“Why are we hiding if we did nothing wrong?” – “Because they think that we did do something wrong.”
Missverständnisse jeglicher Art machen Alejandro Inarritus Film Babel (2006) aus. Politische, persönliche und vor allem kulturelle Missverständnisse verknüpfen die Handlungen der Hauptcharaktere in verschiedensten Ländern miteinander. Ein japanischer Geschäftsmann schenkt seinem marokkanischen Jagdpartner seine Waffe, der das Gewehr wiederum an einen befreundeten Schafhüter verkauft. Dieser drückt das Gewehr seinen Kindern in die Hand, welche die Reichweite testen wollen und auf einen Touristenbus schießen. Getroffen wird dabei eine amerikanische Frau, die zusammen mit ihrem Ehemann in Marokko Urlaub macht. Voller Panik fordert der Ehemann den Tourguide dazu auf, in ein nahegelegenes Dorf zu fahren, um die Schusswunde seiner Frau zu versorgen und die US-amerikanische Botschaft per Telefon um Hilfe zu bitten. Währenddessen sieht die mexikanische Nanny des amerikanischen Ehepaares keine andere Wahl als die beiden kleinen Kinder zu der Hochzeit ihres Sohnes in Mexiko mit zu nehmen. Und abseits der Tragödien, die sich global abspielen, folgt der Film auch der tauben Teenagetochter des japanischen Geschäftsmanns sowie ihren Versuchen, körperliche und emotionale Nähe zu finden.
Missverständnisse und Misskommunikation führen von einem Schicksalsschlag zum nächsten. Umso ironischer ist es auch, dass mir erst nach einer Stunde Schauen auffiel, dass der Film über keinerlei Untertitel in seiner OV-Fassung verfügt. Das Fehlen von Untertiteln zum gesprochenen Marokkanisch, Japanisch und Spanisch störte den Fluss des Schauens jedoch überhaupt nicht. Im Gegenteil: Das Nichtvorhandensein zwang mich, näher auf die Gesichter zu schauen; auf das, was im Frame zu sehen war; mehr auf die Handlungen und Reaktionen der Charaktere als auf den Dialog selbst. Nirgendwo sonst wird die Brillanz des Mantras “show, don’t tell” so deutlich, wie in dem Handlungsstrang von Teenager Chieko. Die taub-stumme Chieko wird aufgrund ihrer Behinderung von Jungs abgewiesen und findet Lebenslust nur in der Gesellschaft ihrer Freunde. In der wohl atemberaubendsten Szene des Filmes folgt Cinematographer Rodrigo Prieto Chieko und ihren Freunden auf einen drogen- und alkoholberauschten Abend durch die japanische Großstadt. Untermalt von sich stets steigender, dröhnender Pop-Musik, endet der Abend durch die von Neonlicht durchflutete Stadt in einer Disco. Bis dato baute sich die Szene zu einem emotional-erfüllenden Höhepunkt hin. Chieko, die erst vor wenigen Stunden ihren Zahnarzt geküsst und von ihm aus der Praxis geworfen, wurde, hatte endlich einen Jungen kennengelernt, der sie scheinbar mochte. Umgeben von dutzenden Menschen, umhüllt von blinkenden Lichtern – die energetische Musik setzt aus, der dem Beat angepasste Rhythmus des Editings stoppt, und wir hören: Gar nichts. Eine zwar heutzutage nicht mehr unbedingt originelle Editing-Technik, löst das plötzliche Aufhören aller Musik und jeden Sounds die emotionale Spannung komplett auf. Anstatt jedoch die Szene zu beenden, entwickelt sie sich nahezu in einen Horrorfilm, in dem der Sound mal an, mal aus ist. Die Masse an tanzenden Menschen kommt Chieko immer näher, ihr Objekt der Begierde fängt an, mit einem anderen Mädchen rumzumachen – und schließlich findet sich Chieko wieder alleine in dem High Rise-Apartment ihres Vaters. Fehlende Kommunikation führt in Chiekos Fall nicht nur zu emotionaler Distanz, sondern auch körperlicher. Es erscheint zwar verstörend, aber in ihrer Entscheidung, einen Detektiv zum Apartment einzuladen und ihn zu verführen, findet Babel sein wohl emotionalstes Herz. Der Moment ist sehr delikat eingefangen: Das Ineinandergleiten der Hände; Chiekos Versuche, seine Finger über ihren nackten Körper gleiten zu lassen; und schließlich die innige Umarmung und das Zusammenbrechen Chiekos, die sich nach Zuneigung und Liebe sehnt.
