Wer von der deutschen Hauptstadt Berlin aus, eine Reise in die inoffizielle „Hauptstadt“ der EU, Brüssel, unternimmt, legt dabei eine Strecke von ca. 650 km Richtung Westen Luftlinie zurück. Damit liegt die größte Stadt Deutschlands näher an Russland als an der – politisch betrachtet – wichtigsten Stadt der EU. Jetzt könnte man denken, dass ich geographisch nicht auf dem neuesten Stand bin und noch Karten zu Zeiten der Sowjetunion verwende, doch tatsächlich trifft dies auch in der heutigen Zeit zu.

Denn umgeben von Polen und Litauen befindet sich die 15.125 km2 große russische Exklave Kaliningrad. Diese ist der am weitesten im Westen gelegene Teil des russischen Staatsgebietes und liegt inmitten von EU- bzw. NATO-Staaten. Kaliningrad bezeichnet dabei sowohl das gesamte Gebiet der russischen Exklave als auch ihre Hauptstadt mit rund 500.000 Einwohnern. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der daraus resultierenden Neueinschätzung der russischen Bedrohungslage für die Sicherheit Europas, kommt Kaliningrad eine besondere Bedeutung zu.

Inwiefern Russland die Exklave zur militärischen Abschreckung nutzt und wie NATO mit diesem geographischen Sonderfall umgeht, soll im Folgenden betrachtet werden.

Von einer Provinz Preußens zur Exklave Russlands

Zu Beginn jedoch erst einmal ein kurzer Exkurs in die Geschichte Kaliningrads: Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 war die Stadt Kaliningrad unter dem deutschen Namen Königsberg, knapp 700 Jahre lang unter deutscher Herrschaft und sogar Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Besondere Bedeutung erlangte Königsberg in dieser Zeit als Residenzstadt der Herzöge und später auch Könige von Preußen. Dazu entwickelte sich während der Aufklärung ein renommiertes geistiges und kulturelles Zentrum, allen voran rund um die Universität Albertina.

Im April 1945 eroberte die Rote Armee im Zuge der Schlacht von Königsberg, die zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend zerstörte Stadt. Die Sowjetunion, angeführt von Josef Stalin, begründete die Annexion mit dem Fehlen eines eisfreien Hafens an der Ostsee und einem historischen Anspruch auf das Gebiet. Am 4. Juli 1946 wurde Königsberg in Kaliningrad umbenannt, nach dem sowjetischen Politiker Michail Kalinin. Die ursprünglich deutsche Bevölkerung wurde in den Jahren nach dem Krieg vertrieben und das Gebiet mit Menschen aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion neu besiedelt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und der Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde Kaliningrad zu einer russischen Exklave. Insbesondere aufgrund der strategischen Bedeutung Kaliningrads als Handelsstandort mit einem eisfreien Hafen an der Ostsee, war der fortlaufende Besitz der Stadt ein wichtiges Anliegen Russlands.

NATO-Osterweiterung macht Kaliningrad für Russland auch militärisch bedeutsam

Als Folge der NATO-Beitritte zahlreicher osteuropäischer Staaten – einschließlich der baltischen Staaten als ehemaliger Teil der Sowjetunion –  Ende der 1990er- bzw. Anfang der 2000er-Jahre, erhöhte Russland seine militärische Präsenz in Kaliningrad. So wurden im Laufe der Jahre moderne Waffensysteme wie die Iskander-Raketen (teils atomwaffenfähig), S-400 Luftabwehrsysteme und hyperschallfähige Flugzeuge stationiert. Allen voran mit der Anbringung der Iskander-Raketen möchte Russland ein verängstigendes Signal an (West-)Europa senden, da diese Raketen eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern besitzen. Im Mai 2022 simulierten russische Streitkräfte mit eben jenen Systemen einen Atomangriff.

Kaliningrad als Werkzeug der hybriden Kriegsführung Russlands

Neben der militärischen Abschreckung nutzt das russische Regime die Exklave als Mittel einer hybriden Kriegsführung gegen die NATO. Immer wieder sind die an Kaliningrad angrenzenden Staaten von russischer Spionage und von Störungen elektronischer Geräte betroffen. Beispielsweise lässt Russland von Kaliningrad aus die GPS-Signale in der Ostsee manipulieren, sodass Schiffe und Flugzeuge fehlgeleitete oder verfälschte Navigationsdaten erhalten. Dazu werden viele der russischen Desinformationskampagnen gegen Politiker aus EU-Staaten, die in den sozialen Medien verbreitet werden, von Kaliningrad aus gelenkt.

Ob und in welchem Umfang Kaliningrad für die jüngsten Drohnenangriffe auf kritische Infrastrukturen in vielen Ländern Europas mitverantwortlich ist, kann Stand heute noch nicht abschließend beurteilt werden.

Suwalki-Lücke als Herausforderung für die NATO

Die größte Gefährdung für die NATO stellt die Suwalki-Lücke dar. Diese ist ein etwa 65 Kilometer langer Landkorridor und führt entlang der polnisch-litauischen Grenze entlang von Kaliningrad im Norden bis nach Belarus im Süden. Vor allem für die baltischen Staaten stellt sich diese geographische Besonderheit als besonders prekär heraus, da die polnisch-litauische Grenze ihre einzige direkte Landverbindung zum restlichen NATO-Gebiet darstellt.. Sollte Russland also ein militärisches Manöver entlang der Suwalki-Lücke starten, wären die baltischen Staaten vom restlichen NATO-Gebiet de facto isoliert. Viele Experte sehen in dieser Lücke daher eine oder sogar die Schwachstelle der NATO und den gefährlichsten Ort Europas.

Die NATO ist sich der potenziellen Gefahr durchaus bewusst und stationierte bereits nach Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim im Jahr 2014 mehrere multinationale NATO-Battlegroups, darunter auch ständig präsente deutsche Brigaden. Seit 2022 nahm die NATO-Präsenz im Süden Litauens nochmals deutlich zu und stockte die Brigaden von 1600 auf ca. 5000 Soldaten auf.

Anfang 2024 stellten die baltischen Staaten mit der sogenannten „Baltic Defense Line“ ein neues Abwehrbollwerk vor, welches die NATO-Ostflanke vor der russischen Gefährdung schützen soll. Insbesondere wird die Anzahl an Bunkern und Schutzräumen massiv ausgeweitet, sodass den Plänen nach Platz für etwa ein Drittel der baltischen Bevölkerung entstehen soll. Jedoch wurde zuletzt von explodierenden Kosten für den Aufbau der Verteidigungslinie berichtet, trotz einer Vereinbarung der drei Staaten, jährlich jeweils 60 Millionen Euro zu investieren, was zukünftige Entwicklungen erschweren könnte.

Ab 2027 plant auch die deutsche Bundeswehr mit einer volleinsatzfähigen und dauerhaften Brigade in Litauen mit bis zu 5000 Soldaten.