“Inspiriert von wahren Ereignissen.”
Den Anspruch an historische Authentizität stellt sich Netflix’s originelle Serie Narcos: Mexico (2018) von den ersten Sekunden an. Dokumentarische Aufnahmen aus den 70er und 80er Jahren von Politikern, Institutionen, Marihuana-Plantagen und Leichen, unterschneiden die Einstiegsszene, die in medias res startet: Was deutlich wird, ist, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen wird. Nicht nur das, die Voice-Over Narration macht deutlich: Diese Geschichte hat überhaupt kein Ende. Schließlich sind wir hier auch im Wilden Westen von Mexiko und nicht den Vereinigten Staaten. Der Krieg um die Drogen beeinflusst in Mexiko alles und jeden.
Über die nächsten drei Folgen hinweg wird dieser Punkt deutlicher. Enttäuscht von dem, was die neu gegründete DEA (die United Drug Enforcement Administration) für ihn zu bieten hat, lässt sich der in Mexiko geborene Kiki Camarena in das Herz des mexikanischen Drogenhandels versetzen: Guadalajara. Camarena? Für Menschen, die sich auch nur annähernd mit den Gründungen der mexikanischen Kartelle auskennen, sollte der Name Camarena nicht unbekannt sein. Schließlich ist dies jener Camarena, der von El Jefe de Jefes umgebracht wurde. Als der Boss der Bosse, oder auch als El Padrino (der Pate), bekannt, schildert Narcos: Mexico auch den Aufstieg von Miguel Angel Félix Gallardo vom Ex-Polizisten, zum genialen Geschäftsmann. Denn bevor Félix Gallardo die verschiedenen plazas (die einzelnen Reviere, auf denen unter verschiedenster Führung Drogen verkauft werden) vereint, muss sich Gallardo mit machthungrigen, arroganten Bossen herumschlagen – während Camarena zunehmend dem Drogenhandel in Mexiko auf die Spuren kommt.
Hier zeigt sich auch der größte stilistische Unterschied zwischen den beiden Handlungssträngen von Camarena und Gallardo. Während Camarena zusammen mit amerikanischen DEA Agenten arbeitet, die dank systematischer Korruption bis in die Spitzen der mexikanischen Politik bereits aufgegeben haben, schmeißen Gallardo und dessen hitzköpfiger Bruder Rafa Feier nach Feier. Als Rafa mit seinem Moped durch die kunstvoll eingerichtete Marmorhalle seiner neuen Villa rast, muss Camarena einen ziemlich langweiligen Barbecue-Abend mit seinen neuen Arbeitskollegen überstehen. Ohne Sorge, ohne Nachdenken – ihnen gehört diese Welt. Die Politiker stecken in ihren Taschen, die Polizei – selbst die DEA Abteilung in Guadalajara trinkt gemütlich Bier mit den mexikanischen Drogenbarons, die ohne zu zucken ihre alten Arbeitspartner in den Kopf schießen, wenn sie neue Möglichkeiten erahnen.
Das Gefühl, dass das Mexiko in den frühen 80er-Jahren ein gesetzloser wilder Western sei, zeigt sich auch in der Kinematographie der Serie. Die meisten Deals werden hier in den hintersten, dreckigsten, sowie auch reichsten Ecken des Landes vollzogen. Auf extravaganten Partys, in verrauchten Hinterzimmern und auf verschwenderisch großen Bällen treffen sich die unantastbaren Anführer der einzelnen plazas. Das Set Design der Serie vollführt hier Wunder: Im Gegensatz zu den weiten, kargen Wüstenlandschaften Mexikos ist das Frame in diesen Partyszenen vollgestopft mit Dekor, Extras und aufwendigen Kostümen, authentisch der Zeit angepasst. Authentizität steht bei Narcos: Mexico ganz groß im Vordergrund. Das beginnt bei den eingeschobenen Dokumentationsszenen, und zieht sich über das gesprochene Spanisch, zu der zeitgenössischen Kleidung und dem Set Design hinweg. Was hier beim Schauen der Serie ebenso direkt auffällt, sind die etwas verschwommenen Ränder des Bildes. Vermutlich in der Post-Produktion eingefügt, um einen authentischen Vintage-Look der 80er nachzuahmen, führt das verschwommene Bild auch dazu, dass der Fokus tatsächlich auf die Charaktere gezogen wird. Eines noch zur allgemeinen Darstellung der mexikanischen Landschaften und Städte: Anders als in vergleichbaren Serien und Filmen, die in Mexiko spielen, sticht in Narcos: Mexico eine gewisse Farbvielfalt heraus. Dieses Mexiko ist nicht von einem orange-braunen Farbfilter überzogen, sondern zeigt auch satte, grüne Pflanzen, von goldenem Licht umhüllte Feiern, sowie zwar braune, aber authentische Wüstenlandschaften. All das führt tatsächlich zu einem immersiven Look des Ganzen.
Doch um die historischen Ereignisse auch narrativ interessant für eine Serie des 21. Jahrhunderts zu machen, spielt Narcos: Mexico die einzelnen Handlungsbögen der Charaktere zu sicher und klischeehaft. Camarena wird hier als typische Heldenfigur dargestellt, mit tragischem Ende. Streng fokussiert auf seinen Job, findet er keine Genugtuung bei seiner Frau – so verpasst er fast die Geburt seines zweiten Sohnes, da die Dramaturgie des Drehbuchschreibens ihm genau dann eine Spur des Drogenhandels zuwirft. Jene Spur fällt auch außerhalb des rechtlich Erlaubten für die DEA Abteilung in Guadalajara. Da das Handeln innerhalb der Gesetze Mexikos nicht zu funktionieren scheint, bleibt den amerikanischen “Cowboys” nichts anderes übrig, als außerhalb des Systems zu arbeiten. Was die Serie bereits in ihren ersten drei Folgen deutlich macht, ist die absolute Korruption des Systems und wie diese jeden Einzelnen beeinflusst. Selbst wenn man nicht direkt mit dem Drogenhandel zu tun hat, entkommt man ihm nicht. Von armen Arbeitern, die gezwungenermaßen auf den, zwischen Hügeln versteckten, Marihuana-Feldern arbeiten, bis hin zu den Studenten der Universität Guadalajaras, deren Seminare von den Handlangern der Drogenbarons unterbrochen werden.