Babel zeigt, dass sich Menschen trotz fehlender Fähigkeit, miteinander zu sprechen, auf einer tieferen Ebene verstehen. Das muss jedoch nicht immer zwangsläufig so intim und emotional sein wie bei Chieko und dem Detektiv. Die Beziehung zwischen dem amerikanischen Ehepaar Richard und Susan scheint von ihrer ersten gemeinsamen Szene angestrengt zu sein. Das Restaurant, in dem die beiden sitzen, ist offen und überblickt die karge Wüstenlandschaft Marokkos, die eine passende visuelle Darstellung der Ehe der beiden ist. Während Richard mit einem selbstgefälligen Grinsen die angebotene Cola annimmt, desinfiziert sich Susan direkt nach Berührung mit dem marokkanischen Kellner ihre Hände. Nicht gerade subtil, jedoch verkörpert die Geste eine der grundlegenden Thesen des Filmes: Von Kultur kann man sich nicht reinigen. Das soll heißen, die Vorurteile, die wir aus unserer Kultur hinzu einer anderen bringen, verhindern effektive Kommunikation zwischen den beiden Kulturen. Susans Gesicht ist von der Restaurantszene bis hin zu der Szene im Reisebus, wo sie angeschossen wird, anzusehen, dass sie das Schlimmste in diesem ihr fremden Land erwartet. Ihre Vorstellungen von Marokko werden für sie wahr: Sie wird angeschossen. Richard, der laute und grobe Amerikaner, scheitert an anderer Stelle. Es erscheint zunächst nicht möglich, seine angeschossene und ausblutende Frau per Helikopter in ein Krankenhaus zu bringen; ein naheliegendes Dorf erscheint die einzige, vorübergehende Hoffnung. Doch diese Aktion hat weitreichende Folgen. Bei Richards Anruf bei der US-amerikanischen Botschaft in Marokko scheint eine Misskommunikation vorzuliegen. Im Laufe des Films zeigt sich in etlichen Szenen in Fernsehberichten, dass die USA den Schuss auf Susan als Terrorangriff ansieht, und dementsprechend panisch handelt. Ein derbes Missverstehen, das im Tod eines Kindes endet. Denn die marokkanische Polizei ist, auf Druck der US-Amerikanischen Regierung hin, auf der Suche nach den Tätern. Die Täter, in diesem Fall, sind zwei marokkanische Kinder, die zusammen mit ihrer Familie abseits leben. Ihr Vater hatte ihnen das Gewehr zum Beschützen der Schafherde gegeben, doch wie Kinder nun eben sind, probieren die beiden das Gewehr gleich damit aus, auf den ankommenden Bus in der Ferne zu schießen. Die Szenen mit der Polizei filmt Iñárritu mit nahen Steadicam-Aufnahmen, die dem Zuschauer oftmals keinen Raum zum Atmen lassen – eine clevere Entscheidung, die Babel eine gehörige Portion Realismus schenkt. Seinen tragischen Höhepunkt findet der Film in der Konfrontation zwischen der Polizei und den flüchtenden marokkanischen Kindern und deren Vater. Umzingelt von der Polizei vor ihnen und einem steil-ansteigenden Hügel hinter ihnen, verstecken die Kinder und ihr Vater sich hinter Steinen. Der Moment ist panisch: Die beiden Jungs versuchen, sich an die Steine zu schmiegen, während um sie herum Gewehrschüsse den Staub aufwirbeln. Iñárritus Entscheidung, die Szene nicht musikalisch zu untermalen, hebt die Gewehrschüsse und panische Rufe hervor. In ihrer Authentizität, Spannung und Nähe zur Realität sind diese paar Minuten kaum auszuhalten. Es ist nicht überraschend, dass eines der Kinder schlussendlich angeschossen wird, so viel war erwartet. Und während sein Sohn in seinen Armen ausblutet, bittet der Vater seinen anderen Sohn verzweifelt, das Gewehr fallen zu lassen, nachdem er einen Polizisten in die Schulter traf. Die Close-ups auf das dunkle Blut erscheinen an dieser Stelle weniger subtil und schreien nahezu “Seht euch an, wohin Misskommunikation führen kann”. Anstatt jedoch die Szene zu beenden, stellt sie den Wendepunkt in allen Handlungssträngen dar: Richard wird gesagt, dass ein Transport zum Krankenhaus derzeit nicht möglich sei; Chieko versucht, den Detektiv zu verführen und bricht zusammen; und schließlich das Fiasko an der Grenze zwischen den USA und Mexiko.
