdringlich einbindet, es wird ein stimmiger, spannender Film erzählt – die authentische Figurenentwicklung der ProtagonistInnen mit ihren Emotionen, Nöten, Ängsten sorgt überzeugend dafür, dass die Geschichte dieser Freundschaft auch für sich funktioniert und die Figuren nicht zu Statisten – hier arm, da reich – einer politischen Erzählung degradiert. Es ist die Stärke der Erzählung, dass das weitere Schicksal von Gonzalo und Pedro offen bleibt.
„Machuca“ ist unter den ersten Spielfilmen, die Chiles politische Vergangenheit thematisieren und das chilenische Kino nach Jahren der Agonie während der Militärdiktatur und seinem Aufbruch in den 90er Jahren auf die internationale Bühne zurückführen. Die Zeit des Militärputsches in Chile, die Zeit der 70er-Jahre liegt inzwischen 50 Jahre zurück und der Film „Machuca“ entstand bereits vor fast 20 Jahren. Es eine doppelte Zeitreise, die wir aus heutiger Sicht mit „Machuca“ unternehmen, die so eine zusätzliche Wirkung entfalten kann. Diese spannende, wunderschöne Verwebung politischer Ereignisse mit einer autarken und starken Geschichte von Freundschaft und deren Prüfungen bleibt zeitlos, hochaktuell, berührend und sehenswert.
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