Ähnliche sich wechselnde Verstrickungen zeigt auch der oftmals plötzliche Wechsel des Genres. Während die Handlungsstränge rund um Gallardo und seinen Bruder Rafa häufig einem Gangster-Drama ähneln, ist die Narrative um Camarena herum weitaus heimischer. Gallardos Plot involviert meistens das bereits angedeutete Verhandeln in Hinterzimmern: Das Organisieren und Strukturieren von Handelsrouten sowie der nötige – und oftmals tödliche – Umgang mit zu eifrigen Handelspartnern. Sobald Gallardo die anderen wichtigen Narcos (sprich: Drogenhändler) überredet hat, seinem Netzwerk an Drogenhandel beizutreten, beginnt Narcos: Mexico immer mehr und mehr einem amerikanischen Mafia-Film wie Scarface zu ähneln. Von den hübschen Frauen, die dem “male gaze” des Zuschauers auf einer Metaebene und den Männern der Serie auf einem Level in der Serie zur Schau gestellt werden als Tänzerinnen, Prostituierte und unterstützende Ehefrauen, bis hin zu offensichtlichen Vermerken, wie dem Zeigen des tatsächlichen Filmes in einer Szene, um Rafas Charakterentwicklung, die Identifikation mit dem idealisierten Bild von amerikanischen Film-Gangstern, zu untermalen. Kontrastiert wird jene Darstellung der mexikanischen Narcos mit der von Camarena und der DEA. Deren Plots spielen sich zumeist ähnlich ab wie die einer typischen Cop-Serie. Oftmals eingerahmt in engem Frame, bedrängen nicht nur die vollgestopften Büros, Krankenhauszimmer und Autos Camarena und seine Kollegen ein, sondern auch wortwörtlich die Kamera. Während den Narcos die gesamte Schönheit Mexikos offen ist, bleibt den DEA-Agenten nichts anderes übrig, als Außenseiter an ihre engen Büros gebunden zu sein.
In keiner der ersten drei Folgen wird die Kontrastierung der verschiedenen Genres der beiden Haupthandlungsstränge so deutlich, wie in der dritten. Auf dem High seines erfolgreichen Verhandelns mit den restlichen plaza-Bossen, schmeißt Gallardo die bereits beschriebene extravagante Hochzeitsfeier für den Sohn des Gouverneur von Sinaloas – Gallardos Heimat – während Camarena undercover geht und sich ohne das offizielle Go seines Bosses als Arbeiter auf die Plantage Gallardos begibt. Intensiv wird die Szene, sobald Gallardos Partner auf der Plantage auftaucht, den Camarena bereits in der ersten Folge kennengelernt hat. Wo die Serie bisher immer Nutzen einer Steadicam gemacht hat und einen cineastischen Eindruck hinterließ, ist die Szene, in der sich Camarena panisch durch die Massen bewegt, um den Augen von Gallardos’ Partner zu entkommen, von einem konstanten Wackeln untermauert. Es ist das erste und einzige Mal in der Serie bisher, dass sie tatsächliche Spannung aufbaut, die von dem cleveren Blocking der einzelnen Darsteller und Extras bis hin zum Konstruieren der Szene als langen Tracking Shots funktioniert.
Am Ende bleibt Hoffnung, dass der erste Akt der Serie nun vorbei ist und die wirkliche Show beginnen kann. Die Lebenszeichen, die die dritte Folge von sich gibt, lässt auf Gutes hoffen – schließlich sind jetzt auch alle Schachfiguren korrekt aufgestellt, und der Konflikt zwischen der DEA und den Narcos kann endlich Fahrt aufnehmen. Während den gesetzlosen Narcos die Wege offen stehen, spiegeln die Lebenszeichen der Serie auch die ersten Hoffnungen der DEA-Agenten wider. Dabei stellt sich jedoch die Frage, inwiefern diese von “realen Ereignissen inspirierte” Serie einen Spannungsbogen aufrecht erhalten kann, wenn die geschichtlichen Fakten das Schicksal nicht nur der involvierten Charaktere, sondern auch der Narcos und Kartelle Mexikos vorraussagen. Nichtsdestotrotz scheint die Serie Reales und Fiktives bisher sehr gut zu mischen, um eine zum teils unterhaltsame, zum teils sich ziehende Geschichte zu erzählen. Auch wenn die Hinterraumdeals spannend auf Papier sind, sticht die Handlung um Gallardo bisher einfach nicht deutlich hervor: Es unterstreicht vielmehr das Bild des korrupten Mexikos indem die Narcos ihren persönlichen Mafiafilm erleben. Die Charaktere sind bisher zu grob gezeichnet und die Regie in den meisten Szenen zu starr. Im Großen und Ganzen erscheint es der Serie bisher schwer, die realen Ereignisse und Charaktere in einem besonderem Licht aufzuzeigen und greift auf stereotypische Darstellungen aus amerikanischen Cop- und Mafiafilmen zurück.
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