Die europäische Union erweiterte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte von anfangs sechs Gründungsstaaten auf aktuell 27 Mitgliedsstaaten. Noch vor den Osterweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 traten sämtliche west- und nordeuropäische Staaten wie Portugal, Spanien, Schweden und Finnland der EU bei, wodurch der europäische Integrationsprozess beschleunigt wurde. Abgesehen von Großbritannien, das bekanntlich infolge des Brexits kein Teil der EU mehr ist, der Schweiz, deren politische Neutralität seit Jahrzehnten anhält, und einigen Zwergstaaten wie Liechtenstein, Monaco und San Marino, könnte man nun denken, dass ansonsten alle (nord-)westlichen Staaten Europas in der EU vertreten sind.
Doch ein Blick auf die Liste der EU-Mitgliedsstaaten zeigt, dass ein Land fehlt, nämlich: Norwegen. Der skandinavische Staat ist umgeben von EU-Mitgliedern als Nachbarländern und ist selbst Teil vom Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) sowie vom Schengen-Raums, jedoch bis heute kein EU-Mitglied. Deshalb lohnet es sich mit den Gründen für den Nicht-Beitritt Norwegens in die EU zu befassen:
Zweimalige Ablehnung eines EU-Beitritts durch die norwegische Bevölkerung

Es ist im Falle Norwegens wichtig zu betonen, dass der EU-Beitritt tatsächlich Teil von politischen Debatten war und bis heute ist und nicht von vorhinein ausgeschlossen wird. So fand im Jahr 1972 erstmals ein Bürgervotum hinsichtlich eines möglichen Beitritts Norwegens in die EU statt. Das Votum spaltete die norwegische Gesellschaft in zwei Lager: Auf der einen Seite führten sich die Befürworter eines EU-Beitritts, wozu die in Norwegen sehr mächtigen Gewerkschaften zählten, die Kampagne Ja til EF (Ja zur EU), während die EU-Gegner sich in Volksbewegungen gegen eine norwegische EU-Mitgliedschaft einsetzten.

Schließlich lehnte eine Mehrheit von 53,5 % den Beitritt Norwegens zur EU ab.

Die veränderte Weltlage Anfang der 1990er-Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion führte dazu, dass in bis dato neutrale Staaten wie die skandinavischen Staaten, über einen Beitritt in westlichen Institutionen wie der EU neu diskutiert wurde. Nach erfolgreichem Abschluss der Beitrittsverhandlungen wurde im November 1994 sowohl in Norwegen als auch in Schweden und Finnland ein erneutes Bürgervotum zum Beitritt in die EU abgehalten. Hierbei stimmte die Mehrheit der Schweden und Finnen für einen EU-Beitritt ihres Landes, während eine knappe Mehrheit von 52,2 % der Norweger den EU-Beitritt erneut ablehnte. Dies war besonders für die Regierungsparteien, die Sozialdemokraten und Christdemokraten in Norwegen enttäuschend, da beide Parteien sich klar für einen EU-Beitritt aussprachen.

Ein weiteres Bürgerreferendum steht seitdem nicht mehr auf der politischen Agenda, jedoch besteht in Norwegen eine weitgehende Einigkeit darüber, dass das Land mit der EU kooperieren sollte, was mit der Aufnahme in den Schengen-Raum auch erfolgreich umgesetzt wurde.

Keine wirtschaftliche Notwendigkeit für einen EU-Beitritt

Der Hauptgrund für die Skepsis der Norweger hinsichtlich eines möglichen Beitritts in die EU hat wirtschaftliche Gründe. Die beiden größten Wirtschaftszweige Norwegens liegen in den Bereichen Erdöl und Fischerei.

Als Küstenland verfügt Norwegen über große Vorkommen an Rohstoffen vor allem beim Öl und Gas. Dieser Reichtum beschert dem Land Jahr für Jahr Einnahmen in Milliardenhöhe, wodurch die norwegische Wirtschaft zu den stärksten in Europa gehört.  Seit dem Wegfall der russischen Öl- und Gaslieferungen 2022, ist Norwegen der größte Energieexporteur für die EU und profitiert selbst von der wirtschaftlichen Verflechtung mit der EU.

Auch in der Fischerei will Norwegen die Selbstbestimmung nicht aufgeben und geht in Bereich mitunter auf Konfrontationskurs mit der EU. So sorgen Fangquoten für bestimmte Fischarten des Öfteren für Spannungen zwischen Norwegen und der EU. Gegner eines EU-Beitritts Norwegens führen immer wieder an, dass die heimische Fischerei und die norwegische Wirtschaft bei einem EU-Beitritt geschwächt werden würde, da Norwegen, bedingt durch die wirtschaftliche Stärke, in der EU den Status eines Nettozahlers hätte, was bedeutet, dass Norwegen mehr in die gemeinsamen EU-Finanztöpfe einzahlen müsste als es ausgezahlt bekäme.

Weitreichende Kooperation mit der EU als Kompromisslösung

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der die Zurückhaltung der norwegischen Bevölkerung gegenüber einen möglichen EU-Beitritt erklärt, liegt in der bestehenden Kooperation zwischen Norwegen und EU. Durch die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) haben Norweger*innen freien Zugang zum EU-Binnenmarkt und genießen die gleichen Arbeiterrechte, wie EU-Bürger*innen. Die Aufnahme Norwegens in den Schengen-Raum garantiert den Norweger*innen zudem das freie Reisen durch Europa, ohne Passkontrollen.

Insgesamt gelten rund 90% der EU-Gesetzte auch in Norwegen und auch die politische Agenda Norwegen ist in vielen entscheidenden Politikbereichen wie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas sowie in der Unterstützung der Ukraine, identisch zu den Positionen der EU, weshalb die norwegische Wissenschaftlerin Pernille Rieker den Status ihres Landes als „komfortable B-Mitgliedschaft“ beschreibt.

Das derzeitige Verhältnis zwischen Norwegen und der EU wird sowohl von EU-Befürwortern als auch von EU-Skeptikern unterstützt, weshalb es eine Art Kompromisslösung gilt, die von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung getragen wird. Viele führende norwegische Politiker*innen sind daher der Auffassung, dass eine erneute Debatte über den Beitritt Norwegens in die EU, zu tiefen Spaltungen innerhalb der norwegischen Gesellschaft führen würde.

Kaum Chancen für ein erneutes Referendum

Aufgrund der hohen Zufriedenheit mit dem aktuellen Status Quo ist ein erneuter Bürgerentscheid über die EU-Mitgliedschaft in naher Zukunft sehr unwahrscheinlich. Zumal die Aussichten auf ein erfolgreiches EU-Referendum ziemlich gering sind, denn laut Umfragen aus dem vergangenen Jahr, befürworten nur 35% der Norweger*innen den EU-Beitritt ihres Landes. Zwar äußern sich einige Politiker*innen wie die Vorsitzende der konservativen Partei Norwegens, Erna Solberg, offen gegenüber einem erneuten Bürgerreferendum, wenngleich sie im Hinblick auf die momentanen Erfolgsaussichten davor warnt, dass eine erneute Ablehnung die Debatte jahrzehntelang beenden würde. Zudem wird befürchtet, dass durch eine mögliche dritte Ablehnung seitens der Bevölkerung, das kooperative Verhältnis zur EU komplett in Frage gestellt werden würde.

Somit bleibt ein EU-Beitritt Norwegens auch in näherer Zukunft nicht realistisch.