Abseits dessen, was sich in Marokko abspielt, ist die mexikanische Nanny von Richard und Susan durch Susans Verletzung dazu gezwungen, sich noch länger um die Kinder zu kümmern. Das kommt ihr jedoch ungelegen, da die Hochzeit ihres Sohnes in Mexiko am selben Abend stattfindet. Mit keinem anderen Weg in Aussicht, nimmt sie die beiden Kinder Richards und Susans über die Grenze hinweg mit und verbringt eine traditionell-mexikanische Hochzeit mit ihnen. Es erstaunt, wie sehr sich Mexiko visuell, und auch vom Soundtrack her, von den anderen Handlungssträngen und Ländern absetzt. In Mexiko findet an sich keine Tragödie statt; die Menschen feiern eine wunderbare Hochzeit mit einer Mariachi-Band, Chili con Carne und viel Tanz. Trotz der ärmlichen Umgebung kommt hier Iñárritus Liebe für sein Heimatland zum Vorschein. Dennoch findet auch diese lebensfreudige Sequenz ein Ende. Da die Kinder am nächsten Tag wieder zu Hause in den Staaten sein sollen, fahren ihre Nanny Amelia, die Kinder und Amelias Neffe zurück. An der Border-Control werden sie jedoch angehalten und gebeten auszusteigen, da Amelia keinen Beweis vorlegen kann, die Kinder mit nach Mexiko gebracht zu haben.
Die Border-Control Szene ist tadellos eingefangen – von den beengenden Close-Ups aus dem Auto hinaus, die die Grenzpolizisten größer und bedrohlicher wirken lassen, bis hin zu dem fantastischen Augenkontakt zwischen Amelia und Santiago als ihnen bewusst wird, was diese Situation denn wirklich bedeutet – ein Moment, den man mit einem Blinzeln verpassen würde.
Sei es aus Angst, Panik oder sonstigem, ergreift Santiago die Chance und düst in die Wüste auf der amerikanischen Seite, gefolgt von der Border-Control. Der Schock sitzt tief: Die Kinder begreifen zwar nicht ganz, was hier geschieht, realisieren aber, dass es schlecht ist und fangen an zu weinen. Amelia versucht panisch, ihren Neffen davon zu überzeugen zurückzufahren, doch dieser lässt nicht mit sich reden und hält mitten in der Wüste an, um Amelia und die Kinder aussteigen zu lassen. Schnitt nach Japan und Chiekos Apartment; Einsatz Gustavo Santaolallas unglaublichen Soundtracks. Es ist hier, nahezu 30 Minuten später, dass die Polizistenszene in Marokko ihr emotionales und tragisches Ende findet. In den Armen des Vaters liegt, tot, der Sohn; dessen Bruder wirft das Gewehr weg und ergibt sich. Die Polizisten marschieren langsam näher heran, im Glauben, erwachsene Terroristen vor sich zu haben. Doch dann der Schlag in die Magengrube: Ein Kind, blutig und leblos in den Armen seines Vaters, und sein Bruder auf Knien vor ihnen, flehend um Vergebung. Santaolallas’ Musik klingt hier nicht groß, baut zu keinem Crescendo auf, sondern ist ruhig und traurig in dem Zupfen einer Gitarre. Schnitt zu Mexiko und dem Ort der Hochzeit am frühen Morgen: verlassen, wüst. Ein klasse Editing, das die emotionale Wucht der Szene vor ihr noch einmal deutlich macht.
Es ist hier, dass ein Schlussstrich gezogen werden muss – es ist noch einiges mehr über Babel zu sagen, doch das Wichtigste erscheint mir angesprochen. In Iñárritus Sicht unserer Welt ist eben jene ein brutaler Ort, ein Ort der Ungerechtigkeit und des Missverstehens. Es wäre leicht, hier nach einem Bösewicht zu suchen, der für die Tragödien der Charaktere verantwortlich ist. Doch niemand in dieser Geschichte ist wirklich als der Bösewicht anzusehen. Nicht die Nanny, die die Hochzeit ihres Sohnes besuchen wollte und gezwungenermaßen die Kinder mitnehmen musste; nicht Susan, die sich in einem Unfall aus kindlicher Dummheit wiederfand; auch nicht Richard, der keinerlei Verständnis für das Belangen seiner Nanny zeigte, die Hochzeit ihres Sohnes zu besuchen. Auch die Border-Control kann hier nicht wirklich als Bösewicht interpretiert werden, da sie realistisch handeln und zwei Mexikaner anhalten und befragen, die in der Nacht die Grenze überqueren wollen. Jeder der Charaktere in Babel agierte zu seiner oder ihrer Intentionen und so wie wir sie erwartet hätten zu reagieren. Es ist ein Spiegel der Realität den Iñárritu hier vorzeigt, der Zuschauer, die in Filmen nach Eskapismus suchen, abschrecken wird.
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